In der offenen Abteilung

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Als mein Vater noch lebte, habe ich ihn zweimal im Jahr da unten in der Anstalt besucht. Es sind fast tausend Kilometer von Hamburg. Wenn es ihm gut ging, half er in der Gärtnerei. Ich musste dann nach meiner Ankunft eine Weile auf ihn warten. Einmal – es war September – ging ich hinaus in den Park.

Die Anstalt ist in einem früheren Kloster untergebracht. Wo ursprünglich Mönche lebten, bringt die moderne Zeit die unter, die sie für unbrauchbar hält. Man kann die alte Kirche besichtigen, sie ist ein wenig düster. Schöner ist die Bibliothek und berühmt ihr Deckengemälde. Seinetwegen kommen viele Touristen und verrenken sich die Hälse. Die Mitte des Saales ist von weiß lackierten Stühlen blockiert. Auf ihnen sitzen die Patienten, wenn Messe gefeiert wird. Übrigens sind die Bücher alle fort. Hinter den bemalten Schranktüren ist nichts.

Der Park ist für jeden zugänglich. Die Anstaltsgebäude sind zwanglos in ihm verteilt. Damals war warmes, trockenes Spätsommerwetter, es waren viele Besucher im Park. Ich fand eine Bank für mich allein und wollte Zeitung lesen. Es kam nicht dazu. Eine ältere Frau zog es in meine Nähe, sie ließ sich mit muffigem Gruß links von mir nieder. Ich rückte ein wenig zur Seite, gerade so viel, dass sie es nicht als Zurückweisung auffassen konnte. Ich betrachtete sie unauffällig: graues Hauskleid, Knoten im Nacken, derbe Schuhe.

Überraschend für mich begann sie ein Gespräch: „Wohnen Sie auch hier?“ - Wie sollte ich das verstehen? „Ja, aber nur für eine Nacht, im Gasthof. Und Sie?“ – Es stellte sich heraus, dass sie gewöhnlich in einem Tübinger Altersheim lebte. Man habe sie hierher verschickt, zur Erholung. Nach vier Wochen dürfe sie heim nach Tübingen, ganz bestimmt.

„Sind Sie ein Lehrer?“ fragte sie dann. Ich musste verneinen. Sie wiederholte trotzdem: „Ein Lehrer … Sie müssen ein guter Mensch sein.“ Ich machte eine abwehrende Geste und kam mir unsauber vor. In mir ein Bedürfnis nach Seife und Händewaschen.

Auf einmal nahm auf meiner anderen Seite noch eine Dame Platz, eine Vierzigerin, adrett gekleidet und noch ziemlich rosig. Sie jedenfalls war zweifellos eine Touristin. Die beiden Frauen begannen sich zu mustern, die linke tat es feindselig, die rechte zurückhaltend. Da stand die Ältere wortlos auf und ging zu einer anderen Bank. Von dort aus beobachtete sie den Fortgang der Ereignisse.

„Entschuldigung, dass ich gerade hier Platz genommen habe“ - ich rückte fast unmerklich ein wenig nach links -, aber ich sehe Sie hier zum ersten Mal. Wohnen Sie jetzt auch hier?“ Missverständnisse schienen dort in der Luft zu liegen.

Wir stellten beide alles richtig. Sie sagte mir, sie mache nie ein Geheimnis daraus, wenn sie zum Beispiel draußen im Gasthof oder auf einer Veranstaltung einen Fremden kennen lerne. Man erfahre es ja doch … Seit vierzehn Jahren lebe sie schon hier unter den mehr als tausend Patienten, vor vierzehn Jahren sei sie aus Göppingen hierher gebracht worden. In Göppingen lebe noch immer ihre Schwester, die sich gar nicht für sie interessiere. Vor drei Jahren sei sie zuletzt auf Besuch gekommen und sie sei so kalt gewesen …

„Es geht mir nicht schlecht, nur eine richtige Arbeit fehlt mir. Ich würde so gern arbeiten … Manchmal habe ich ja diese Anfälle, zuerst ist es ein leichter Schwindel, dann ein richtiger Rausch. Und später erscheint mir die Jungfrau Maria … Die Schwester Oberin sorgt dann dafür, dass ich allein in einem besonderen Raum bleibe, und die Schwester Oberin hat auch ein Mittel, eine Spritze, dann bin ich bald wieder ganz normal, wie jetzt … Nur selten dauert es länger an, dabei ist mir auch unser Herr Jesus schon erschienen. Ich habe mich vor ihn hingekniet, er hat mir die Hand mit dem Ring gereicht, ich habe den Ring geküsst …“

Sie war lebhaft geworden und kam mir allmählich näher. Ich meinerseits rückte langsam nach links und hatte schon fast das Ende der Bank erreicht, als der Wärter mit meinem Vater kam: „Herr Abendschön …“

Wir standen auf. Ich nickte ihr zu und wandte mich von ihr ab und wollte zu meinem Vater hinüber.

Im Fortgehen rief sie meinem Vater zu: „Er ist dein Sohn, ja? Ich habe es nicht gewusst, aber ich habe ihn erkannt.“

Da ging ich rasch mit meinem Vater tiefer in den Park hinein.
 

Homosapiens

Mitglied
Hallo Arno Abendschön, ich bewundere Deine "Texte zwischen den Generationen", die menschliche Verfasstheiten ungeschönt benennen und gleichzeitig stets eine freischwebende Aufmerksamkeit für eigene Gewissenskonflikte bewahren. Diese unaufgeregten Texte sind aus unterschiedlichen Perspektiven lesbar, ohne Moral zu predigen. Sie erreichen mich mühelos und punktgenau. Ich würde eine sehr hohe Punktzahl vergeben, wenn ich wüßte, daß sie Deinen Text erreicht. Das System mit "Systemstimme", "Stimmgewicht" und "Zugehörigkeitsdauer" ist für mich leider unberechenbar und nicht durchschaubar. Manchmal bewirkt die beabsichtigte Bewertung offenbar das Gegenteil. Bleibt mir, Dir meine Anerkennung auszusprechen. LG Homosapiens
 
Danke, Homosapiens, für die Wertschätzung. So gut formuliert hat sie noch mehr Gewicht als eine hohe Punktzahl im Rahmen von Bewertung.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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