In Schulung

stefanle

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1.Kapitel

Es sollte ein neuer Beginn werden. Nachdem ich wieder einmal aus der Welt gefallen war. Mich zurückgezogen hatte. Besser gesagt in meinem Zimmer gestrandet war und man mir gut und gerne vorwerfen hätte können, dass ich faul war. Schlimmer noch. Ich war süchtig, süchtig nach Computerspielen, gefangen in einer virtuellen Welt, deren Belohnungssystem jenes der tatsächlichen abgelöst hatte. Ich jagte nach Gegenständen, nach Schwertern, nach Rüstungen. Stundenlang, von morgens bis abends. Ich jagte mit Gleichgesinnten. In einer kleinen Gruppe, bestehend aus drei Personen, spielten wir dieselben Levels wieder und wieder. Wir spielten nach Effizienz, nicht nach Spielspaß. Jeder Bewegungsablauf war genau geplant. Jede unnötige Pause, jeder Zeitverlust wurde vermieden.
Der Bildschirm quoll über vor Feinden. Horden von ihnen. Groteske Gestalten, entlehnt aus der Mythologie aller Herren Länder. Mischwesen aus Mensch und Tier. Dämonen mit fahlen, muskelbepackten Körpern, unzähligen Gliedmaßen oft mit Waffen anstatt Händen. Sie brandeten an uns an, torkelten auf uns zu, sprangen aus dem Schatten heraus. Nur uns konnte das nichts anhaben. Wir schnitten durch sie durch als wären sie Gras und vernichteten Dutzende von ihnen gleichzeitig. Das Spiel zählte mit und je mehr man in kurzer Zeit vernichtete, desto mehr Bonus erhielt man.
Ein Rausch an Farben, die kurz über den Bildschirm leuchteten, so viele gleichzeitig, dass man nicht mehr wusste, zu was welche Farbe gehört. Spezialeffekte der Fertigkeiten von uns und der Fertigkeiten unserer Gegner blitzten auf, zu schnell um sie bewusst wahrzunehmen. Mein Geist schützte sich, war ihnen aber gleichzeitig schutzlos ausgeliefert.
Wir unterhielten uns über TeamSpeak, aber eigentlich hatten wir uns nichts zu sagen. Wir sprachen uns nicht mal mit unseren echten Namen an, sondern mit den Namen unserer Charaktere. Ich wusste die Namen nicht mal oder hatte sie vergessen, obwohl wir jetzt Monate zusammenspielten. Sie interessierten mich auch nicht.
Die Belohnungen kamen wahllos. Jeder besiegte Gegner konnte das erträumte Ausrüstungsstück fallen lassen. Insgeheim hoffte man darauf, aber eigentlich kam nur Müll. Berge von Müll. Hunderte, tausende Stücke von Müll. War man noch bei Kräften, sammelte man sie ein und trug sie zu einem NPC, was als Abkürzung für Non Player Charakter stand. Dieser entzauberte sie, so hieß es, und man erhielt Handwerksgegenstände, mit denen man sich andere Rüstungsteile herstellen konnte, die man eigentlich auch nicht brauchen konnte. Das Spiel selbst belohnte einen nämlich fast nie. Manchmal spielte man tagelang ohne dass man etwas Brauchbares fand.
Dem Spiel angeschlossen war ein Auktionshaus, wo Spieler ihre Gegenstände zum Verkauf anbieten konnten, für, Sie ahnen es, ebenfalls virtuelles Geld und woher die begehrtesten Ausrüstungsstücke eigentlich kamen. Das Spiel war so erfolgreich, es wurde von Millionen gespielt, dass die Preise astronomisch waren. Ein besonderer Gegenstand, mit den passenden Attributen, die den Spielercharakter stärker machten, konnte hunderte Millionen kosten, ein Vermögen, das man, wenn überhaupt, in Wochen vielleicht zusammen bekam. Spieler machten sogar Videos und stellten sie auf Youtube, wenn sie einen Gegenstand mit fast perfekten Werten erhalten hatten. Diese Videos wurden geteilt in Foren und hatten Millionen Views. Man konnte ein kleiner Star werden, hatte man so einen perfekten Gegenstand.
So kam es, dass je länger ich spielte, desto weniger spielte ich, sondern betrachtete die Angebotsseiten des Auktionshauses. Stundenlang. Ich wurde zum virtuellen Kapitalisten. Hoffte auf Schnäppchen und manipulierte Detailmärkte. Ich kaufte Unterkategorien auf und setzte sie zu einem höheren Preis wieder ein. Ich kaufte am Morgen, da dann die Preise niedrig waren, weil weniger Leute spielten und verkaufte am Abend, wenn auch die spielten, die noch einen Job hatten.
