Immer ganz hinten

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Hagen

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Immer ganz hinten​



Als wir, meine liebe, wunderbare Ulrike und ich, während eines Raddampferausflugs, die bekannte Esoterikerin Sieglinde Irmingard von Ebenholz kennenlernten, war die Freude groß, denn die beiden hatten gemeinsam die Schulbank gedrückt. Nach der Abschlussfeier hatten sich die Mädels aus den Augen verloren und absolut konträre Karieren gemacht. Sieglinde Irmingard von Ebenholz hat es auf der Esoterik-Szene zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, indem sie ihre Fähigkeit, jeden in jedes beliebige Vorleben versetzen zu können, kontinuierlich weiterentwickelt und vermarktet hatte.

Die liebe Ulrike steht einer derartigen Befähigung stets mit Skepsis gegenüber; - und während der Wiedersehensfeier ganz besonders, da Sieglinde Irmingard von Ebenholz behauptete, dass Ulrike mal ein Leben als Malinche, der Geliebten und Dolmetscherin von Hernando Cortez, absolviert hatte, und dann war da noch die Geschichte von Lilith, Adams erster Frau…

An dieser Stelle wurde ich ein wenig nachdenklich, zumal sich die liebe Ulrike denkbar unbeeindruckt zeigte und wissen wollte, was ich nach Sieglindes Meinung denn so weltbewegendes während meiner zahlreichen Vorleben vollbracht hatte. Das war durchaus in meinem Sinne, und ich bat Sieglinde Irmingard von Ebenholz doch mal bei meinem letzten Leben anzufangen.

„Du warst Flieger“, sagte die Esoterikerin, „nichts tolles.“

Das sah ich anders, zumal mir die Namen Charles Lindbergh und Manfred Albrecht Freiherr von Richthofen durch den Kopf schossen.

„Du warst Heckschütze eines amerikanischen B-17 Bombers“, unterbrach Sieglinde Irmingard von Ebenholz meine Träume, „der Mann ganz hinten im Letzten Flugzeug der letzten Combat-Box.“

„Und?“, fragte ich voller Hoffnung.

„Beim ersten Einsatz abgeschossen! Du hast die angreifende Messerschmitt nicht getroffen, obwohl sie so dicht dran war, dass sie beinahe das Seitenleitwerk deines Flugzeugs gestreift hätte! – Aber Moment mal, du warst ja nochmal Heckschütze!“

„Wie kann das denn angehen?“, fragte ich, „da muss es mich doch zweimal gegeben haben.“

Sieglinde Irmingard von Ebenholz konzentrierte sich.

„Nein“, fuhr sie fort, „diesmal nicht in einem Flugzeug, sondern auf einem Bierwagen während der Prohibition drüben in den Staaten. – Der letzte Bierwagen ganz hinten. – Hat auch nicht so recht geklappt, du hast dir selber ins Knie geschossen und bist daran gestorben.“

Ich war ein ganz klein wenig enttäuscht, doch ich schöpfte sofort wieder neue Hoffnung, als Sieglinde Irmingard von Ebenholz erwähnte, dass ich mal zu der Besatzung von Christoph Kolumbus gehört hatte.

Ich sah mich an der Seite des großen Entdeckers Amerika betreten, nachdem ich ihm als Berater den Weg dorthin gewiesen hatte, doch dieser Traum stürzte jäh ab, als Sieglinde Irmingard von Ebenholz mir detailiert erzählte, wie ich noch im Hafen, als man gerade die Leinen löste, seekrank wurde, ins Wasser fiel und ertrank.

Na gut, dann war dieses Leben also auch nichts, aber Sieglinde Irmingard von Ebenholz erwähnte, dass die Seefahrt schon immer eine gewisse Faszination auf mich ausgeübt hatte. So war ich mal als Junge von zuhause weggelaufen und zur See gegangen.

Na also! Da war sie doch, die klassische Geschichte des Knaben, der als Schiffsjunge anfängt und später als Kapitän in schmucker Uniform heimkehrt um seinem armen Mütterlein das Geld für die längst fällige Hüftgelenksoperation zu bringen.

