In der Welt junger Schwäne

XRay

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Auch heute, am ersten Ostertag, lag im Posteingang Jean-Pauls „Wort zum Wochenende“, das unser ehemaliger Klassenkamerad jeden Sonntag an Peter und mich verschickte.
Diesmal war es mit dem Betreff „Frostern" ein Zitat von G.B. Shaw:
„Wie alt sind Sie?"
„In 100 Jahren werden wir beide gleich alt sein“.
Ich war überrascht, als kurz danach eine weitere Email von ihm einging, als „Frecher Nachsatz, nur für Peter!“ bezeichnet, mit dem Inhalt:
„Die Eier, die wir heute suchen, sind näher als gedacht. JP“.
Das war ganz offensichtlich nicht für mich bestimmt! Er hatte wohl vergessen, mich aus dem Verteiler zu streichen, und da auch Peter den Irrtum nicht bemerkte wurde ich unfreiwillig Zeuge des folgenden - privat gedachten - Schriftwechsels zwischen den beiden.
- Peter:
„Ich suche keine Eier mehr wie auch bald keine Golfbälle im Busch.“
- JP:
„Poor boy! Wirklich auch keine Golfbälle mehr?? Dann bleibt Dir ja fast nur noch die „Suche nach der verlorenen Zeit“! Sei´s drum! Wie du weißt habe ich nie Golfbälle in Büschen gesucht, und suche in freier Natur Büsche nur noch als Deckung beim Abwurf drängender Lasten im Unterleib, die leider immer häufiger mein Wohlbefinden beeinträchtigen.“
- Peter:
„Deine Formulierungen sind immer wieder ein Genuss. Nur: stehend oder in der Hocke, fragt besorgt P."
- JP:
„Deine Frage ist nicht leicht zu beantworten. Zunächst ist zu klären, ob die abzuwerfende Last - mehr oder weniger - fest oder flüssig ist.
Ich will zunächst - immer unter dem Aspekt der Ablage in freier Natur! - die flüssigen Absonderungen betrachten.
Nach wie vor ist es ein Privileg des Mannes, Flüssigkeiten, die am Ende oder am Anfang biologischer Prozesse stehen, anders als die Frau, in aufrechter Körperhaltung absondern zu können. Die Natur hat ihn dafür, ebenfalls im Unterschied zu der Frau, mit einem einzigen Dränagekanal ausgestattet, der, abhängig vom Gelände, Lichtverhältnissen und Witterungsbedingungen in der Regel die Entgiftung, aber bei jungen Leuten durchaus auch schöpferische Aktionen ermöglicht. Die senkrechte Position ermöglicht es dem Mann in beiden Fällen, sich unabhängig von der gerade laufenden Aktion notfalls rasch Feinden oder Konkurrenten zum Kampf zu stellen. Nebenbei ist auch hier die Evolution klüger als der Zeitgeist, der eine brachiale Nivellierung der Geschlechtsunterschiede nicht nur propagiert sondern aggressiv verfolgt.
Dazu ein Beispiel. Im Zuge zunehmender ‚Hegemonia estrogenica finde ich in Häusern, in denen ich zu Gast bin, auf der Toilette nicht selten ein mit Tesafilm an die Wand über der Schüssel geheftetes Din-A4-Blatt mit dem Hinweis, dass „Mann“ im Sitzen pinkeln soll. In einem Fall war diese Aufforderung sogar mit einem roten Filzstift auf die Innenseite des Klodeckels geschrieben!
Ich betrachte das als eine Respektlosigkeit gegenüber dem göttlichen Schöpfungsakt, der in der Evolution sichtbar wird, eine - im wörtlichen Sinn - Herabwürdigung der männlichen Anatomie. Ich brauche nicht zu sagen, dass ich einer solchen Nötigung selbstverständlich nie Folge leiste.
Die Entsorgung fester Nahrungsbestandteile sollte man in unserem Kulturkreis nach Möglichkeit nur in den dafür vorgesehenen Kabinetten vornehmen. In freier Natur könnte es zu optisch, akustisch oder olfaktorisch peinlichen Situationen kommen.“ Soweit der Briefwechsel.
Ich fiel in Grübeleien.
„Göttlicher Schöpfungsakt“: purer Sarkasmus des Agnostikers Jean-Paul.
Der „Drainagekanal des Mannes“...