Je länger ich spielte, desto mehr entfernte ich mich von der Wirklichkeit und desto schwieriger wurde der Weg zurück. Im Spiel hatte man Status, man kannte sich aus, man hatte sozialen Kontakt, wenn auch verzerrt und, objektiv betrachtet, was ich damals nicht konnte, nicht von Bedeutung, denn das einzige, was uns verband, war unsere Sucht. In der Realität erwartet mich mein Zimmer und meine Eltern, die schon seit Monaten nichts mehr mit mir anzufangen wussten und vor denen ich versteckte, womit ich meine Zeit verbrachte, die irgendwann aber sowieso aufgehört hatten zu fragen.
Ich war vor einem halben Jahr arbeitslos geworden. Ich hatte selbst gekündigt, aber die Firma war ein paar Monate danach sowieso Pleite gegangen. Diese Firma war der Wurmfortsatz der österreichischen Wirtschaft gewesen. Wir wussten nichts, konnten wenig, betrogen oft und träumten gleichzeitig von einer neuen Art des Wirtschaftssystems, indem Kooperation statt Konkurrenz herrschen würde, weil wir nicht konkurrenzfähig waren, indem das Gemeinwohl über dem Profit stehen würde, obwohl unsere Kernaufgabe, darin bestand Leute am Telefon zu belästigen, indem Kredite danach vergeben werden, wie sehr das Wohl der Welt vermehrt wird, weil wir bei Banken heillos in der Kreide standen. Unsere Vorgesetzten waren so beseelt von diesen esoterischen Ideen, dass sie auf das banale Alltagsgeschäft am liebsten vergaßen. Trotzdem die Leute waren nett gewesen, obwohl ich die Leute überall nett fand, denn der Antrieb meines Lebens besteht darin, irgendwo Anschluss zu finden, irgendwo dazuzugehören. Ich arbeitete dort für fünf Euro die Stunde und setzte mich dafür jeden Tag zwei Stunden ins Auto. Ich konnte mir nur leisten dort zu arbeiten, weil meine Eltern reich waren, denn der Treibstoff für mein Auto fraß den Großteil meines Gehaltes auf. Ich arbeitete dort, weil Arbeiten das Wichtigste in Österreich ist, egal was man arbeitet, nur solange man arbeitet, kann einem keiner besserwisserisch ins Leben hineinreden, denn man stand auf eigenen Füßen. Es spielte keine Rolle was man arbeitete. Schon lange konnte es sich Österreich nicht mehr leisten zu fragen, was sinnvoll war. Utopien gab es nicht mehr. Der Markt regelte, was sinnvoll war. Bezahlte jemand dafür, war es sinnvoll. Auch in unserem Fall bezahlte uns Firmen dafür, dass sie diese Tätigkeiten nicht selbst ausführen mussten, weil sie dem Ruf der eigenen Firma schaden würden, weil man Standards nicht garantieren konnte. Wir waren eine Schar von Tagelöhnern, die praktisch jeden Auftrag annahm.
In Österreich wurde man das erste halbe Jahr vom Arbeitsamt in Ruhe gelassen. Hin und wieder hatte man zwar einen Kontrolltermin, dieser dauerte aber nur ein paar Minuten und man musste nur glaubhaft versichern können, dass man sich irgendwo bewarb. Manchmal tat ich das auch und einmal wurde ich sogar von einem großen Versicherungskonzern zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen, worauf ich ihre Bewerbungsroutinen durchlief. Am meisten interessierten sie sich für meine sozialen Kontakte. Ich musste Listen erstellen, wen ich alles kannte und woher, in welchen Vereinen ich aktiv war usw., denn darauf hatten sie es abgesehen. Das war mein Kapital. Ich würde Floskeln zum Auswendiglernen bekommen, aber eigentlich über menschliche Beziehungen verkaufen. Ich war dazu bereit gewesen, denn es war Arbeit. Ich scheiterte erst ganz am Schluss an einem standardisierten Computertest. Ich hatte mir lange überlegt, was solche Menschen von mir erwarten würden. Vielleicht hatte ich die Fragen dann zu ehrlich beantwortet, zu freizügig zugegeben, zu was ich alles bereit war und das hatte sie dann selbst erschreckt. Vielleicht waren meine Listen aber auch einfach zu kurz gewesen, denn ich hatte nur 60 Facebookfreunde und nicht 600 und zwar Vereine angeben, aber auch dazugesagt, dass das meiste zehn Jahre her ist. Im Grunde fielen mir nur drei Menschen ein, an die ich eine Versicherung verkaufen könnte, meine beiden Eltern und mein Bruder und wahrscheinlich wussten oder zumindest ahnten sie das.