„Du hast als Kohlenschlepp auf einem berühmten Dampfer angeheuert“, sagte Sieglinde Irmingard von Ebenholz ungerührt.

Obwohl der Kohlenschlepp auf jedem Schiff in der Rangordnung ganz hinten operierte, hielt ich an meinem Traum fest.

„Wie hieß das Schiff?“, fragte ich voller Hoffnung.

„Titanic!“, sagte Sieglinde Irmingard von Ebenholz ungerührt, zuckte die Achseln und warf einen nachdenklichen Blick zu der lieben Ulrike, „aber ich sehe jetzt noch etwas: Ich sehe den Sherwood Forest!“

Das weckte natürlich sofort wieder eine Assoziation: Schulter an Schulter mit Robin Hood, gewandet mit einer grünen Strumpfhose sowie der obligaten Feder am Hut, betätigte ich mich als Freiheitskämpfer und beging Taten, die später dem guten Robin alleine zugeschrieben wurden, weil ich mich in der mir angeborenen Bescheidenheit wie immer ganz hinten aufgehalten hatte, wenn es um Öffentlichkeit ging.

„In der Gaststätte Red Lion hast du Frau des Wirtes belästigt und auch noch die Zeche geprellt. Dann kam der Wirt.“

Ich stellte mir eins der üblichen Missverständnisse vor, in denen der Gute die schöne Frau vor einem Schurken beschützt, dabei ungewollt in eine verfängliche Situation gerät und aus dieser heraus die Ehre der schönen Frau uneigennützig verteidigt. Ich stellte mir einen der schönen Zweikämpfe vor, mit Mantel und Degen, über Tische und Stühle, wie man sie aus den schönen Filmen mit Kirk Douglas kennt, und an deren Schluss der Gute siegt, das Missverständnis aufklärt und dem Verlierer großzügig das Leben schenkt, während die schöne Frau schmachtend an seine Seite sinkt.

„Nichts dergleichen“, sagte Sieglinde Irmingard von Ebenholz als hätte sie meine Gedanken erraten, „du hast hemmungslos an der Frau des Wirtes herumgebaggert. Als der Wirt kam bist du gleich weggelaufen, im Wald über eine Wurzel gestolpert, in einen Graben gefallen und schon wieder ertrunken.“

„Das war also auch keine Glanzleistung“, murmelte ich betrübt.

„Zumal in dem Graben nur fünfzehn Inches Wasser war“, setzte Sieglinde Irmingard von Ebenholz boshafterweise noch einen drauf, „aber Moment mal, das das war im Red Lion, da war doch nochmal sone ähnliche Geschichte … hat auch mit Löwen zu tun …“ Sieglinde Irmingard von Ebenholz konzentrierte sich gut sichtbar.

„Löwen“, murmelte ich, „war ich vielleicht mal ein berühmter Großwildjäger?“

„Nein, nein, das wollte ich dir eigentlich ersparen. Du hast dich mal als Wilderer versucht und bist gleich beim ersten Mal in deine eigene Falle gegangen … - … aber das war’s nicht!“

Sieglinde Irmingard von Ebenholz machte eine schöpferische Pause, „Moment mal, jetzt hab‘ ich’s! Ich sehe ganz klar das Amphitheater im antiken Rom … du und ein Löwe …“

„Ein Märtyrertod!“, sagte ich mit hoffnungsvoller Stimme, „ich war sicher ein überzeugter Christ, der in dieser Arena vor hunderten von Zuschauern verzweifelt für seinen Glauben gekämpft hat. – Oder? – da gibt es doch diese schöne Geschichte von Daniel in der Löwengrube …“

„Nix Daniel, nix Zuschauer“, sagte Sieglinde Irmingard von Ebenholz mitleidig, „du warst zwar mal Christ, aber du hast deinem Glauben sofort abgeschworen, als man dich gefangen hatte. Du hast daraufhin einen Job bei den Löwen in der Arena bekommen. Du musstest den Löwenkot beseitigen. Als du das gerade mal gemacht hast; – die Arena sollte ja schön sauber sein, wenn die standhaften Christen rein gejagt wurden, um zur Belustigung der Zuschauer gegen die Löwen um ihr Leben zu kämpfen – hat jemand aus Versehen einen Löwen vorzeitig losgelassen ...“

„Oh“, sagte ich enttäuscht.