Die Themen waren immer noch die gleichen, wie in unserer Schulzeit, nur der Stil war akademischer geworden. Die beiden würden im Boden versinken, wenn sie erfuhren, dass auch ich diese E-Mails erhalten hatte. Schon in der Sekunda, als alle mit 13/14 voll in der Pubertät stranden, hatten die Klassenkameraden ihre ständigen schlüpfrigen und zotigen Gespräche unterlassen, wenn mein Bruder Sam und ich dabei waren, da sie wussten, dass ich, mehr noch als mein Bruder, diese Reden nicht mochte.
„Künstlerpech! Poor JP“, dachte ich, bevor ich mich weiter in Bilder aus unserer Zeit im Knaben-Gymnasium des „Bischöflichen Collegium Cornelianum“ nahe der belgischen Grenze verlor.
Vor fast 60 Jahren, im Februar 1964, hatten dort 15 Abiturienten, darunter mein Bruder Sam und ich, das „Zeugnis der Reife“ erhalten und wurden ins „Leben entlassen“, wie das damals hieß. Die meisten von und entschieden sich für Jura oder ein naturwissenschaftliches Studienfach, lediglich drei von ihnen fühlten sich zum Seelsorger berufen, eine recht magere Ausbeute in Anbetracht des expliziten Erziehungsziels der Einrichtung, den Priesternachwuchs zu fördern.
Die Aufnahme in das Internat und das Gymnasium des Collegiums waren damals streng auf katholische Schüler beschränkt, die zudem obligat im Internat wohnen mussten. Ausnahmen von dieser Regel hatte es bis dahin in der langen Geschichte der Einrichtung noch nie gegeben.
(„Externe“ wurden erst nach unserer Zeit zugelassen und die Öffnung des Gymnasiums für Mädchen erfolgte erst um das Jahr 2000.)
Nur aufgrund einer Ausnahmegenehmigung von höchster Stelle, des Erzbischofs von Aachen, ermöglichte Sam und mir, als Kindern einer jüdischen Familie den Besuch des Gymnasiums.
Ausschlaggebend für die Erlaubnis war wohl vor allem die Geschichte unserer Familie. Wahrscheinlich sollte auf diese Weise eine Art von Wiedergutmachung für die zweifelhafte Haltung der katholischen Kirche in der Hitlerzeit geleistet werden.
Daneben spielte aber auch die Unterstützung durch die Verwaltung der Stadt, zu der das Kollegium gehörte, eine gewisse Rolle. Mein Vater hatte sich dort in seiner Stellung als Chefarzt des Krankenhauses und durch seine karitative Tätigkeit großes Ansehen erworben.
Das bischöfliche Ordinariat stellte allerdings Bedingungen für unsere Teilnahme am Unterricht. Nach Ende des Unterrichts mussten wir das Gelände der Schule verlassen, und unabhängig von unseren Leistungen immer dieselbe Klasse besuchen. Eine Aufnahme in das Internat wurde ausdrücklich ausgeschlossen, da das Konzept des Collegium primär auf die Heranbildung priesterlichen Nachwuchses abzielte und ein großer Teil des täglichen Lebens im Internat geistigen Übungen vorbehalten war. Konsequenterweise wurden wir vom Religionsunterricht befreit, und auch vom Sportunterricht am Samstagvormittag. Meine Eltern waren zwar orthodoxe Juden, nahmen es aber mit den religiösen Vorschriften nicht so genau wie meine Großeltern. Diese hätten dei Teilnahme am Sportunterricht am Sabbat als Verstoß gegen die religiösen Vorschriften gesehen.
Diese Bedingungen entsprachen insgesamt aber auch den Interessen meiner Eltern, die keinesfalls wollten, dass ihre Kinder religiös indoktriniert wurden, womöglich gar konvertierten.
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Unser Großvater hatte während der Weimarer Republik in Aachen in langer Familientradition ein Juweliergeschäft geführt. Wegen der politischen Verhältnisse hatte er 1937 seinen wertvollen Warenbestand nach Buenos Aires verschifft und war mit meiner Großmutter, meinem damals 19-jährigen Vater, und seiner jüngeren Schwester Sara, über Antwerpen nach London emigriert.
Dort lebten Verwandte, die wie mein Großvater zu dem verzweigten Familienunternehmen gehörten, das Handel mit Diamanten und Edelmetallen, insbesondere Gold, in Kanada, Argentinien und Südafrika betrieb.
Die Einbürgerung von Emigranten aus Deutschland wurde von der britischen Regierung vor dem Krieg nur in Ausnahmefällen erlaubt, mein Großvater beabsichtigte aber ohnehin nicht, eine andere Staatsangehörigkeit anzunehmen. Erst wenn sich definitiv keine Möglichkeit einer Rückkehr nach Deutschland abzeichnen würde, wollte er nach Israel oder Amerika auswandern.
