Kenoda
Mitglied
Ich spürte sein weiches Fell unter meiner zitternden Hand. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich spürte jeden einzelnen Schlag. Bum, bum, bum. Jeder war schmerzhafter als der davor. Die warmen Tränen rannen meine vermutlich fahl weißen Wangen entlang. Während mein Herz drohte aus der Brust zu springen, hörte sein Herz langsam auf zu schlagen. Sein kräftiger Brustkorb bewegte sich noch ganz langsam. Kurz darauf war er gekommen: der letzte Atemzug. Ich spürte die bedauernden Blicke der Frau in Weiß. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und ich sah in ihre vertrauten kastanienbraunen Augen. Ich kannte Frau Dr. Ortmann schon lange. Sie war die einzige Ärztin bei der ich das Gefühl hatte, dass sie Mitgefühl empfand, ehrlich und aufrichtig war.
„Er hat es geschafft.“
Ich nickte. Eine unfassbare Traurigkeit machte sich in mir breit. Es war kaum in Worte zu fassen, dieses Gefühl. Als würde man den Boden unter den Füßen verlieren.
„Ich frage mich nur, wer so etwas tut… wer einem Tier das antun kann…“
„Menschen tun fürchterliche Dinge. Dafür gibt es oft keine Erklärung…“
Es war ein Stück Fleischwurst, gefüllt mit kleinen, messerscharfen Rasierklingen, die die inneren Organe von Sam so schwer verletzten… Er hatte es nicht geschafft. Zwölf Jahre. Zwölf Jahre war er an meiner Seite, mein Begleiter, Tag für Tag. Nie war er mir von der Seite gewichen. Immer war er da, hatte mich getröstet und mit mir die schwierigsten Situationen gemeistert. Vielleicht war es töricht, gar naiv, davon zu sprechen, dass er immer „ein offenes Ohr“ für mich hatte. Doch ich wusste, dass es genauso war. Er war ein wahrhaft bester Freund. Mein bester Freund. Sanft strich ich über sein kurzes Fell. Es sah aus als würde er schlafen. Und ich wünschte, es wäre so. Ihn nicht mehr an meiner Seite zu wissen, mit dem Gedanken zu leben, fortan ohne ihn zu sein… Unvorstellbar.
„Ich lasse euch noch ein paar Minuten allein… Soll ich deine Mutter holen?“
Ich schüttelte den Kopf, schluchzte und starrte auf Sams leblosen Körper. Ich wusste eins: Ich wollte nun mit ihm allein sein, auch wenn er seinen Weg zur anderen Seite schon gegangen war.
Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht waren es Sekunden oder einige Minuten. Es fühlte sich nicht genug an. Während ich mit geschlossenen Augen in dem nassen Fell meines Hundes ruhte, hörte ich wie plötzlich die Tür aufging und ich spürte, dass sich eine warme Hand auf meinen Rücken legte.
„Komm, meine Süße…“ sagte eine engelsgleiche Stimme. Es war meine Mutter. Ich wollte nicht gehen und Sam alleine lassen, bis mein Vater ihn später abholte.
„Es ist Zeit zu gehen… Komm…“
Der leichte Druck auf meiner Schulter schob mich langsam von ihm fort. Weinend lehnte ich mich an meine Mutter, die gemeinsam mit mir die Praxis verließ.
Es vergingen Tage. Schreckliche Tage. Jeden Morgen ging ich an sein Grab in unserem großen, blühenden Garten. Und jede einzelne Blüte, jeder Grashalm, jeder Quadratzentimeter, auf dem er sich bewegt und jeder Ast an dem er geschnuppert hatte, erinnerte mich an ihn. Die Zeit heilte keine Wunden. Dieser Tag würde auf ewig eine klaffende Wunde hinterlassen. Da war ich mir sicher.