Das AMS selbst hatte keine Jobs, also konnten sie nichts vermitteln, vor allem an einen so oft gescheiterten wie mich, dessen Alternativen, je älter ich wurde, immer mehr abnahmen. Auf mich wartete keiner, anders noch als es noch vor 10 Jahren geschienen hatte, als ich gerade maturiert hatte, und die Lehrer und unsere Eltern so getan hatten, als stünde uns die Welt offen. Ja, die ganze Gesellschaft hatte so getan, als könnten wir alles werden. Nur die Wahrheit war, eigentlich waren wir gar nichts gewesen. Die Matura war in Österreich nämlich nichts mehr wert, zumindest die allgemeinbildende höhere Matura. Man konnte studieren und erst damit konnte man etwas werden. Schaffte man kein Studium, so wie ich, aus Gründen, auf die ich später noch eingehen werde, war man nichts als ein Universaldilettant. Und man hatte acht Jahre seines Lebens vielleicht nicht vergeudet, aber man hätte besser etwas Anderes gemacht, denn es war ein totes Ende. Die vielleicht beste Option war es, diese acht Jahre zu vergessen und mit einer Lehre wieder von vorne zu beginnen. Nur eine Lehre das konnte ich nicht machen. Mein Vater hatte studiert. Alle meine Cousins und Cousinen studierten. Eine Lehre wäre von vornhinein eine Niederlage gewesen. Obwohl es für mich vielleicht das Passende gewesen wäre. Nur ist unsere Gesellschaft in Österreich so gestrickt: Es gibt jene, die denken dürfen und jene die arbeiten sollen, hoffentlich ohne sie viele Gedanken zu machen. Nur braucht es vielleicht nur zehn Prozent von denen, die denken sollen, und die schaffen oft Werke, die von denen, die nicht denken sollen, dann zwar konsumiert werden sollen, aber bitte ja ohne sich darüber Gedanken zu machen. Die Nichdenkendürfenden können aber irgendwann dann gar nicht mehr denken, weil ihr ganzer Arbeitsablauf ja so aufgebaut ist, dass sie unter keinen Umständen denken sollen und der Arbeitsalltag bestimmt bekanntlich den Tag. Irgendwann interessiert sich die große Mehrheit der Nichtdenkendürfenden dann nicht mehr für die Ergüsse der Denkendürfenden und ihre Bücher und Zeitschriften, ihre Musik und Theaterstücke werden nicht mehr gekauft. Worauf ein großes allgemeines Wehklagen beginnt. Von der Kulturlosigkeit der Gesellschaft wird geraunt, über das sinkende Niveau allerseits wird gejammert. Nicht gesagt wird, dass einige doch eigentlich und im tiefsten Herzen recht froh darüber sind, denn so kann man sich mit Niveau, Kultur und Bildung von anderen abheben, sie als Waffe einsetzen, als Mittel mehr Wohlstand, mehr Aufmerksamkeit und ein mehr von eigentlich allem zu erlangen, dabei unterscheiden man sich gar nicht so sehr, man hat nur einen andere Art Dinge anzugehen, oftmals einfach hinterfotziger, versteckter und verschlagener, obwohl man nach außen hin den Toleranten mimt, den Gutmeinenden, aber bitte ja nur in der Fremde, weit weg von einem selbst.
Irgendwann hielt ich das Spielen nicht mehr aus. Es gab keinen äußeren Grund. Keinen Vorfall mit meinen Eltern. Keinen Streit mit meinen Mitspielern. Kein höheres Erkennen, wie sinnlos mein Leben geworden war. Ich hörte einfach auf und fiel ins Nichts. Mein Tagesinhalt war plötzlich nicht mehr existent. Ich hatte nichts, womit ich die ganzen Stunden zwischen Frühstück und Mittagessen, zwischen Mittagessen und Abendessen, die alle meine Mutter zubereitete und die die einzigen Gelegenheiten waren, wo ich mein Zimmer verließ, zu füllen. Ich lag zunächst auf der Couch und starte Löcher in die Luft und widerstand dem Drang den Computer einzuschalten und zumindest nachzusehen wie meine Auktionen gelaufen waren. Es kostete mich viel Mühe und Disziplin, den Automatismen, die sich in den letzten Monaten eingeschlichen hatten zu widerstehen.
