Impfpflicht

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Val Sidal

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Wenn um 9:30h in der Klasse zwei mürrische Kittelgestalten das Kommando übernehmen und die Klassenlehrerin nur noch Befehle empfängt, dann verstehst du als Drittklässler immer noch nicht, dass es Impfpflicht gibt.
Wir waren nicht vollzählig. Nina fehlte. Als gefragt wurde, wer denn wisse, wo Nina wohnte, habe ich wahrheitsgetreu aufgezeigt.
Die hohe Tür der Erdgeschosswohnung des Stadthauses gab mit einem Knall im Steintreppenhaus nach.
Nina war alleine. Sie kauerte mit ihren langen, zerzausten, kastanienbraunen Haaren ungekämmt auf ihrem Bett. Die rotgeriebenen Augen und ihr blasses Gesicht bewiesen, dass ihre Angst schon längst das Sagen hatte.
Als wir sie aus dem Bett gezogen hatten, fiel sie nicht hin, sondern stand in ihrem durchsichtigen Nachthemdchen zitternd vor uns. Gegen unsere Übermacht konnte sie nur ihre Unterwürfigkeit setzen. Ein Anflug von Mitleid berührte mich. Sie hatte etwas Engelhaftes, wie wir sie in ihrem Nachthemd die ca. 500 m der Innenstadt von zuhause verschleppt hatten.
Diese Bilder lassen mich auch nach 60 Jahren nicht los.
 

Tula

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Hallo

wie wir sie in ihrem Nachthemd die ca. 500 m der Innenstadt von zuhause verschleppt hatten

Verstehe ich nicht wann (um 1960) und was da in deiner Geschichte genau vorgefallen ist und was das mit der aktuellen Debatte um die Impfpflicht zu tun hat.

LG
Tula
 

Val Sidal

Mitglied
@Tula
Gut gerechnet -- irgendwann um 1960;
Was geschehen war, steht im Text: jenand hatte Angst vor der Impfung, Schüler wurden dazu verdonnert, jemanden aus der Wohnung zu einer Zwangsimpfung zu zerren -- es ist einfach zu verstehen, wenn man den Text liest.
Es ist freilich kein Rätsel, was das mit der aktuellen Impfdebatte zu tun hat.

Dein Kommentar ist mir allerdings ein Rätsel.
 

Tula

Mitglied
Hallo

Schüler wurden dazu verdonnert, jemanden aus der Wohnung zu einer Zwangsimpfung zu zerren

Von solch einem Vorgehen hörte ich nicht einmal in der DDR, wo ich herkomme, obwohl ich mir das für das Jahr 1960 sogar vorstellen kann (ich bin Jahrgang 66 und habe Walter Ulbricht nicht mehr wirklich miterlebt).

Aber da du den Vergleich zur heutigen Zeit und Land ziehst und damit bewusst suggerierst, dass die Regierung mit dem Vorschlag der Impfpflicht auf ähnliche Methoden zurückgreifen will und wird, muss der Leser ohne jeden Zweifel davon ausgehen, dass sich die Szene in der BRD abgespielt hat. In der Tat beklemmend. Wo war das genau?

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Dann vergleichst die brutale Diktatur jener Jahre und jenes Landes mit der gegenwärtigen Debatte? Sicher nicht. Nichts gegen den Text und die literarische Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, aber da wäre ein Hinweis unter dem Text hilfreich gewesen.

LG
Tula
 
wie wir sie in ihrem Nachthemd die ca. 500 m der Innenstadt von zuhause verschleppt hatten.
Man kann sich denken, was gemeint ist. Nur flüssiges schriftsprachliches Deutsch ist es nicht. Besser: ... als wir sie in ihrem Nachthemd von zuhause etwa fünfhundert Meter verschleppt hatten. ..

Im Übrigen, werter Val Sidal, schließe ich mich Tulas letztem Kommentar vollinhaltlich an.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Val Sidal

Mitglied
@Arno Abendschön,

wer meine Texte kennt, weiß, flüssiges Deutsch ist kein primäres Ziel meines schriftlichen Ausdrucks. Ruppig, flüssig, stotternd, stolpernd -- das WIE des Ausdrucks ist in meiner Arbeit immer dem WAS untergeordnet.

Das zerhackt-zitierte Bild mit dem Textvorschlag bereitet mir geradezu körperlichen Schmerz.

Wenn man das vollständige Bild betrachtet:
Sie hatte etwas Engelhaftes, wie wir sie in ihrem Nachthemd die ca. 500 m der Innenstadt von zuhause verschleppt hatten.
--
erkennt man leicht, dass hier nicht auf den Zeitbezug ("als") hingwiesen wird. Vielmehr wird das WIE des Geschehens mit dem engelhaften Erscheinubgsbild des Mädchens aus einer (für einenen Moment) veränderten Erzählperspektive kontrapunktiert, was freilich den (gewollten) Sprung im Satz nötig macht.