Eines Abends - ich wusste noch genau, dass es ein regnerischer Samstag war - hörte ich ein Bellen. Es war nicht irgendein Bellen. Es hörte sich nach ihm an. Im Dämmerschlaf rappelte ich mich langsam auf, streckte mir die Müdigkeit aus den Gliedern und rieb mir meine glasigen Augen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Traum, doch als ich zunehmend wacher wurde, mehr und mehr zu Sinnen kam, da hörte ich es wieder, dieses Gebell. Das konnte nicht sein! Er war doch tot! Ich sprang auf, stürmte aus meinem Zimmer, die Holztreppen hinab durchs Wohnzimmer, hinaus aus der Tür und in den strömenden Regen hinein. Kurz darauf rief meine Mutter: „Hey, Melissa! Wo willst du denn hin!?“
Hektisch wandte ich mich zu ihr. Sie stand in der Tür, hatte ihre graue Strickweste wärmend um ihren zarten Körper geschlungen, damit sie nicht fror. Dann hörte ich es wieder.
„Mama! Hörst du das nicht!? Es ist Sam! Er ist wieder da!“
„Melissa, wovon redest du!? Ich höre nichts! Komm rein! Du wirst dir noch den Tod holen!“
Doch da war es schon wieder! Ich erkannte seine Stimme unter tausend anderen. Er war es! Zweifellos!
„Da war es schon wieder! Mama! Hörst du ihn denn nicht!?“, fragte ich, und sicher konnte man die Verzweiflung hören, die aus mir sprach. Meine Mutter schaute mich nur entsetzt an, während das Wasser in Strömen auf mich herab prasselte. Ich spürte die langen Strähnen, die an meinen Wangen klebten, und ich zitterte wie Espenlaub. Doch es war mir egal. Hektisch sah ich mich um, voller Erwartung, doch da war nichts. Niemand. Nur sein Gebell, welches durch die dunkle Nacht hallte, und mir auf der einen Seite ein Gefühl der Freude, aber auch der Angst vor dem Ungewissen vermittelte.
„Komm rein, Melissa! Beruhige dich, bitte!“
Meine Mutter kam auf mich zu und in sekundenschnelle war auch sie völlig durchnässt. Für einen Moment herrschte Stille. Hatte ich es mir nur eingebildet? Hatte ich es mir so sehr gewünscht, dass ich anfing zu fantasieren? Langsam zweifelte ich an mir selbst und bemerkte erst nach ein paar Schritten, dass ich mich wieder der offenen Haustür näherte. Doch dann hörte ich ihn wieder! Glasklar, so als wäre er nur ein paar Meter entfernt.
„Mama, da war es schon wieder! Er ist hier irgendwo!“
Ich riss mich los, lief dem anhaltenden Gebell hinterher und mit jedem Schritt hörte es sich näher und vertrauter an. Ich hörte nur die verzweifelten Rufe meiner Mutter, spürte das Dickicht unter meinen nackten Füßen. Ich kämpfte mich durch die Dornbüsche, vorbei an den moosbewachsenen Steinen zu der nahegelegenen Landstraße. Gerade fuhr ein Lastwagen vorbei, als das Gebell verstummte. Ich schaute zur anderen Straßenseite. Nur die Laternenlichter spendete eine schwache Lichtquelle. Doch da stand etwas auf der anderen Seite. Ich konnte nicht erkennen, ob es tatsächlich Sam war. Vorsichtig näherte ich mich der schemenhaften, zweifellos tierischen Gestalt. Schritt für Schritt für Schritt.
„Melissa!“, hörte ich den Schrei meiner Mutter, wandte mich um und sah nur noch die hellen Scheinwerfer auf mich zurasen. Dann wurde alles Schwarz.
„Wach auf, meine Liebe. Na los… Es ist Zeit…“, hörte ich eine warme Stimme sagen. Diese Worte erinnerten mich an die meiner Mutter, an jenem schrecklichen Tag. Zaghaft öffnete ich die Augen und schaute in einen azurblauen, wolkenlosen Himmel. Ich spürte das weiche Gras und die warmen Sonnenstrahlen auf meiner bleichen Haut. Ich setzte mich langsam auf. Mein Kopf schmerzte. Ich ließ meinen Blick wandern. Es war eine unendlich weite Wiese. Ich hörte ein leises Plätschern und ein blumiger Duft zog in meine Nase. Bunte Schmetterlinge flogen umher und in der Ferne spielten zwei kleine Hunde freudig miteinander. War ich im Himmel? So hatte ich ihn mir immer vorgestellt.