Wie andere geflüchtete jüdische Familien änderte er aber unseren Familiennamen, ohne ihn vollständig zu anglisieren: aus „Wolffsohn“ wurde „Wolf“, wobei er im Geschäftsleben großen Wert auf die deutsche Schreibweise und Aussprache legte. Innerhalb der Familie wurde ohnehin nur deutsch gesprochen.
Mein Vater hatte 1936 in Aachen das Abitur gemacht, kam aber nicht dazu, Medizin zu studieren. wie er es eigentlich geplant hatte.
Überraschenderweise gab es in England für ihn als emigrierten Deutschen außer einem Sprachtest keine Probleme, zum Studium zugelassen zu werden, da das deutsche Abitur damals noch als gültige Voraussetzung für das Studium an englischen Universitäten betrachtet wurde.
Mein Vater studierte Medizin am King´s College und schloss 1943 mit Auszeichnung ab.
Bei einem Universitätsfest hatte er meine Mutter kennengelernt, die als Volontärin einer Emigrantenzeitung von dem Ereignis berichtete. Mein Bruder Sam wurde 1945, ich, Jordan, 1946 geboren.
Bereits zu Beginn der 50er-Jahre ergab sich für meinen Großvater die Möglichkeit, nach Antwerpen zurückzukehren und über einen Mittelsmann in Aachen erneut ein Juweliergeschäft zu eröffnen.
In Deutschland wurden damals dringend Ärzte gesucht, und als mein Vater ein lukratives Angebot für eine Stelle als Chefarzt in einer Stadt nahe der belgischen Grenze bekam, entschloss er sich auch seinerseits, nach Deutschland zurückzukehren.
Sam und ich besuchten dort die Grundschule und sollten danach auf eine höhere Schule wechseln. Das erwies sich aber als schwierig, da das nächste öffentliche Gymnasium ca. 30 km von unserem Wohnort entfernt mit ungünstiger Verkehrsanbindung lag. Das „Collegium Cornelianum“, lag dagegen gleich um die Ecke, etwas außerhalb der Stadt.
Durch die geschilderten Umstände konnten aber Sam und ich aber schließlich doch das Gymnasium des Collegiums besuchen.
Der Schulalltag erwies sich dann leichter als befürchtet. Für unsere Mitschüler waren wir von Anfang an vollwertige Mitglieder der Klassengemeinschaft, und fanden schnell viele Freunde.
Paul - wir nannten ihn in Anlehnung an sein Idol Sartre „Jean-Paul“ oder einfach nur JP - war immer unser Primus gewesen. Peter und er saßen seit der Sexta in der gleichen Bank und waren vom ersten Tag an dicke Freunde. Äußerlich waren sie so gegensätzlich wie Pat und Patachon, deren Filme ich als Kind so gern im Kino gesehen hatte: JP klein und untersetzt, kurzsichtig, sehr selbstbewusst auftretend wie sein Idol, Peter lang und dünn, verlegen, schüchtern. Bei uns hießen sie immer nur die „Pupse“.

Mein innerer Blick glitt jetzt auf die Abschlussfeier mit der Aushändigung der Zeugnisse durch den Pater Direktor. Ich sah Jean-Paul vor mir, mit seinem obligatorischen schwarzen Schal, den er auch bei der ihm als Jahrgangsbesten zugefallenen Dankesrede an Eltern und Lehrer auf der Abschlussfeier trug; alle anderen waren in Anzügen und Krawatte waren. Von seiner Rede ist mir nur das Bild von den weißen Amseln und den schwarzen Schwänen in Erinnerung geblieben, und wie er dabei bedeutungsvoll zu mir herüber schaute.
Zur Überreichung der Zeugnisse - der Aufruf erfolgte nach dem Alphabet - betraten die Abiturienten einzeln die kleine Bühne und erhielten ihren „Wisch“. Bevor er wieder auf seinen Platz in der ersten Reihe des Saales zurückkehrte wurde jeder von JP mit einer Umarmung verabschiedet.
Sam und ich, die beiden „Wölfe“, waren die letzten, die aufgerufen wurden. Unter kräftigem Applaus des Publikums betraten wir gemeinsam die Bühne. Der Direktor wies ausdrücklich auf die „Besonderheiten“ hin, die uns betrafen, und dankte dem anwesenden Bischof für seine Erlaubnis, uns den Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen, einer wahrhaft christlichen Tat.