Mit der Mitleidsreflexion wurde der "Kameraschwenk" gleitend und dem Erzählrhythmus angemessen abgefedert.

Ich gebe zu meinen Texten -- wenn überhaupt -- nur in Kommentaren Metainformationen Preis.
 
das WIE des Ausdrucks ist in meiner Arbeit immer dem WAS untergeordnet.
Gut, dass ich darüber nun aufgeklärt worden bin, Val Sidal. Mein Bedarf an Tendenzliteratur in holprigem Schrumpfdeutsch ist arg begrenzt.

Und was das "Was" angeht, so kamen mir bei der Lektüre gleich die niedlichen Kinderfotos in den Sinn, mit denen seinerzeit Berichte über Migranten gern bebildert wurden. Ein anderer Fall, aber dieselbe Geisteshaltung: irrational, die Gefühlsharfe einsetzend. In deren allzu großzügigem Einsatz liegt eine der Wurzeln von diesem und jenem Dilemma.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Val Sidal

Mitglied
Das, mit der Tendenzliteratur, werde ich jetzt nicht auch noch ausbuchstabieren.

Mein Bedarf, die Lesekompetenz von Autoren zu fördern, ist gedeckt. Dennoch -- gern geschehen. Da sieht man den Unterschied zwischen Lesen und Buchstabieren.

Was ein Leser mit meinem Text assoziiert ist mir egal.

Ich bin sicher, hier gibt's ausreichend Flüssiges und Süffiges für jeden Geschmack!
 
Immer hochgemut, lieber Kollege? Ich beharre aber darauf, dass "die ca. 500 m der Innenstadt" schlichtweg falsches Deutsch ist.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Val Sidal

Mitglied
Okay -- wir sind hier Kurzprosa, ja?
Verdichten, um ein Bild konturierter zu machen -- anerkanntes Mittel, ja?

Um das intendierte Bild zu bekommen, nämlich, die nicht zu große Entfernung von zuhause bis zur Schule, einerseits und die für zwei Jungen, die ein sich währendes, halbnacktes Mädchen ziehen und zerren wie eine Ewigkeit vorkommen muss andererseits, an einer Stelle, wo evtl. Passanten eingreifen könnten -- aber offenbar nicht tun: die Innenstadt.

Wenn sich an einem Ort Raum und Zeit sich gegenseitig durchdringen, dann ist das für einen Autor eine richtige Herausforderung.

Nach einigen Versuchen habe ich mich für meine Lösung entschieden.
Eine Option war auch "500m durch die Innenstadt" -- da gefiel mir aber der Rhythmus nicht.
Wenn man sich mit der zeitgenössischen Literatur befasst, wird man unzählige Beispiele für Sprachbiegung und -brechung als Mittel der Wahl finden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Schon recht, Val Sidal. Was du hier erläuterst, kann ich alles akzeptieren - nur steht dieses eine von mir kritisierte Zitat im Kontrast zur Sprache des gesamten übrigen Textes (den ich ja keineswegs übel finde). Der Stil insgesamt zeichnet sich durch eine gewisse konventionell-korrekte Bravheit aus, und dann stößt man auf eine solche Stelle. Das wirkt dann nicht wie ein bewusst eingesetztes Stilmittel, sondern wie eine Nachlässigkeit infolge mangelnder Konzentration. Muss es natürlich nicht gewesen sein.

Das Problem mit dem Rhythmus ist in der Tat eines, das auch mir regelmäßig zu schaffen macht. Hier ließe es sich vielleicht lösen, indem man nach " fünfhundert Meter durch die Innenstadt" das an sich ohnehin überflüssige " von zuhause" streicht. Oder so: "wie wir sie im Nachthemd von zuhause fünfhundert Meter weit durch die Innenstadt verschleppt hatten." Rhythmusprobleme lassen sich manchmal durch Streichen entbehrlicher Silben entschärfen. Störend finde ich an einem sorgfältig geschriebenen (Kunst-)Kurzprosatext auch dieses "ca.".