Als ich nach rechts schaute, zuckte ich zusammen. Da saß Sam, wenige Zentimeter von mir entfernt. War er es wirklich? Ohne mir in diesem Moment die Frage zu stellen, wer gerade zu mir gesprochen hatte, umschlang ich den breiten Hals meines Hundes und drückte ihn fest an mich. Es fühlte sich an, wie es sich immer angefühlt hatte. Vertraut und voller Liebe. Ein leises Lachen… es war das Lachen eines alten Mannes. Etwas verwirrt, aber immer noch überglücklich, Sam wieder bei mir zu wissen, löste ich die Umarmung und schaute in sein Gesicht.
„Es ist so schön, dich wiederzusehen…“
Meine Augen weiteten sich. Ich schreckte zurück.
„Du kannst reden!?“
Es war eine Mischung aus purer Verwunderung und Freude. Endlich konnte ich mit ihm sprechen! Doch was hatte das alles auf sich? War ich nun tot oder nicht? Man sagte ja, dass man nach dem Tod zu seinen Lieben zurückkehrte. Und an diesem Glauben hielt ich nach wie vor fest.
„Oh, ja. Hier können wir alles machen, was wir möchten. Und die unmöglichsten Dinge können geschehen“, antwortete er.
„B-bin ich tot?“
Dann war es da wieder. Dieses tiefe, leise Lachen.
„Oh nein, liebe Melissa. Ganz und gar nicht. Du lebst. Dank dem Hier und Jetzt.“
Er stand auf und ging voraus. Er hatte schon seit langer Zeit Probleme mit Arthrose in einigen Gelenken, doch nun bewegte er sich wie ein junger Hund, voller Anmut und ohne Schmerzen. Ich stand auf und folgte ihm. Gemeinsam gingen wir über das saftige Grün. Es war ein Ort voller Harmonie. Ich war mir sicher, hier konnte auch die dunkelste Seele ihren Frieden finden.
„Nun… was ist geschehen, Sam? Wieso bist du hier? Und warum bin ich hier? Was hat das alles zu bedeuten?!“
Ruhig antwortete er mir, während seine großen Pfoten förmlich über dem fruchtbaren Boden schwebten: „Es ist eine Parallelwelt, kein Jenseits, in dem Sinne. Kein Jenseits wie ihr Menschen es kennt. Hier leben wir Tiere in Frieden miteinander. Von dem kleinsten Käfer bis hin zum größten Elefant. Wir entscheiden uns im Leben, ob wir hier sein möchten oder an der Seite unserer Menschen, in deiner Welt.“
„Ihr habt die Wahl hier zu leben? Wie kann das sein?“
„Nicht allen von uns ist dieses Tribut gezollt. Viele der verschiedenen Arten würden ein Leben hier bevorzugen und ein Aussterben in deiner Welt bedeuten. Diejenigen, denen dieses Geschenk zuteil wird, können hinübergehen, zu jeder Zeit, wann immer ihnen danach ist. Aber ein Zurück gibt es nicht. Einmal hier, nie wieder fort.“
„Und du hattest die Wahl? Und du hast dich für ein Leben in meiner Welt entschieden?“
Er schaute zu mir auf und seine bernsteinfarbenen Augen strahlten pure Treue aus, als er antwortete: „Ich würde es immer wieder tun. Du bist meine beste Freundin. Du hast mir ein so gutes Leben geschenkt... Es fehlte mir an nichts. Du hast mir alles gegeben, was ich jemals brauchte und wollte. Warum hätte ich gehen sollen?“
Es rührte mich, dass er dieses Paradies für mich aufgegeben hatte.
"Und früher oder später kommt ihr alle an diesen Ort?"
"Nicht alle."
Ob es eine Hölle gab? Einen Ort für bösartige Tiere? Doch ich war überzeugt, dass die Welt der Tiere frei von echtem Hass und Zorn war. Frei von Neid und Egoismus. Völlig fern von allem Bösen. Ich wollte Sam fragen, was mit jenen anderen Tieren geschah, denen ein Leben in diesem Paradies verwehrt blieb. Sam kam mir so unendlich weise vor. Ich war mir sicher, er könnte all meine Fragen beantworten, sei sie noch so unerklärlich. Doch gerade als sich meine Lippen zu einer Frage formten, kamen die beiden Welpen auf uns zu, die ich schon aus der Ferne erspäht hatte. Als sie, wild tobend, nahe bei uns waren, kniete ich mich nieder und streckte meine Finger nach ihnen aus, doch ich fasste ins Leere. Sie schienen mich gar nicht zu bemerken.