„Tja, niemand hat etwas gemerkt. Die haben sich nur gewundert, weil sich einer der Löwen in der Arena übergeben hat … aber jetzt sehe ich noch etwas, da wir gerade bei den Römern sind … du hast gegen Spartakus gekämpft.“

Ich konnte mir zwar gut vorstellen, Spartakus selbst gewesen zu sein; - aber als Zenturio die Legionen anführen? – Auch nicht schlecht.

„Kennst du den berühmten Spartacus-Film von 1960 mit Kirk Douglas in der Hauptrolle?“, fragte Sieglinde Irmingard von Ebenholz.

„Selbstverständlich! Ich kenne alle bedeutenden Filme von Haie der Großstadt bis die Drei von der Tankstelle.“

„Naja“, Sieglinde Irmingard von Ebenholz machte eine Pause, „kannst du dich an die beeindruckende Szene gegen Schluss erinnern, in der die Legionen über den Hügel marschiert kommen?“

„Natürlich“, nickte ich und nahm meine Erwartungen insofern zurück, dass ich mir vorstellte, Befehlshaber nur einer Legion gewesen zu sein.

„Tja“, fuhr Sieglinde Irmingard von Ebenholz fort, „du warst der letzte Legionär des letzten Manipels, links, ganz hinten. – Du bist erst eingetroffen, als alles schon vorbei war, bist über einen toten Römer gestolpert und hast dir im weichen Sand den Hals gebrochen.“

„Bis jetzt war ich immer ganz hinten“, stellte ich bekümmert fest, „bin ich eigentlich auch mal ganz vorne gewesen, sozusagen der erste?“

Sieglinde Irmingard von Ebenholz konzentrierte sich.

„Ja“, sagte sie schließlich, „du warst auch mal der erste! – Sagt dir Napoleon was?“

„Ja, natürlich! Wer kennt ihn nicht?“

Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen; - Napoleon soll ja auch nicht sonderlich groß gewesen sein – rein körperlich gesehen – genau wie ich; - und nicht nur die leidenschaftliche Josephine soll unsterblich in diesen Mann verliebt gewesen sein …

„Also, du weißt sicher, dass Napoleon einen Feldzug gegen Moskau unternommen hat; - du warst einer seiner Söldner, damals …“

„Wie? Ich war nicht Napoleon?“

„Wie kommst du denn darauf? – Nein, nein, kurz nach dem Abmarsch nach Moskau, noch in Frankreich …“

„Nun sag‘ nicht, dass ich noch in Frankreich erfroren bin …“

„Nein, nein, erfroren nicht; - aber du warst der erste, der desertiert ist! – Du weißt, was man mit Deserteuren macht?“

„Leider ja“, nickte ich etwas deprimiert, „bin ich eigentlich auch mal anders gestorben, irgendwie aufregender, bedeutender, heldenhafter?“

„Natürlich“, versuchte Sieglinde Irmingard von Ebenholz mich etwas aufzumuntern, „verbrannt in der Zeit der Inquisition.“

Ich schöpfte neue Hoffnung. Man muss ja nicht immer als Mann inkarnieren. Es gab ja auch bedeutende Frauen, die verbrannt wurden, Johanna von Orleans zum Beispiel.

