Reinhold Messner stand am geöffneten Fenster und sah hinunter auf die leere Straße.
Vorbei … Wenn es doch schon vorbei wäre …
Erst kürzlich hatte er in einer Zeitschrift gelesen, dass es beim Sprung aus großer Höhe selten der Aufprall ist, der einen tötete. Es passierte oft, dass das Herz schon vorher stehen blieb. Er hatte sich das Foto unter dem Text lange angeschaut. Es zeigte eine Frau, die gerade in den Tod gesprungen war. Sie lag in einer riesigen Blutlache. Die Arme waren ausgestreckt, als ob sie den Zementboden umarmen wollten und die Beine seltsam verrenkt.
Reinhold Messner zögerte und schaute sich in der tristen Stube um. Alles schwieg einsam vor sich hin. Das kleine Weihnachtsbäumchen hatte es nicht geschafft ihn aufzuheitern. Darunter lag ein Päckchen von seiner einzigen Tochter Anne. Er hat es nicht geöffnet. Im letzten Jahr haben sie ihn an den Feiertagen besucht. Vor einem halben Jahr ist Anne mit ihrer Familie nach Australien ausgewandert. Er stieg auf das Fensterbrett. Nein, er hatte so ganz und gar nichts gemeinsam mit seinem Namensvetter. Nie hatte er einen Berg bestiegen, geschweige denn vierzehn Achttausender. Seine Finger klammerten sich verzweifelt am Fensterrahmen fest. Zögernd schob er die Füße er ein paar Millimeter nach vorn. Er schloss die Augen und Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Er sah nach oben zu den Sternen, die am klaren Nachthimmel strahlten. Ein Stern ist Oma Gerda. Das hatte er seinen Enkeln Oskar und Emma erzählt, um sie zu trösten. Sie hatten ihn mit leuchtenden Augen angesehen. Sie konnten noch staunen, über ein Leben, das zu einem Stern wurde, über Raupen, die sich in Schmetterlinge verwandelten und über seine Kunststücke. Er konnte mit fünf Bällen jonglieren und Geldstücke aus den Ohren der Kinder zaubern.
War das seine Klingel? Wer läutete denn noch um die Zeit an seiner Tür?
Reinhold Messner stieg auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Boden. Er ging zur Tür und schaute durch den Spion. Da stand ein etwa zehnjähriger Junge mit verweinten Augen. Reinhold öffnete und der Junge fragte in gebrochenem Deutsch.
„Würden Sie mir einen Stein abkaufen?“
„Einen Stein?“
„Ja, soll ich Ihnen meine Steine mal zeigen?“
„Na, komm mal rein Kleiner. Wie heißt du denn?“
„Zahyd“, antwortet der Junge während er die Wohnung betrat.
Dann holte er aus seiner Jackentasche drei Steine und legte sie auf den Tisch. Es waren dunkelgraue, glatte, runde Steine, bemalt mit verschiedenen Weihnachtsmotiven.
„Was soll denn ein Stein kosten?“
„Einen Euro.“
„Dann nehme ich den mit dem Engel“, sagte Reinhold und gab dem Kind zwei Fünfzigcentstücke.
„Wo kommst du denn her Zahyd?“
„Wir wohnen drüben in den Kasernen. Meine Mama, mein Papa, meine drei Schwestern und ich,“ erzählte er. „Wir sind vor vier Jahren aus Syrien hierher gekommen.“
„Hast du schon ein Weihnachtsgeschenk bekommen?“
„Nein, wir feiern kein Weihnachten. Haben Sie ein Geschenk bekommen?“
„Ja, ein Päckchen. Es liegt da unterm Weihnachtsbaum.“
„Sie haben es ja noch gar nicht aufgemacht?“
Reinhold Messner holt das Päckchen und eine Schere. Dann schauten beide gespannt in den Karton.
Kekse, eine neue Pfeife und ein kleines Fotoalbum mit Bildern von Emma und Oskar.
„Möchtest du einen Kakao, Zahyd ?“ fragt der alte Mann.
Zahyd nickte und dann tranken beide Kakao, schauten Fotos an und aßen die Kekse von Anne.
„Ich muss los“, Zahyd sprang auf. „Meine Mama wird warten.“
„Es hat mich gefreut. Komm mal wieder vorbei, Zahyd. Wofür brauchst du eigentlich das Geld?“
„Für meinen Papa. Ich möchte ihm gern eine Reise schenken. Dahin wo es warm ist.
Er sagt immer, es ist ihm zu kalt in Deutschland, nicht nur im Winter.“
Reinhold Messner schloss die Tür hinter dem Jungen und ging zurück ins Wohnzimmer.
Er nahm den Stein in die Hand und ihm war, als wäre gerade ein Engel bei ihm gewesen.