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Val Sidal

Mitglied
Weil dein Kommentar jetzt klingt, als würdest du dich ersthaft mit dem Text auseinandersetzen zu wollen, gehe ich auf deine Überlegungen ein.
Zunächst die Perspektive. Ein 70 Jahre alter Mann wird im Kontext konkreter Ängste in einer pandemischen Situation, die komplexer ist als früher die Pest, mit dem Thema Impfung konfrontiert -- eigentlich ein no-brainer. Doch dann fällt das Wort von Impfpflicht und Zwangsimpfung und schon wird ein Trauma aus der Grundschule nochmal erlebt.
Zunächst sind die Bilder schwarz-grau und zeichnen eine immer noch eingepbrannte Programmierung: ja, es gibt Mächte, die sogar die Klassenlehrerin zur Befehlempfängerin degradieren, dann kann LyrIch nichts falsch gemacht haben. Ein Ungutes gefühlt steigt früh hoch -- erkennbar daraus, dass LyIch "wahrheitsgetreu" (eine Wortwahl, die heraussticht) aufzeigt. Noch kann LyrIch seine Gefühle unter dem Deckel halten.
Sprache der Perspektive: nüchtern, kompakt, nicht unbedingt karg aber doch reduziert auf die notwendigen Pointierungen.
Der erlebte Knall der aufgebrochenen Tür leitet mit einem Zoom den Perspektivenwechsel ein: Lyrich berichtet, dass er den Knall "laut" fand.
Mit dem Anblick des Mädchens verlässt LyrIch die vergleichsweise komfortable Jetzt-Poistion und springt in die Damals-Position. Kann den Anblick des Mädchens nicht lange ertragen, empatisch übernimmt er ihre Angst und ...
Das DRAMA: damals wie heute weiß er nun, dass das, was geschieht nicht rechtens ist und stammelt schnell die Fakten der Szene vor sich, damit er mit dem Verstandesakt wieder in die JETZT-Perspektive wechseln kann, die sich allerdings verändert hat: die beklemmenden Bilder lassen nur ein Grundgefühl zu -- ich war Mittäter, mitschuldig.
Diesen Prozess sprachlich in Szene zu setzen war die Herausforderung, der ich mich gestellt habe, als ich mich an dieses Erlebnis heranwagte. Deine Vorschläge sind nachvollziehbar. Vor dem Hintergrund der skizzierten Inszenierungsabsicht empfinde ich sie als nicht zweckdienlich.
Natürlich ist "von zuhause" überflüssig -- aber gerade solche rethorische Unebenheiten, evtl. sinnlose Wiederholungen, Ellypsen usw. ermöglichen dem Autor, den emotionalen Zustand des Ich-Erzählers zu dynamisieren. Mit dem "ca." allerdings neige ich dazu, dir zuzustimmen. An der notwendigen Abstandsangabe habe ich verdammt lange gegrübelt. Jetzt bin ich geneigt auf das "ca." zu verzichten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Was du hier vorstellst, Val Sidal, ist eine Art Röntgenbild des Autors beim Schreiben, meinetwegen auch des Ich-Erzählers im Text, so wie er gedacht war. Fragt sich halt, ob diese Strukturen vom Leser auch ohne viel Nachhilfe erkannt werden. In meinem Fall war das eher nicht so. Dass die erinnerte Episode an sich die Darstellung lohnt, will ich gern einräumen und es damit insgesamt bewenden lassen.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

HerbertH

Mitglied
Schön, das Kurzprosa nicht automatisch kurze Diskussionen nach sich zieht....

Auch Kurzprosa lebt in des Lesers Kopf....

Freundliche Grüße

Herbert

PS: 1/2 Kilo Meter - auch ne Distanz ;)
 

Kaetzchen

Mitglied
Hallo Val Sidal
Mich berührt deine Geschichte, für Nina baut sich sofort bei mir Mitgefühl auf. Eine Verbindung zur heutigen aktuellen Lage muß man in deinem Text nicht zwingend sehen, dazu baust du keine Brücke. Es ist für mich einfach eine Geschichte, die du vor 60 Jahren erlebt hast. Damals gab es Impflicht, auch in der DDR. Das Mitleid, welches du hattest und auf den Leser überträgst, ist es wert, diese Geschichte zu erzählen, denn ein Gefühl beim Leser herauszukristallisieren macht Kunst erst zur Kunst. Die Stellen, die für merkwürdig erklärt wurden, sind des Merkens würdig.
Gern gelesen
VG
Kaetzchen
 

Val Sidal

Mitglied
Hallo Ketzchen, danke für dein Feedback.
Eine Verbindung zur heutigen aktuellen Lage muß man in deinem Text nicht zwingend sehen, dazu baust du keine Brücke.
Nun -- da draußen CORONA tobt und das Impfen ein großes Thema ist, kann ich niemandem verübeln, zunächst eine aktuelle Referenz zu vermuten.
Doch, es ist, wie du es meiner Intention entsprechend beobachtet hast: es geht hier um Kinder die in einem autoritären System sozialisiert wurden, in Gewissenskonflikte und ethisch traumkatisiernde Situation geraten können, die sie wie der ICH-Erzähler es mit dem Schlusssatz konkludiert, lebenslang mitschleppen.
 



 
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