„Warum…?“, fragte ich murmelnd vor mich her.
„Es ist eine Parallelwelt. Nichts was du hier siehst ist für dich wirklich. Du dürftest nicht hier sein. Kein Mensch darf das.“
„Aber trotzdem bin ich hier. Du... das alles ist so real! Wie kann das sein? Dich kann ich auch berühren… bitte, sag mir, was geschieht hier?“
„Ich habe dich hergeholt, Melissa, weil ich anderen bewahren möchte, vor dem was mir widerfahren ist. Und ich wollte dir zeigen, dass du keine Trauer empfinden musst, weil ich nicht mehr sichtbar in deiner Mitte bin. Ich werde immer bei dir sein, nur auf eine andere Art. Es war mein größter Wunsch, dir zu zeigen, dass es mir gut geht.“
„Ich danke dir… für alles“, sagte ich, klammerte mich fest an ihn und sog den Duft seines warmen Fells in jede meiner Fasern auf.
„Doch sag mir… wie hast du das gemacht?“
„Mach dir keine Gedanken, Melissa. Das Wie spielt keine Rolle. Du musst mir jetzt zuhören. Es bleibt nicht viel Zeit...“
Seine Worte klangen eindringlich. Die Welt um mich herum wurde unscharf und blasser. Das Bild der vollendeten Harmonie schwand, langsam aber stetig. Die Wiese wirkte nicht mehr saftig Grün. Am Himmel zogen dunkle, unheilvolle Wolken auf und auch Sam verschwand allmählich hinter einem Schleier.
„Hör mir zu, Melissa. Nichts wird dir geschehen, wenn du zurück bist in deiner Welt. Geh nicht über die Straße sondern folge den Rufen deiner Mutter. Frage dich nicht, warum du im Regen stehst, bis du wieder im Haus bist.”
“Aber Sam, ich-”
“Rede nicht, höre zu! Geh am Morgen zu Nachbar Thomas. Er war es... und er wird es wieder tun! Hast du das verstanden, Melissa?“
Ich schaute ihn an, konnte nicht fassen, was er da sagte. Der alte Thomas? Er soll nach dem Leben der Tiere trachten? Er war alt, gebrechlich und pflegte seine schwerkranke Frau bis zu ihrem Tod, liebte die Natur und seinen gepflegten Garten. Doch ich glaubte meinem besten Freund. Natürlich tat ich das!
„Er wird alles abstreiten, doch verfolge ihn am Abend darauf und überzeuge dich selbst… Rette die anderen, denn sie wollen bei ihren Menschen bleiben… in deiner Welt.“
Die Stimme von Sam wurde leiser, bis sie schließlich gänzlich verstummte und ich in Schwärze gehüllt wurde. Ich stand im Nichts. Die Wiese, die tobenden Hunde, das Plätschern des Baches und der Duft des blühenden Lavendel… alles war verschwunden. Die Dunkelheit war zurückgekehrt.
„Sam? Sam, wo bist du!?“, rief ich verzweifelt, doch er konnte mich nicht hören. Dann hörte ich ein lautes Hupen, trat blitzschnell einen Schritt zurück. An mir vorbei fuhr ein Kleinwagen, der mich fast überfahren hätte. Das Herz schlug wild in meiner Brust, doch wie als würde eine Stimme mir zuflüstern, drehte ich mich um, weg von der Straße. Dann sah ich in das Gesicht meines Arbeitskollegen Tim.
"Hallo? Melli? Noch da?"
"Hm?", murmelte ich fragend und fuhr mir an die Schläfe. Da waren sie wieder, diese Kopfschmerzen.
"Oh ja... klar. Alles gut", antwortete ich, griff nach der Kaffeetasse neben meinem Laptop und nippte daran. Bah! Eiskalt.
"Den hast du dir vor gut drei Stunden gezappt. Ich mache mal Schluss. Es ist schon nach Elf. Mach auch Feierabend!"
"Ja, sicher. Ich mache auch nicht mehr lange."
"Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte der süße Lockenkopf, doch ich lehnte höflich ab.
"Nein. Ich mache den Beitrag noch fertig und dann fahre ich nach Hause. Meine Auto steht unten."