Dann überreichte er zunächst mir, dann Sam die Zeugnisse, wobei er erwähnte, dass mein Notenschnitt der zweitbeste dieses Jahrgangs war.
Die abschließende Umarmung durch JP war mir extrem peinlich. Alle Klassenkameraden da unten erinnerten sich noch genau, wie intensiv er mich in der Sekunda für etwas hatte gewinnen wollen, das über bloße Freundschaft weit hinausging.
„Spezielle Freundschaften“ im Internat gab immer wieder einmal. Unsere Betreuer schritten aber in der Regel nicht ein, wenn sie davon erfuhren, da mancher in seiner eigenen Schulzeit selbst Beziehungen dieser Art gehabt hatte.
Ja, auch ich mochte JP sehr, andererseits aber war ich eben auch „besonders“, wie sich der Pater Rektor ausgedrückt hatte. Sam und ich gehörten einer orthodoxen jüdischen Familie an; eine Liaison der von JP intendierten hätte sich vor meinen Eltern nicht verheimlichen lassen, da Sam meine Eltern sofort darüber informiert hätte. Die sofortige Abmeldung von der Schule, womöglich die Unterbringung bei meinem Onkel in Antwerpen, wäre noch die geringste Folge gewesen. Ausschlaggebend für meine Ablehnung, JP´s Ansinnen einzugehen, war jedoch etwas anderes, etwas, das mir erst einige Jahre später bewusst wurde, damals aber nur vage fühlte.
JP war zu klug, um nicht zu merken, dass seine Avancen erfolglos bleiben würden, und gab sie nach einem halben Jahr auf. Am Ende sprachen wir uns aus und blieben gute Freunde bis heute, und darüber bin ich sehr glücklich.
Zu den Klassentreffen - anfangs alle fünf Jahre - kamen im Laufe der Zeit immer weniger der 64-er ins alte Gymnasium, vor allem, weil viele inzwischen aus beruflichen oder familiären Gründen weit entfernt lebten. Regelmäßigen Kontakt hielten seit Jahren nur noch die „Pupse“ und ich.
Wir trafen uns einmal im Jahr persönlich und tauschten sonst per E-Mail Neuigkeiten aus, oder gaben uns Tipps für Lektüren oder Veranstaltungen. Eine feste Institution war, wie bereits am Anfang erwähnt, JP´s sonntägliches „Wort zum Wochenende“, in dem er Zitate aus Büchern, Filmen, Comics, Zeitungen, Gesprächen zum Besten gab, die ihm irgendwann interessant erschienen waren.
Er hatte Philosophie, Musikwissenschaft und Medizin studiert, und bekam schließlich einen Ruf an den Lehrstuhl für Pathologie an einer Universität in Süddeutschland. Diese Tätigkeit liess ihm genügend Zeit für die Musik, die als er seine eigentliche Berufung sah. Als anerkannter Orgelvirtuose gab er überregional Konzerte und spielte maßgebende Interpretationen von Bach und Händel ein. Er hatte, seinem Naturell entsprechend, ein unstetes Leben geführt. Wie sein Idol versuchte er seine Vorstellung von „freier Liebe“ im wirklichen Leben umzusetzen, hatte aber wenig Erfolg damit. Er war zwar kurz verheiratet, aber die tief in seinem Inneren verborgene Suche nach der wahren Liebe, die ihn antrieb und umtrieb, blieb vergeblich.
Peter dagegen war schon immer der Typ des „Homo faber“ gewesen, ein Tüftler, der sich für Technik, Physik und Mathematik interessierte. Er studierte nach dem Pflichtwehrdienst Maschinenbau und war danach 45 Jahre als Chefingenieur einer Firma beschäftigt, die Flugzeugturbinen entwickelte.
Auch der private Lebensweg der beiden war unterschiedlich verlaufen.
Peter war schon in der Schulzeit mit einem Mädchen aus seinem Heimatdorf befreundet gewesen. Sie hatten gleich nach Abschluss seines Studiums geheiratet und mit ihren drei Kindern sehr glücklich zusammengelebt, bis vor etwa zehn Jahren seine Frau erkrankte und starb. Es war ein Schicksalsschlag, von dem er sich trotz der Unterstützung durch seine Familie, JP und mich nie erholte.