„Du bist mit besoffenem Kopp in einen brennenden Scheiterhaufen gefallen“, sagte Sieglinde Irmingard von Ebenholz mit boshaft zuckenden Mundwinkeln, „aber Moment Mal – jetzt sehe ich noch was – hat mit Jesus von Nazareth zu tun …“

Ich hoffte inständig, nicht der Typ gewesen zu sein, der die Silberlinge in Empfang genommen hatte; - aber wenigstens ein Jünger von ihm gewesen zu sein, kam meinen Vorstellungen eines Traumjobs schon sehr nahe – wenn nicht gar – ich wagte nicht weiter zu denken – obschon Jesus sein Leben lang das getan hatte, wozu ich nur hin und wieder am Wochenende komme: Mit seinen Kumpels rumziehen und starke Sprüche machen.

Sieglinde Irmingard von Ebenholz jedoch fuhr gnadenlos fort:

„Ich weiß nicht, ob die Bibel erwähnt, dass das Kreuz für Jesus beim ersten Versuch es aufzurichten umkippte und dabei einen Römer erschlug …“

„Sprich’s nicht aus! – Bin ich eigentlich auch mal eine Frau gewesen?“, fragte ich die Esoterikerin, denn allmählich sah ich ein, dass die Kerle in meiner Inkarnationsreihe immer irgendwie versagt hatten.

„Wie ich das so sehe, einmal“, Sieglinde Irmingard von Ebenholz gab sich sichtlich Mühe, etwas Positives zu finden, „du warst ein Inka-Mädchen. Von Geburt an warst du zu etwas Besonderem ausersehen.“

„Wahrscheinlich war ich eine berühmte Hohepriesterin und stand den Göttern sehr nahe, vielleicht war ich ja die Mondgöttin Chia, was meine zeitweilige Mondsüchtigkeit erklären würde“, sprach ich, „das hebt die Niederlagen von vorher wieder auf.“

Doch Sieglinde Irmingard von Ebenholz schüttelte den Kopf:

„Man hat dich, kaum dass du eine Frau geworden warst, irgendeinem Priester gegeben, damit er ein bisschen opfern üben kann, denn man wollte dich irgendwelchen Göttern nicht antun, weil du zu fett warst …“

Ich schluckte schwer.

„Aber wenigstens eine Berühmtheit muss es doch in meiner Inkarnationsrehe geben.“

„Hm“, murmelte Sieglinde Irmingard von Ebenholz und ich konnte ihr ansehen, wie sie angestrengt suchte, „oh, du stehst ja sogar im Kulturlexikon von Seckenhausen!“

„Wie schön“, rief ich freudig erregt aus, „was steht denn da?“

Ich sah mich als Künstler, Schauspieler oder Schriftsteller; - wenigsten von lokaler Berühmtheit.

„Hast du schon mal was von der berühmten Moorleiche zu Seckenhausen gehört?“ fragte Sieglinde Irmingard von Ebenholz.

Die beiden Mädels waren doch etwas erstaunt, als ich etwas abrupt aufstand und eine Scotch-Meditation in der Hotelbar zu absolvieren gedachte. Aber die liebe Ulrike tröstete mich dahingehend, dass sie mir versicherte, dass eine gewisse Größe darin liegt, zuzugeben, auf eine Inkarnationsreihe von Versagern zurückzublicken.
 

anbas

Mitglied
Hallo Hagen,

ein schöner Text - allerdings nur sehr knapp an der Langatmigkeit vorbei. Aus meiner Sicht könnten es trotzdem gerne ein paar Leben weniger sein.

Liebe Grüße

Andreas
 

Hagen

Mitglied
Hallo Andreas,

vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem Text.
Ich habe schon auf einige Leben verzichtet, um das Ding nicht allzu langatmig werden zu lassen; - u.A. das Leben, in dem ich das Schwert Caliburn aus dem Stein zog ...
Nun ja, eines von vielen Leben, für die ich nichts kann ...

Wir lesen uns!
Herzlichst
Yours Hagen


In der Ironie vernichtet der Mensch das, was er setzt, in ein und demselben Akt; - er veranlasst zu glauben, damit man ihm nicht glaubt; - er bestätigt, um zu leugnen, und er leugnet, um zu bestätigen; - er schafft einen positiven Gegenstand, der aber kein anderes Sein hat, als sein Nichts.“
Jean-Paul Sartre
 



 
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