Tim nickte und wirkte etwas enttäuscht. Er machte sich schon lange Hoffnungen, obwohl ich glücklich verheiratet und ein kleines Mädchen namens Melinda unser ganzer Stolz war.
"Wehe, wenn ich morgen deinen Kopf vom Laptop hieven muss!", scherzte er lachend, griff nach seinem schwarzen Lederrucksack und verabschiedete sich.
„Er hat es geschafft.“
Ich nickte. Eine unfassbare Traurigkeit machte sich in mir breit. Es war kaum in Worte zu fassen, dieses Gefühl. Als würde man den Boden unter den Füßen verlieren.
„Ich frage mich nur, wer so etwas tut… wer einem Tier das antun kann…“
„Menschen tun fürchterliche Dinge. Dafür gibt es oft keine Erklärung…“
Es war ein Stück Fleischwurst, gefüllt mit kleinen, messerscharfen Rasierklingen, die die inneren Organe von Sam so schwer verletzten… Er hatte es nicht geschafft. Zwölf Jahre. Zwölf Jahre war er an meiner Seite, mein Begleiter, Tag für Tag. Nie war er mir von der Seite gewichen. Immer war er da, hatte mich getröstet und mit mir die schwierigsten Situationen gemeistert. Vielleicht war es töricht, gar naiv, davon zu sprechen, dass er immer „ein offenes Ohr“ für mich hatte. Doch ich wusste, dass es genauso war. Er war ein wahrhaft bester Freund. Mein bester Freund. Sanft strich ich über sein kurzes Fell. Es sah aus als würde er schlafen. Und ich wünschte, es wäre so. Ihn nicht mehr an meiner Seite zu wissen, mit dem Gedanken zu leben, fortan ohne ihn zu sein… Unvorstellbar.
„Ich lasse euch noch ein paar Minuten allein… Soll ich deine Mutter holen?“
Ich schüttelte den Kopf, schluchzte und starrte auf Sams leblosen Körper. Ich wusste eins: Ich wollte nun mit ihm allein sein, auch wenn er seinen Weg zur anderen Seite schon gegangen war.
Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht waren es Sekunden oder einige Minuten. Es fühlte sich nicht genug an. Während ich mit geschlossenen Augen in dem nassen Fell meines Hundes ruhte, hörte ich wie plötzlich die Tür aufging und ich spürte, dass sich eine warme Hand auf meinen Rücken legte.
„Komm, meine Süße…“ sagte eine engelsgleiche Stimme. Es war meine Mutter. Ich wollte nicht gehen und Sam alleine lassen, bis mein Vater ihn später abholte.
„Es ist Zeit zu gehen… Komm…“
Der leichte Druck auf meiner Schulter schob mich langsam von ihm fort. Weinend lehnte ich mich an meine Mutter, die gemeinsam mit mir die Praxis verließ.
Es vergingen Tage. Schreckliche Tage. Jeden Morgen ging ich an sein Grab in unserem großen, blühenden Garten. Und jede einzelne Blüte, jeder Grashalm, jeder Quadratzentimeter, auf dem er sich bewegt und jeder Ast an dem er geschnuppert hatte, erinnerte mich an ihn. Die Zeit heilte keine Wunden. Dieser Tag würde auf ewig eine klaffende Wunde hinterlassen. Da war ich mir sicher.
Eines Abends - ich wusste noch genau, dass es ein regnerischer Samstag war - hörte ich ein Bellen. Es war nicht irgendein Bellen. Es hörte sich nach ihm an. Im Dämmerschlaf rappelte ich mich langsam auf, streckte mir die Müdigkeit aus den Gliedern und rieb mir meine glasigen Augen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Traum, doch als ich zunehmend wacher wurde, mehr und mehr zu Sinnen kam, da hörte ich es wieder, dieses Gebell. Das konnte nicht sein! Er war doch tot! Ich sprang auf, stürmte aus meinem Zimmer, die Holztreppen hinab durchs Wohnzimmer, hinaus aus der Tür und in den strömenden Regen hinein. Kurz darauf rief meine Mutter: „Hey, Melissa! Wo willst du denn hin!?“
Hektisch wandte ich mich zu ihr. Sie stand in der Tür, hatte ihre graue Strickweste wärmend um ihren zarten Körper geschlungen, damit sie nicht fror. Dann hörte ich es wieder.
