Impression I

Kaspar Reynard

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Stillschweigend modert das Gemäuer unter den Wipfeln der Bäume.
Nur noch ein paar der graubraunen Natursteine lugen aus dem grünen Moos hervor, das sich in feuchter Schwere über die Mauerstümpfe gelegt hat.
An manchen Stellen schimmert dunkelbrauner Matsch aus dem von knielangen Gräsern bewachsenem Boden, niemand kann noch genau bestimmen, wann die alten Burgwände zu Schlamm wurden und wie tief die Steine tatsächlich im Boden verankert sind.
Noch sieht man die Kanten der ehemaligen Gebäude, auch wenn sie sich kaum mehr als Kopfhoch aus dem Boden erheben und von der Zeit immer weiter und immer tiefer zernagt werden.
Keiner erinnert sich noch an die alten Ruinen, die vom Stolz einstiger Tage kündigen. Niemand macht sich noch auf, die Hohlwege zu erkunden, um am Ende hierher zu gelangen. Weit auf dem Hügel, am höchsten Punkt, den die Natur nach Jahrzehnten der Niederlage wieder zurückgewonnen hat und seit Jahrhunderten für sich vereinnahmt.
Ein Zug rattert an der anderen Seite des Flusses entlang und entfernt sich, um nicht zu lange zu verweilen.
Breit und gleichgültig, wie schon seit jeher fliest der Strom um seine Mäander, ihm ist das Verschwinden der ehemals stolzen Feste nicht aufgefallen. Nur eine Ansammlung winziger Mauern, einiger Türme und ein paar Stimmen, die auf dem Weg seiner langen Reise verschwunden waren. So viele anderes ist noch erhalten geblieben, so viel neues ist noch dazugekommen.
Kein Wächter verlangt mehr nach Gründen, nach Pässen oder Zoll. Der Torbogen ist eingebrochen unter dem Gewicht der Tage, Wurzeln halten die Bruchstücke fest im Griff, ein junger Baum wachst auf dem wuchtigsten Brocken.
Freundlich scheint die Sonne herunter, befreiend rauscht der Wind an den Blättern und zieht sie auseinander. Ein schillerndes Spiel aus Schatten und Licht tanzt über die Ruinen, nur vor dem kleinen Friedhof am Rande des Hangs macht das Spektakel halt.
Die letzte verzeichnete Beerdigung liegt in den Vorzeiten, die Herren und Damen sind ausgestorben. Keine Feste tönen mehr aus den verwaisten Hallen, nur das Sternenzelt ist noch geblieben, die Wände verschwunden, das Dach ersetzt. Kein Waffenklirren dringt mehr an den spitzen Fensterrahmen, der steinern unbeeindruckt, nur noch in der Hälfte stehend übriggeblieben ist, vom Turm, der einstmals mit rotem Dach von weitem kündete.
Rote Rosen, totes Laub, darunter tote Körper.
Was noch von ihnen noch erhalten ist?
Grabsteine, sich biegend unter der schwere ihrer Botschaft. Verwittert und von Flechten bedeckt, verfremdet und verändert. Jeder Name ausgewaschen, jede Zahl und jedes Gebet. Und mitten unter ihnen eine alte Weide, die Äste tiefhängend, die tapferen Steine behutsam streichend.
Blaumeisen zwitschernd in den Vorsprüngen, wo ehemals die Falken kreisten, Füchse tollend, nach Kaninchen jagend, die schon vor langer Zeit entlaufen waren.
Geheimnisse, im Boden versunken unauffindbar, zwischen Wurm und Mäusegang.
Und manchmal, wenn der Mond vom Wasser her hinüberleuchtet, einen hellen Lichtschweif hinter sich herziehend, wenn die Eule dumpf zwischen versteckten Wipfeln heult, wenn Gehölz dunkel knackst, steigt etwas Erinnerung empor.
Schwer wabert sie über den Boden, ehrwürdig schwebt sie über die Gemäuer, der Geist der alten Tage und wenn der Morgen wieder anbricht und der erste Zug wieder auf den Gleisen anrattert, zerstiebt sie eilig, ungesehen, unbeachtet und vergessen im roten Licht der Dämmerung.
 



 
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