Vorbei … Wenn es doch schon vorbei wäre …
Erst kürzlich hatte er in einer Zeitschrift gelesen, dass es beim Sprung aus großer Höhe selten der Aufprall ist, der einen tötete. Es passierte oft, dass das Herz schon vorher stehen blieb. Er hatte sich das Foto unter dem Text lange angeschaut. Es zeigte eine Frau, die gerade in den Tod gesprungen war. Sie lag in einer riesigen Blutlache. Die Arme waren ausgestreckt, als ob sie den Zementboden umarmen wollten und die Beine seltsam verrenkt.
Reinhold Messner zögerte und schaute sich in der tristen Stube um. Alles schwieg einsam vor sich hin. Das kleine Weihnachtsbäumchen hatte es nicht geschafft ihn aufzuheitern. Darunter lag ein Päckchen von seiner einzigen Tochter Anne. Er hat es nicht geöffnet. Im letzten Jahr haben sie ihn an den Feiertagen besucht. Vor einem halben Jahr ist Anne mit ihrer Familie nach Australien ausgewandert. Er stieg auf das Fensterbrett. Nein, er hatte so ganz und gar nichts gemeinsam mit seinem Namensvetter. Nie hatte er einen Berg bestiegen, geschweige denn vierzehn Achttausender. Seine Finger klammerten sich verzweifelt am Fensterrahmen fest. Zögernd schob er die Füße er ein paar Millimeter nach vorn. Er schloss die Augen und Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Er sah nach oben zu den Sternen, die am klaren Nachthimmel strahlten. Ein Stern ist Oma Gerda. Das hatte er seinen Enkeln Oskar und Emma erzählt, um sie zu trösten. Sie hatten ihn mit leuchtenden Augen angesehen. Sie konnten noch staunen, über ein Leben, das zu einem Stern wurde, über Raupen, die sich in Schmetterlinge verwandelten und über seine Kunststücke. Er konnte mit fünf Bällen jonglieren und Geldstücke aus den Ohren der Kinder zaubern.
War das seine Klingel? Wer läutete denn noch um die Zeit an seiner Tür?
Reinhold Messner stieg auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Boden. Er ging zur Tür und schaute durch den Spion. Da stand ein etwa zehnjähriger Junge mit verweinten Augen. Reinhold öffnete und der Junge fragte in gebrochenem Deutsch.
„Würden Sie mir einen Stein abkaufen?“
„Einen Stein?“
„Ja, soll ich Ihnen meine Steine mal zeigen?“
„Na, komm mal rein Kleiner. Wie heißt du denn?“
„Zahyd“, antwortet der Junge während er die Wohnung betrat.
Dann holte er aus seiner Jackentasche drei Steine und legte sie auf den Tisch. Es waren dunkelgraue, glatte, runde Steine, bemalt mit verschiedenen Weihnachtsmotiven.
„Was soll denn ein Stein kosten?“
„Einen Euro.“
„Dann nehme ich den mit dem Engel“, sagte Reinhold und gab dem Kind zwei Fünfzigcentstücke.
„Wo kommst du denn her Zahyd?“
„Wir wohnen drüben in den Kasernen. Meine Mama, mein Papa, meine drei Schwestern und ich,“ erzählte er. „Wir sind vor vier Jahren aus Syrien hierher gekommen.“
„Hast du schon ein Weihnachtsgeschenk bekommen?“
„Nein, wir feiern kein Weihnachten. Haben Sie ein Geschenk bekommen?“
„Ja, ein Päckchen. Es liegt da unterm Weihnachtsbaum.“
„Sie haben es ja noch gar nicht aufgemacht?“
Reinhold Messner holt das Päckchen und eine Schere. Dann schauten beide gespannt in den Karton.
Kekse, eine neue Pfeife und ein kleines Fotoalbum mit Bildern von Emma und Oskar.
„Möchtest du einen Kakao, Zahyd ?“ fragt der alte Mann.
Zahyd nickte und dann tranken beide Kakao, schauten Fotos an und aßen die Kekse von Anne.
„Ich muss los“, Zahyd sprang auf. „Meine Mama wird warten.“
„Es hat mich gefreut. Komm mal wieder vorbei, Zahyd. Wofür brauchst du eigentlich das Geld?“
„Für meinen Papa. Ich möchte ihm gern eine Reise schenken. Dahin wo es warm ist.
Er sagt immer, es ist ihm zu kalt in Deutschland, nicht nur im Winter.“
Reinhold Messner schloss die Tür hinter dem Jungen und ging zurück ins Wohnzimmer.
Er nahm den Stein in die Hand und ihm war, als wäre gerade ein Engel bei ihm gewesen.