Imperia

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Michele.S

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Endlich war es 17:30 Uhr und Lorenzos Arbeitswoche war zu Ende. Er hatte es den ganzen Tag über mit teils mürrischen, teils offen unverschämten Kunden zu tun gehabt. Er arbeitet an der Mautstelle zur Autobahnausfahrt Imperia/San Lorenzo al Mare. Den ganzen Tag über hatten graue Wolken diesen Novembertag überschattet, die teils in Nieselregen übergegangen waren. Als er jetzt in seinen Fiat stieg, begann es endgültig wie aus Kübeln zu schütten. Sein Heimweg belief sich zum Glück auf nur etwa 10 Minuten. Lorenzo wohnte in Imperia, einer mittelgroßen Stadt am Fuße der Berge in der norditalienischen Region Ligurien. Als er an einer Ampel hielt, wollte eine Zweiergruppe afrikanischer Flüchtlinge trotz des Regens sein Auto schrubben. Lorenzo trat ungeduldig aufs Gas und durchnässte die beiden Autowäscher mit einem Wasserschwall. Zuhause angekommen stellte er sein Auto in der Tiefgarage ab und lief Richtung Fahrstuhl, nur um festzustellen, dass dieser immer noch nicht funktionierte. Er musste also die acht Etagen zu Fuß begehen und kam ganz außer Atem vor seiner Wohnungstüre an.

Paolo öffnete ihm und sofort verzog sich Lorenzos Gesicht zu einem Lächeln. Paolo war der zwölfjährige Sohn von Lorenzos Bruder Nikita, bei dem Lorenzo seit 3 Jahren lebte. Paolo hatte dunkelblondes Haar und blaue Augen.
Sofort stürmte Paolo auf ihn ein. "Können wir morgen an der Strand gehen, Lorenzo, du hast es versprochen?". Lorenzo lachte. "Natürlich machen wir das, Chef". Er konnte dem Jungen keinen Wunsch abschlagen
"Abend Lorenzo", meldete sich Nikita, der ins Wohnzimmer kam.
"Ich werd uns dann mal was zu Essen machen", sagte Lorenzo. Er ging in die Küche und wärmte vier Dosen Ravioli auf.

Als das Essen fertig war, setzte sich auch Michele an den Tisch. Michele war Lorenzos jüngster Bruder, der ebenfalls im Haushalt wohnte. Er verließ so gut wie nie das Haus und verbrachte den Großteil des Tages in seinem Zimmer vor dem Fernsehen. Michele litt an einer seltenen Erberkrankung, Neurofibromatose, die dafür sorgte, dass sein gesamter Körper einschließlich seinem Gesicht mit abertausenden, großen Warzen bedeckt war. Wie auch Lorenzo hatte Michele nie geheiratet. Nach Nikitas Scheidung waren die beiden Brüder zu ihm gezogen, hauptsächlich, um der Einsamkeit zu entkommen.
"Ich sitze jetzt in der Schule neben Filipo", meldete sich Paolo zu Wort und strahlte dabei das Lächeln, das Lorenzo so sehr an ihm liebte.
"Ich hoffe nur, du arbeitest im Unterricht gut mit", mahnte sein Vater. Michele blieb wie meistens stumm.

Nach dem Essen ging Paolo ins Bett und Lorenzo begleitete ihn wie gewöhnlich, um sich noch ein bisschen mit ihm zu unterhalten.
Paolo wirkte heute so, als wolle er irgend etwas loswerden.
"Du Lorenzo", begann er. "Ich finde Filipo echt toll"
"Das ist doch schön", meinte Lorenzo freundlich.
"Aber ich bekomme immer so ein komisches Gefühl, wenn ich ihn ansehe. Und nach der Schule muss ich irgendwie die ganze Zeit an ihn denken."
"Und?", meinte Lorenzo ermutigend.
"Kann man sich auch in einen Jungen verlieben, wenn man eigentlich nicht schwul ist?", fragte Paolo vorsichtig.
Lorenzo lachte. "Und ob man das kann", antwortete er. "Weißt du, vor 200 Jahren gab es noch gar kein Wort für schwul oder hetero. Für die Leute war es klar, dass man sich in beide Geschlechter verlieben kann. Du verliebst dich ja nicht in eine Person wegen ihres Geschlechts, sondern dafür, was diese Person für dich zu etwas Besonderem macht"
Darüber schien Paolo erleichtert zu sein.
"Und weißt du was?", setzte Lorenzo hinzu.
"Was denn?" fragte Paolo neugierig.
"Als ich in deinem Alter war, habe ich mich auch in einen Jungen verliebt. Er hieß Sergio und hatte wunderschöne Augen!"
"Echt?" fragte Lorenzo heftig und strahlte. Dann bekam sein Gesicht einen kritischen Ausdruck und er fügte hinzu: "Und bist du eigentlich schwul, Lorenzo?"
"Wie kommst du darauf?", fragte Lorenzo und lachte vorsichtig.
"Du hast keine Frau. Und Papa hat gesagt, dass du auch noch nie eine hattest, nicht mal eine Freundin"
"Weißt du", meinte Lorenzo. "So was muss sich ergeben. Ich hab halt die Richtige noch nicht gefunden"
"Wirst du bestimmt bald", meinte Paolo lächelnd. Dann wünschte Lorenzo ihm eine gute Nacht und verließ das Zimmer.