Mein eigenes Leben war völlig anders verlaufen, als meine Eltern und ich selbst es geplant hatten. Aus Gründen der Familientradition wollte mein Vater nicht, dass ich studierte, wie ich es mir eigentlich wünschte. Sein Plan war, dass Sam und ich nach Argentinien gehen und in die dortige Verwandtschaft der Familie einheiraten sollten. Das wären gute Voraussetzungen, auf längere Sicht die Leitung des transatlantischen Geschäftes zu übernehmen. Auch passende Partien für uns hatte er bereits ins Auge gefasst. Sam hatte nichts einzuwenden, ich aber weigerte mich kategorisch. Ich wollte durchaus studieren und von einer Ehe, noch dazu von einer arrangierten Ehe, nichts wissen.
Es entstand ein schlimmer Konflikt, der unsere Familie schwer belastete. Ich suchte verzweifelt einen Ausweg und vertraute mich JP an. Er hatte die abenteuerlich klingende Idee, ich solle doch zum Katholizismus konvertieren, womit nach damaliger Auffassung die Ehe mit einem Angehörigen jüdischen Glaubens nahezu ausgeschlossen wäre. Ohne es zu wissen wurde er mit diesem Vorschlag Katalysator eines Prozesses, der schon lange in mir keimte.
Während der Schulzeit hatte ich so viel über Inhalte und Formen der katholischen Religion erfahren, um diesen Glauben dem Judentum vorzuziehen, unter dessen rigidem patriarchalischen Diktat ich oft gelitten hatte. JP´s Vorschlag war nur der letzte Anstoß, meine Wendung zum Katholizismus zu vollziehen.
Ich schrieb einen Brief an den Pater Direktor des „Collegium“ und teilte ihm meinen Entschluss mit, mich taufen zu lassen. Er riet, zu warten, bis ich volljährig sei, und in der Zwischenzeit noch einmal gründlich über diesen Schritt nachzudenken; hätte ich dann immer noch diesen Wunsch, sehe er keine Probleme; im Gegenteil, der Bischof wäre sicher glücklich, dass das pädagogische Konzept der Einrichtung auf diese unerwartete Weise Früchte trug.
Kurz nach dem 21. Geburtstag teilte ich meinen entsetzten Eltern mit, dass ich zum katholischen Glauben wolle, verbunden mit der Bitte um Verständnis und ihren Segen. Verständnis fand ich nicht, aber ihren Segen bekam ich schließlich.
Meine Taufe wurde in aller Stille und nur in Anwesenheit von JP als Zeuge in der Kapelle des Internats vollzogen. Ich schrieb mich an der Universität Köln zum Studium der katholischen Theologie und Philosophie ein, mit dem Ziel, ein Lehramt an einem Gymnasium, womöglich eine Assistentenstelle an der Universität, zu bekommen. Gleich im ersten Semester verliebte ich mich in die Dozentin für Kirchengeschichte und fiel nach kurzer Zeit wie eine reife Frucht in ihr Bett. Sie war zehn Jahre älter als ich, eine Frau von starker suggestiv-erotischer Ausstrahlung, der ich nicht widerstehen konnte. Bei ihr fühlte ich mich zum ersten Mal geborgen und sicher. Meinen Eltern, die trotz des Makels meines Katholizismus immer noch nach passenden ehelichen Verbindungen für mich suchten, verschwieg ich selbstverständlich diese Liebe.
Aufgrund einer anonymen Meldung unserer Beziehung wurde meine Freundin am Ende des Semesters zunächst suspendiert, später relegiert. Sie trat in ein Kloster der unbeschuhten Karmeliterinnen ein, das sich geehrt fühlte, eine Hochschullehrerin als Mitschwester zu bekommen und nicht nach den Gründen fragte. Bis zum Abschluss meines Studiums hielten wir brieflich und telefonisch intensiven Kontakt, und ich besuchte sie immer, wenn sie die Erlaubnis der Ordensleitung bekam.
Ich empfand es lange als göttliche Strafe für unsere sündhafte Beziehung, dass sie während meiner Vorbereitung auf das Staatsexamen an einem Hirntumor erkrankte und innerhalb weniger Wochen starb.
Für mich brach die Welt zusammen. Ich meldete mich vom Examen ab, verließ die Universität, und trat wie meine mütterliche Geliebte in den Orden ein, wo ich nach der Probezeit meine Profess ablegte.
-
Ein Klopfen an der Tür unterbrach meine Gedanken.
„Mutter Albertina, es ist Zeit für das Abendgebet“, sagte die Novizin, die in dieser Woche während der Andacht aus der Bibel vorlas.