„Mama! Hörst du das nicht!? Es ist Sam! Er ist wieder da!“
„Melissa, wovon redest du!? Ich höre nichts! Komm rein! Du wirst dir noch den Tod holen!“
Doch da war es schon wieder! Ich erkannte seine Stimme unter tausend anderen. Er war es! Zweifellos!
„Da war es schon wieder! Mama! Hörst du ihn denn nicht!?“, fragte ich, und sicher konnte man die Verzweiflung hören, die aus mir sprach. Meine Mutter schaute mich nur entsetzt an, während das Wasser in Strömen auf mich herab prasselte. Ich spürte die langen Strähnen, die an meinen Wangen klebten, und ich zitterte wie Espenlaub. Doch es war mir egal. Hektisch sah ich mich um, voller Erwartung, doch da war nichts. Niemand. Nur sein Gebell, welches durch die dunkle Nacht hallte, und mir auf der einen Seite ein Gefühl der Freude, aber auch der Angst vor dem Ungewissen vermittelte.
„Komm rein, Melissa! Beruhige dich, bitte!“
Meine Mutter kam auf mich zu und in sekundenschnelle war auch sie völlig durchnässt. Für einen Moment herrschte Stille. Hatte ich es mir nur eingebildet? Hatte ich es mir so sehr gewünscht, dass ich anfing zu fantasieren? Langsam zweifelte ich an mir selbst und bemerkte erst nach ein paar Schritten, dass ich mich wieder der offenen Haustür näherte. Doch dann hörte ich ihn wieder! Glasklar, so als wäre er nur ein paar Meter entfernt.
„Mama, da war es schon wieder! Er ist hier irgendwo!“
Ich riss mich los, lief dem anhaltenden Gebell hinterher und mit jedem Schritt hörte es sich näher und vertrauter an. Ich hörte nur die verzweifelten Rufe meiner Mutter, spürte das Dickicht unter meinen nackten Füßen. Ich kämpfte mich durch die Dornbüsche, vorbei an den moosbewachsenen Steinen zu der nahegelegenen Landstraße. Gerade fuhr ein Lastwagen vorbei, als das Gebell verstummte. Ich schaute zur anderen Straßenseite. Nur die Laternenlichter spendete eine schwache Lichtquelle. Doch da stand etwas auf der anderen Seite. Ich konnte nicht erkennen, ob es tatsächlich Sam war. Vorsichtig näherte ich mich der schemenhaften, zweifellos tierischen Gestalt. Schritt für Schritt für Schritt.
„Melissa!“, hörte ich den Schrei meiner Mutter, wandte mich um und sah nur noch die hellen Scheinwerfer auf mich zurasen. Dann wurde alles Schwarz.
„Wach auf, meine Liebe. Na los… Es ist Zeit…“, hörte ich eine warme Stimme sagen. Diese Worte erinnerten mich an die meiner Mutter, an jenem schrecklichen Tag. Zaghaft öffnete ich die Augen und schaute in einen azurblauen, wolkenlosen Himmel. Ich spürte das weiche Gras und die warmen Sonnenstrahlen auf meiner bleichen Haut. Ich setzte mich langsam auf. Mein Kopf schmerzte. Ich ließ meinen Blick wandern. Es war eine unendlich weite Wiese. Ich hörte ein leises Plätschern und ein blumiger Duft zog in meine Nase. Bunte Schmetterlinge flogen umher und in der Ferne spielten zwei kleine Hunde freudig miteinander. War ich im Himmel? So hatte ich ihn mir immer vorgestellt.
Als ich nach rechts schaute, zuckte ich zusammen. Da saß Sam, wenige Zentimeter von mir entfernt. War er es wirklich? Ohne mir in diesem Moment die Frage zu stellen, wer gerade zu mir gesprochen hatte, umschlang ich den breiten Hals meines Hundes und drückte ihn fest an mich. Es fühlte sich an, wie es sich immer angefühlt hatte. Vertraut und voller Liebe. Ein leises Lachen… es war das Lachen eines alten Mannes. Etwas verwirrt, aber immer noch überglücklich, Sam wieder bei mir zu wissen, löste ich die Umarmung und schaute in sein Gesicht.