Am nächsten Tag saßen Nikita und Lorenzo am Frühstückstisch. Paolo und Michele schliefen noch.
"Hör mal", begann Nikita. "Wir müssen etwas besprechen, das mir sehr unangenehm ist"
"Klar", beeilte sich Lorenzo. "Schieß los"
"Es ist das Geld. Ich komm nicht mehr damit klar. Ich muss am Ende jeden Monats Schulden machen. Du weißt ja, alles wird so teuer. Es tut mir leid, aber es geht nicht anders. Du wirst etwas mehr monatlich beisteuern müssen"
"Das ist doch selbstverständlich", sagte Lorenzo mit Nachdruck, aber musste schlucken. Sein mageres Gehalt an der Mautstelle reichte schon jetzt weder zum Leben noch zum Sterben. Aber es würde schon irgendwie gehen. Und was er dafür bekam, war mit Geld nicht aufzuwiegen.


Nach dem Frühstück half Lorenzo Paolo bei den Hausaufgaben. Der Junge war im Grunde ein guter Schüler, im Italienischen war er Klassenbester, nur in Mathematik hatte er einige Schwierigkeiten. Und so gab Lorenzo sich jetzt große Mühe, Paolo den Sinus und den Cosinus zu erklären. Nach einer Weile hatte Paolo es tatsächlich verstanden und strahlte.
"Du kannst so gut erklären, vielen Dank man!" rief er begeistert.
"Ist doch selbstverständlich", strahlte Lorenzo. Paolos Lächeln war ihm eine größere Belohnung als jeder Geldbetrag es hätte sein können. Träumerisch betrachtete er Paolos dunkelblondes Haar, dass ihm so reizend in die Stirn viel.
"Hey Lorenzo", meinte Paolo plötzlich und etwas in der Betonung dieses Satzes alarmierte Lorenzo.
"Was ist denn?"
"Wenn du mir die Sachen erklärst, schaust du mich immer so komisch an. Irgendwie so intensiv"
Lorenzo merkte, wie er gegen seinen Willen errötete.
"Ich will eben deinen Gedankengängen folgen, wie sollte ich dir sonst etwas erklären", sagte er mit möglichst fester Stimme. Dann beendeten sie die Nachhilfestunde für heute.



Später am Tag suchte Paolo Lorenzo in seinem Zimmer auf. Er wirkte völlig aufgelöst und vermittelte den Eindruck, geweint zu haben.
"Lorenzo, ein Klassenkamerad hat mir ein Video geschickt. Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe"
Er gab Lorenzo sein Handy. Das Video zeigte einen Dieb, der von einem Dutzend Brasilianer gefangen worden war. Die Leute schimpften auf ihn ein, bespuckten ihn und verprügelten ihn mit einem Stock. Angewidert stoppte Lorenzo das Video. "Wer schickt dir denn so einen Scheiß?"
"Wie kann man nur so etwas machen?" schluchzte Paolo. "Nur weil einer was geklaut hat"
"Weißt du", meinte Lorenzo, "die Menschen tragen eine Menge Hass mit sich herum. Und wenn sie dann jemanden finden, der diesen Hass anscheinend verdient hat, können sie richtig gnadenlos sein"
"Ich würde sowas niemals machen!" rief Paolo. "Und du bestimmt auch nicht!"
"Ich weiß", meinte Lorenzo sanft und schickte Paolo hinaus.