Wie immer würde ich auch heute für die beiden „Pupse“ beten, für Jean-Paul auf seiner „Suche nach der verlorenen Zeit.“, in der er mich am Anfang erfolglos als seine Simone de Beauvoir für die „freie Liebe“ gewinnen wollte, und Peter, der heute „keine Eier mehr suchte und auch keine Golfbälle im Busch“.
Bitten würde ich auch für die Tote, die ich täglich auf dem Friedhof des Klosters besuchte, und Gott für unsere Liebe danken, die in dieser Welt kein Verständnis gefunden hatte.
Nach der abendlichen Besinnung und dem wie immer in völligen Schweigen eingenommenen Abendessen, ging ich nicht wie sonst vom Refektorium in den Klostergarten, sondern zog mich auf mein Zimmer zurück.
Auf jeden Fall musste ich in irgendeiner Form den „Pupsen“ zu erkennen geben, dass ich ihre private Korrespondenz mit gelesen hatte. Ich beschloss, die ganze Geschichte aufzuschreiben und an Jean-Paul zu schicken.
Er würde natürlich Peter informieren, womit mein Zweck erreicht wäre.
Noch am Abend schickte ich ihm die hier erzählte Geschichte, und wie immer unterschrieb ich mit „Swantje", dem Namen meiner Mutter, deren Familie aus Maastricht nach England geflohen war, meinem zweiten Vornamen.
Dann legte ich mich, wie seit langer Zeit, früh zu Bett. „Wie banal das doch ist“ dachte ich, als ich noch einmal über das Geschehen des Tages nachdachte, „Geschichten, die das Leben schreibt, sind eben nur selten gute Geschichten."
Bevor ich einschlief sah ich drei Schwäne, die ruhig auf einem Teich dümpelten, zwei weisse, ein schwarzer, und mir wurde warm ums Herz.

Anm. d. Verf.:
Diese Erzählung ist die erste aus der an Marcel Proust angelehnten Sammlung
„Alter weisser Mann. Eine Suche“.



Interpretationshilfe
Die zentrale Idee der Geschichte ist, dass möglichst lange unklar bleibt, ob es sich dem Erzähler um einen Mann oder eine Frau handelt. Deshalb spielen die Namen eine entscheidende Rolle.
- Ich habe lange nach englischen Vornamen gesucht, die sowohl für Männer als auch für Frauen gebräuchlich sind. Dass „Jordan“ noch dazu perfekt in eine jüdische Familie passt, war ein Glücksfall für mich.
- Die eigentliche Geschichte beginnt in einem katholischen Internat und endet in einem katholischen Nonnenkloster. Dementsprechend imitiert die Benennung der Hauptpersonen mit „Jean-Paul“ und „Peter“ die Apostel Petrus und Paulus, die für die Verbreitung des Christentums eine entscheidende Rolle spielten.
- Jean-Paul und Jordan haben den besten Notenschnitt des Jahrgangs. Das erinnert an Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Meines Wissens schloss Sartre als Jahrgangsbester einer französischen Elitehochschule ab, Simone war ebenfalls ganz vorne bei ihrem Philosophieabschluss an der Sorbonne.
- Warum wurde aus Jordan „Albertina“?
Der Titel der Geschichte: „In der Welt junger Schwäne“ ist dem Band - „In Swanns Welt" (Swann = Schwan) - nachgebildet, der Marcel Proust’s „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eröffnet. In diesem Werk spielt eine junge Frau namens Albertine eine wichtige Rolle. Hier liegt die Verbindung zur Wahl von „Albertina“ als Jordans Ordensnamen, der beim Eintritt in ein Kloster von jedem Mitglied gewählt wird.
Weitere Verbindungen zu Proust:
- Proust war homosexuell, und bei der Albertine im Roman ist die Sache zumindest zweifelhaft.
- Am Ende der Geschichte erfährt man, dass Jordan/Albertina gewöhnlich früh zu Bett geht. Das bezieht sich auf den berühmten ersten Satz seines Romans.
- In der Anmerkung schreibt der Verfasser, dass die Geschichte Teil einer Sammlung mit dem Titel „Alter weißer Mann. Eine Suche“ ist.
Möglicherweise unklare Konnotationen.
- Der „Abwurf der Lasten”, den JP in einer E-Mail erwähnt, ist selbstverständlich eine stark gekünstelte ironische Überzeichnung. Es geht um Tätigkeiten, die der Mann im Gegensatz zur Frau in aufrechter Haltung verrichten kann, konkret die Entleerung der Blase, aber auch die Durchführung eines Geschlechtsaktes.
 
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