„Es ist so schön, dich wiederzusehen…“
Meine Augen weiteten sich. Ich schreckte zurück.
„Du kannst reden!?“
Es war eine Mischung aus purer Verwunderung und Freude. Endlich konnte ich mit ihm sprechen! Doch was hatte das alles auf sich? War ich nun tot oder nicht? Man sagte ja, dass man nach dem Tod zu seinen Lieben zurückkehrte. Und an diesem Glauben hielt ich nach wie vor fest.
„Oh, ja. Hier können wir alles machen, was wir möchten. Und die unmöglichsten Dinge können geschehen“, antwortete er.
„B-bin ich tot?“
Dann war es da wieder. Dieses tiefe, leise Lachen.
„Oh nein, liebe Melissa. Ganz und gar nicht. Du lebst. Dank dem Hier und Jetzt.“
Er stand auf und ging voraus. Er hatte schon seit langer Zeit Probleme mit Arthrose in einigen Gelenken, doch nun bewegte er sich wie ein junger Hund, voller Anmut und ohne Schmerzen. Ich stand auf und folgte ihm. Gemeinsam gingen wir über das saftige Grün. Es war ein Ort voller Harmonie. Ich war mir sicher, hier konnte auch die dunkelste Seele ihren Frieden finden.
„Nun… was ist geschehen, Sam? Wieso bist du hier? Und warum bin ich hier? Was hat das alles zu bedeuten?!“
Ruhig antwortete er mir, während seine großen Pfoten förmlich über dem fruchtbaren Boden schwebten: „Es ist eine Parallelwelt, kein Jenseits, in dem Sinne. Kein Jenseits wie ihr Menschen es kennt. Hier leben wir Tiere in Frieden miteinander. Von dem kleinsten Käfer bis hin zum größten Elefant. Wir entscheiden uns im Leben, ob wir hier sein möchten oder an der Seite unserer Menschen, in deiner Welt.“
„Ihr habt die Wahl hier zu leben? Wie kann das sein?“
„Nicht allen von uns ist dieses Tribut gezollt. Viele der verschiedenen Arten würden ein Leben hier bevorzugen und ein Aussterben in deiner Welt bedeuten. Diejenigen, denen dieses Geschenk zuteil wird, können hinübergehen, zu jeder Zeit, wann immer ihnen danach ist. Aber ein Zurück gibt es nicht. Einmal hier, nie wieder fort.“
„Und du hattest die Wahl? Und du hast dich für ein Leben in meiner Welt entschieden?“
Er schaute zu mir auf und seine bernsteinfarbenen Augen strahlten pure Treue aus, als er antwortete: „Ich würde es immer wieder tun. Du bist meine beste Freundin. Du hast mir ein so gutes Leben geschenkt... Es fehlte mir an nichts. Du hast mir alles gegeben, was ich jemals brauchte und wollte. Warum hätte ich gehen sollen?“
Es rührte mich, dass er dieses Paradies für mich aufgegeben hatte.
"Und früher oder später kommt ihr alle an diesen Ort?"
"Nicht alle."
Ob es eine Hölle gab? Einen Ort für bösartige Tiere? Doch ich war überzeugt, dass die Welt der Tiere frei von echtem Hass und Zorn war. Frei von Neid und Egoismus. Völlig fern von allem Bösen. Ich wollte Sam fragen, was mit jenen anderen Tieren geschah, denen ein Leben in diesem Paradies verwehrt blieb. Sam kam mir so unendlich weise vor. Ich war mir sicher, er könnte all meine Fragen beantworten, sei sie noch so unerklärlich. Doch gerade als sich meine Lippen zu einer Frage formten, kamen die beiden Welpen auf uns zu, die ich schon aus der Ferne erspäht hatte. Als sie, wild tobend, nahe bei uns waren, kniete ich mich nieder und streckte meine Finger nach ihnen aus, doch ich fasste ins Leere. Sie schienen mich gar nicht zu bemerken.
„Warum…?“, fragte ich murmelnd vor mich her.
