In fernen Ländern. Der Turm.

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Die Bärin überlegte langsam und gründlich, während hinter ihr der Tee abkühlte. Wie lange wohnte sie nun schon in diesem Turm? Waren es zwei oder drei Jahre? Sie hatte in den langen Wintermonaten den Überblick verloren, und vielleicht auch ein wenig ihren Biß, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Der beste Blick der Stadt, hatten die Reiher ihr zugeschrien, als sie heimatlos und mager nach einer Unterkunft gesucht hatte. Sie wäre nicht wählerisch gewesen damals, auch eine Mansarde oder ein trockener Keller hätten ihr genügt, ein wenig nette Nachbarschaft und sie wäre glücklich gewesen. Dann kam der Turm. An so etwas hatte sie nicht einmal in ihren entferntesten Träumen gedacht. Hoch oben, uneinnehmbar, mit einem kleinen Küchengarten, in dem Honigminze wuchs, ein winziger Raum mit einem grünem Sessel für ihre Nickerchen, die Wasserspeier an den vier Ecken bewachten ihre Nächte und unter ihr wohnte Frau Flausch, eine reizende Häsin, mit der sie sich sofort anfreundete. Die Reiher kreisten um den Turm damals, als sie ihr Glück nicht fassen konnte, und schrien „haben wir es nicht gesagt? Haben wir es nicht gesagt?“
Das hatten sie und sie hatten Recht gehabt. Die Bärin summte vergnügt und täschelte die gewundenen Hörner des Wasserspeiers, auf dem sie saß. Er blökte und zischte, er konnte es nicht leiden, wenn man ihn streichelte, das verletze die Würde seines Amtes, wie er der Bärin bei jeder Gelegenheit ausführlich darlegte, und Gelegenheiten gab es oft, denn die Bärin liebte es, den Wasserspeier zu ärgern. Weit unter sich sah sie den Turm der Graukatzen. Auf der Kuppel des Turms schlief Marlo, der große Kater. Die Bärin summte wieder vergnügt. Der Turm war ein gutes Heim. Er erfüllte seine Aufgaben vorbildlich, und wenn am Abend der Nachtwind blies, knisterte die Honigminze und ihre Blätter wuchsen ein kleines Stück dem Himmel entgegen. Und trotzdem war da ein dünner Splitter in ihrer Brust, der sich bewegte, wenn sie atmete. Die Wälder waren so groß gewesen. Die Flüsse wild nach dem Frühjahrsregen. Der Nachthimmel beängstigend schwarz vor der Morgendämmerung. Ihre Gefährten ungestüm und rau, und sie hatten ihr Junge geschenkt. Der Honig war nie besser gewesen als wenn sie ihn sich mit den wütenden Bienen teilen musste.
Der Turm war perfekt. Die Bärin stützte sich mit ihren Vordertatzen auf den knurrenden Wasserspeier und betrachtete die Straßen unter sich. Ihr Tee war kalt geworden. Auf der Spitze ihres Turms saß ein Eichelhäher mit einem Zweig im Schnabel. Sie grüßten sich freundlich, dann flog der Vogel davon, dorthin, wo im Abenddunst weit hinten die Wälder langsam einschliefen und raschelnd ihre dunklen, grünen Träume träumten.
Die Bärin öffnete ihr Maul und rief nach den Flüssen, den Eichen und Kiefern und dem Nachthimmel, und während sie das tat, spürte sie, wie ihre Zähne ein Stück wuchsen. Der Wasserspeier zischte überrascht. „Oh“, sagte er, „deine Zeit hier geht zu Ende!“ Die Bärin reckte sich, streckte ihre Hintertatzen und atmete die Nachtluft ein. Sie schmeckte Libellen und Glühwürmchen auf ihrer Zunge und schrie ein Bärenbrüllen. Alle ihre Nachbarn antworteten ihr, und während sie ihnen zuhörte, flüsterte sie: „Ja.“
 

molly

Mitglied
Hallo stachelbeermond,

Dein Märchen gefällt mir, ist für mich eine Fabel. Eine Bärin, erschöpft und heimatlos, fiindet im Turm einen Ort zur Erholung. Sie schöpft Kraft und denkt über ihr Leben nach.
Lesenswert! Ein paar Absätze wären noch lesefreundlicher.

Liebe Grüße
molly
 



 
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