Am nächsten Tag war es ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, und so gingen Nikita, Lorenzo und Paolo an den Strand. Michele begleitete sie niemals dorthin. Er konnte die mitleidigen oder angeekelten Blicke der anderen Menschen nicht ertragen. Da es noch relativ früh morgens und außerdem November war, hatten sie den Strand fast für sich.
Sie breiteten ihr Handtuch und ihre Sachen aus.
"Spielen wir, wer zuerst ins Wasser kommt?", meinte Paolo und strahlte Lorenzo an.
"Das ist unfair, weil du nicht rauchst!", lachte Lorenzo, ließ sich aber auf das Spiel ein.
Ohne zu Zögern warf Paolo sich in die Wellen.
Nachdem Lorenzo und Nikita mit einiger Verzögerung dazustießen, schwammen sie für ein paar Minuten, gingen dann wieder zurück an ihren Platz und trockneten sich ab.
Lorenzo vertiefte sich in sein Buch "Der Zauberberg", während Nikita sich auf seinem Handtuch ausbreitete und sonnte.
Paolo baute eine Sandburg doch gab das Vorhaben schnell gelangweilt auf. Er fand nicht zur Ruhe.
"Hey Lorenzo!", rief er vergnügt. "Ich geh doch jetzt ins Wrestling. Ich wette, ich kann dich auf den Rücken pinnen und du kannst nichts dagegen machen"
Lorenzos Herz begann schneller zu schlagen. "Das glaube ich dir sofort", meinte er. "Aber jetzt lese ich lieber mein Buch, tut mir Leid"
Aber Paolo ließ nicht locker.
"Bitte Lorenzo! Mir ist so langweilig!"
"Tu dem Jungen doch den Gefallen", schaltete sich Nikita ein. "Vorher gibt er sowieso keine Ruhe".
"Na gut", meinte Lorenzo widerwillig.
Er und Paolo stellten sich gegenüber auf und machten sich bereit, bis Nikita das Startsignal gab.
Paolo sprang auf Lorenzo zu und packte ihn an den Oberarmen. Eine Weile schoben sie sich hin und her. Dann stellte Paolo seinen Fuß hinter Lorenzos Beine und warf ihn mit einem Hebel auf den Rücken. Bevor er reagieren konnte, setzte sich Paolo auf Lorenzos Brustkorb. Lorenzo spürte sein Herz rasen.
"Das reicht jetzt", rief er ungeduldig und warf Paolo unsanft von sich. "Du hast gewonnen"
Schnell drehte er sich auf den Bauch, um das zu verbergen, das, wie er hoffte, niemand bemerkt hatte. Sein Kopf war knallrot.
"Was hast du denn?" fragte Paolo beleidigt.
"Ich hab dir doch gesagt, ich will lieber lesen", antwortete ihm Lorenzo ungeduldig. Vorsichtig blickte er zu Nikita. Der ließ sich nichts anmerken.



Am Abend brachte Lorenzo Paolo ins Bett.
"Hör mal, Paolo, es tut mir Leid, dass ich heute so unfreundlich war, ich hatte schlechte Laune und hab Sport schon immer gehasst"
Da sah er, dass Paolo Tränen in den Augen hatte.
"Ich hab dich so lieb, Lorenzo", flüsterte er mit erstickter Stimme.
Lorenzo war gerührt, aber wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
"Ich hab dich so lieb wie meinen eigenen Papa", sagte Paolo.
"Du weißt doch, dass ich dich auch sehr lieb habe", meinte Lorenzo sanft.
Paolo schwieg einige Sekunden, dann sagte er flehentlich "Du darfst niemals ausziehen. Bevor du da warst, war ich oft traurig"
"Das habe ich auch nicht vor. Ganz bestimmt nicht so bald", beruhigte ihn Lorenzo. "Und jetzt schlaf gut"



Er ging ins Wohnzimmer, wo Nikita schon auf der Couch saß. Er wirkte bedrückt.
"Lorenzo, setzt dich doch bitte zu mir"
Beim Ton von Nikitas Stimme sank Lorenzo das Herz in die Hose.
"Lorenzo, du bist mein Bruder, und ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Glaub mir, das ist mir so unangenehm" Er seufzte schwer. "Aber ich hab dich heute mit Paolo am Strand beobachtet. Glaub nicht, das mir das nicht aufgefallen ist"
Schnell und heftig antwortete Lorenzo "Nikita, ich schwöre bei Gott, ich habe niemals..."
"Ich weiß", beeilte sich Nikita. "Du bist mein Bruder, und du bist ein guter Mensch, das weiß ich ganz sicher. Aber ich bemerke auch, wie du den Jungen ansiehst, und das schon länger"
Lorenzo unternahm keinen Versuch, sich zu verteidigen.
"Ich mache es kurz, Lorenzo. Ich will, dass du ausziehst. Ich habe doch keine andere Wahl. Was würdest du an meiner Stelle tun?"
"Natürlich", sagte Lorenzo sofort. Dann verließ er ohne ein Wort das Zimmer.