„Es ist eine Parallelwelt. Nichts was du hier siehst ist für dich wirklich. Du dürftest nicht hier sein. Kein Mensch darf das.“
„Aber trotzdem bin ich hier. Du... das alles ist so real! Wie kann das sein? Dich kann ich auch berühren… bitte, sag mir, was geschieht hier?“
„Ich habe dich hergeholt, Melissa, weil ich anderen bewahren möchte, vor dem was mir widerfahren ist. Und ich wollte dir zeigen, dass du keine Trauer empfinden musst, weil ich nicht mehr sichtbar in deiner Mitte bin. Ich werde immer bei dir sein, nur auf eine andere Art. Es war mein größter Wunsch, dir zu zeigen, dass es mir gut geht.“
„Ich danke dir… für alles“, sagte ich, klammerte mich fest an ihn und sog den Duft seines warmen Fells in jede meiner Fasern auf.
„Doch sag mir… wie hast du das gemacht?“
„Mach dir keine Gedanken, Melissa. Das Wie spielt keine Rolle. Du musst mir jetzt zuhören. Es bleibt nicht viel Zeit...“
Seine Worte klangen eindringlich. Die Welt um mich herum wurde unscharf und blasser. Das Bild der vollendeten Harmonie schwand, langsam aber stetig. Die Wiese wirkte nicht mehr saftig Grün. Am Himmel zogen dunkle, unheilvolle Wolken auf und auch Sam verschwand allmählich hinter einem Schleier.
„Hör mir zu, Melissa. Nichts wird dir geschehen, wenn du zurück bist in deiner Welt. Geh nicht über die Straße sondern folge den Rufen deiner Mutter. Frage dich nicht, warum du im Regen stehst, bis du wieder im Haus bist.”
“Aber Sam, ich-”
“Rede nicht, höre zu! Geh am Morgen zu Nachbar Thomas. Er war es... und er wird es wieder tun! Hast du das verstanden, Melissa?“
Ich schaute ihn an, konnte nicht fassen, was er da sagte. Der alte Thomas? Er soll nach dem Leben der Tiere trachten? Er war alt, gebrechlich und pflegte seine schwerkranke Frau bis zu ihrem Tod, liebte die Natur und seinen gepflegten Garten. Doch ich glaubte meinem besten Freund. Natürlich tat ich das!
„Er wird alles abstreiten, doch verfolge ihn am Abend darauf und überzeuge dich selbst… Rette die anderen, denn sie wollen bei ihren Menschen bleiben… in deiner Welt.“
Die Stimme von Sam wurde leiser, bis sie schließlich gänzlich verstummte und ich in Schwärze gehüllt wurde. Ich stand im Nichts. Die Wiese, die tobenden Hunde, das Plätschern des Baches und der Duft des blühenden Lavendel… alles war verschwunden. Die Dunkelheit war zurückgekehrt.
„Sam? Sam, wo bist du!?“, rief ich verzweifelt, doch er konnte mich nicht hören. Dann hörte ich ein lautes Hupen, trat blitzschnell einen Schritt zurück. An mir vorbei fuhr ein Kleinwagen, der mich fast überfahren hätte. Das Herz schlug wild in meiner Brust, doch wie als würde eine Stimme mir zuflüstern, drehte ich mich um, weg von der Straße. Dann sah ich in das Gesicht meines Arbeitskollegen Tim.
"Hallo? Melli? Noch da?"
"Hm?", murmelte ich fragend und fuhr mir an die Schläfe. Da waren sie wieder, diese Kopfschmerzen.
"Oh ja... klar. Alles gut", antwortete ich, griff nach der Kaffeetasse neben meinem Laptop und nippte daran. Bah! Eiskalt.
"Den hast du dir vor gut drei Stunden gezappt. Ich mache mal Schluss. Es ist schon nach Elf. Mach auch Feierabend!"
"Ja, sicher. Ich mache auch nicht mehr lange."
"Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte der süße Lockenkopf, doch ich lehnte höflich ab.
"Nein. Ich mache den Beitrag noch fertig und dann fahre ich nach Hause. Meine Auto steht unten."
Tim nickte und wirkte etwas enttäuscht. Er machte sich schon lange Hoffnungen, obwohl ich glücklich verheiratet und ein kleines Mädchen namens Melinda unser ganzer Stolz war.
"Wehe, wenn ich morgen deinen Kopf vom Laptop hieven muss!", scherzte er lachend, griff nach seinem schwarzen Lederrucksack und verabschiedete sich.
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