Bis spät in die Nacht stand Lorenzo auf dem Balkon und lauschte den Autos, die auf der nahegelegenen Autobahn vorbeirauschten. Es hatte wieder angefangen zu regnen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Eine tiefe Hoffnungslosigkeit breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 23708

Gast
Hallo Michele,

ich habe die Geschichte gerne gelesen. Der Schreibstil ist einfach aber effektiv, passt gut zu der düsteren Atmosphäre. Man kann sich gut in Lorenzo hineinversetzen. Zwei Dinge finde ich aber unglaubwürdig: Wenn Lorenzo etwas an dem Jungen liegt hätte er dann nicht von selbst darüber nachdenken sollen auszuziehen? Und wenn Nikita schon geahnt hat das Lorenzo sich in seinen Sohn verliebt hat dann hätte er ihn sicher nicht zu dem Kampf am Strand animiert sondern eher versucht das ganze zu verhindern, oder nicht?

Grüße
Alex.ey
 

Michele.S

Mitglied
Vielen Dank für deinen Kommentar und deine Bewertung, lieber Alex.ey.
Ich denke Lorenzo kommt nicht auf den Gedanken auszuziehen weil es für ihn zu deprimierend wäre. Er ist in den Jungen verliebt und wenn er auszieht ist er wieder ganz allein. Du hast völlig Recht, es ist unglaubwürdig, dass Nikita Lorenzo zu dem Wrestling-Match überredet. Das ist mir irgendwie nicht aufgefallen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 23708

Gast
Ja da hast du wohl recht. Es ist unwahrscheinlich und viel verlangt, dass Lorenzo freiwillig auszieht. Als verantwortungsbewusster Erwachsener hätte er es dennoch in Erwägung ziehen müssen
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Michele,

ich habe in Nikitas Ermunterung eine Art Test gesehen, als wolle er sich davon überzeugen, das sein 'Argwohn' berechtigt ist.
Allerdings ist der Auzug keine wirkliche Lösung, weil er nur wieder neue Probleme aufwirft - außerdem bedeutet diese Liebe nicht zwangsläufig eine Gefahr für das Kind. Aber das ist nur graue Theorie. Als Elternteil sieht man das vielleicht anders.
Das ist eine sehr schöne Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
Petra
 

Michele.S

Mitglied
Hallo Petra

Vielen Dank für deine nette Nachricht. Du hast Recht, ich halte Lorenzos Auszug ebenfalls für einen Fehler. Paolo wird das erschüttern. Allerdings schätze ich hätten die meisten Eltern sich so entschieden.

Gruß
Michele
 

petrasmiles

Mitglied
ich denke mal so, wenn wir das als Gesellschaft mit der Diversität wirklich ernst meinen, dann dürfen wir nicht hinter jedem Homosexuellen eine(n) potentiellen Kinderschänder sehen. Ich habe aus der Geschichte mitgenommen, dass die Gesellschaft, in der die Protagonisten angesiedelt sind, vielleicht 'noch nicht so weit' ist, wobei ich das für unsere auch nicht unterschreiben würde - vor allem, wenn Männer die Aufsicht auf die Kinder haben. Ich unterstelle, Frauen wären da gelassener ... dünnes Eis :D

Liebe Grüße
Petra
 

Michele.S

Mitglied
Das Problem ist ja nicht Lorenzos Homosexualität sondern seine pädophilen Neigungen. Aber vielleicht sollten wir als Gesellschaft nicht jeden Pädophilen als potentiellen Kinderschänder sehen. Aber ich denke bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aktuell sehen die Leute halt in jedem Pädophilen eine tickende Zeitbombe.

Gruß
Michele
 

petrasmiles

Mitglied
Ist das so? Ich meine, das muss man nicht so lesen - aber Du hast es geschrieben, also wenn Du es sagst ...
Ich denke auch, dass Pädophilie nicht losgelöst vom Charakter betrachtet werden kann - wenn wir uns darauf verständigen können, dass auch diese sexuelle Neigung - eine natürlich gesellschaftlich nicht akzeptable Neigung - angeboren ist. Eine schwere Bürde. Die Vorstellung, nie sein Begehren zum Ausdruck bringen zu können, empfinde ich als tragisch.
In Deiner Geschichte, wo es nicht nur um Begehren geht, sondern auch um Liebe, könnte man dem Charakter eine Chance geben, sich zu behaupten. Aber in der Realität würde ich wohl auch dafür plädieren, dass man zum Schutz des Kindes die Möglichkeit eines Übrgriffs verhindert. Das Kind wird auch ohne diese Gefahr leiden und eine Zurückweisung empfinden, die es nicht verarbeiten kann, weil man ihm keinen Grund nennen kann, den es versteht.
Worüber man sich alles Gedanken machen kann ... wenn man inspiriert wird.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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