Mein Blick schweifte umher und suchte nach Anhaltspunkten, was ich nun tun sollte. Ich sah den Bücherschrank neben dem Kasten, der übervoll war und dessen Inhalt sich von der gesammelten Weltliteratur mit Schwerpunkt Österreich bis hin zum billigsten Fantasieroman erstreckte. Erinnerungen wurden wach, an eine Zeit als ich diesen Traum noch verfolgt und Germanistik studierte hatte, selbst geschrieben, sogar einmal fast einen Preis gewonnen hatte und das erste Mal durchgedreht war. Ich hatte jetzt schon fast zwei Jahre kein Buch gelesen.
In der anderen Ecke stand noch Verkaufskartons von Computerteilen herum, die ich nie weggeräumt hat nachdem ich vor ein paar Monaten meinen Computer selbst zusammengebaut. Ich hatte Blut und Wasser geschwitzt als ich die Elektronikteile eingesetzt hatte und war der festen Überzeugung gewesen, dass ich bestimmt etwas kaputt gemacht hatte, als ich ihn zum ersten Mal eingeschalten hatte, aber er hatte sofort funktioniert. Konnte das auch etwas sein, woran ich anschließen konnte?
Ich wünschte, ich hätte mir mehr Gedanken machen können. Ich wünschte, ich hätte ein Für und Wider abwiegen können, aber dafür reichte mein Verstand, dafür hatte ich die letzten Jahre zu wenig nachgedacht und mein eigenes Ich zu sehr von mir weggeschoben, als dass ich abwiegen könnte, was mir vielleicht Freude bereiten würde. Ich war mir nicht mal sicher, ob das von Belang war, ob in der modernen Wirtschaft Arbeit sowieso nie Selbstverwirklichung sein kann und nur solche Dinge bezahlt werden, die die Mehrzahl der Menschen nie freiwillig tun würden.
Ich schaltete den Computer ein und begann zu recherchieren, welche Kurse es gab, welche kurzen Ausbildungen, die ich schaffen könnte, damit ich in irgendwas einen Abschluss hätte und nicht wieder im Call Center landen und meinen eigenen geistigen Verfall zuschauen konnte. Ich stieß auf der Wifi-Homepage auf eine Ausbildung zum Netzwerk-Administrator in Klagenfurt, also in Fahrtdistanz und auf der Homepage den Universität Salzburg auf eine Ausbildung zum Bibliothekar. In Salzburg lebte mein Bruder, deshalb konnte ich mir vorstellen dort zumindest zeitweise zu leben. Beide dauerten ein Jahr. Ein Jahr kam mir unendlich lang, wo ich in letzten Jahren von Tag zu Tag gelebt hatte und schon lange keine längerfristigen Ziele verfolgt hatte.
Ich druckte beides aus, las es aufmerksam durch und markierte alle wichtigen Informationen. Ich bereitete mich vor, legte mir Argumentationen zu Recht, denn ich würde morgen zum AMS fahren, egal ob ich einen Termin hatte oder nicht. Ich würde sie überzeugen, so wie das letzte halbe Jahr konnte es nicht weitergehen.

2.Kapitel

Ich war sogar kurz vor acht vor dem AMS-Gebäude, ein nüchternes, nichtssagendes Bürogebäude, gewesen und hatte mit ein paar anderen vor der Tür gewartet. Wir hatten geraucht.
Als die Türen aufgesperrt worden waren, war ich sofort nach oben gegangen, denn ich hat gewusst, wohin ich musste und hatte dort ein Wartekärtchen gezogen.
Das Gespräch war dann anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich war zwar schonungslos gewesen und hatte dem AMS-Betreuer erzählt, was ich das letzte halbe Jahr getrieben hatte und auch von meinen psychischen Problemen, die ich bislang immer verschwiegen hatte. Außerdem hatte ich ihm die Beschreibungen der Schulungen gezeigt. Er hatte sich aber nichts anmerken lassen. Mir nur kurz erklärt, dass es besser wäre, mit einem Psychologen darüber zu reden. Dieser wäre aber heute nicht im Haus und so hatte er mir einen Termin für einen anderen Tag gegeben.
Als ich an diesem Tag den Psychologen sah, hasste ich ihn sofort. Ich hasste sein diszipliniertes Äußeres, seinen gepflegten Anzug, seine glatten Haare und seinen schlanken Körper. Gleichzeitig fürchtete ich die Macht, die er über mich hatte, denn ich wusste, er würde entscheiden, wie es mit mir weitergehen würde. Trotzdem erzählte ich ihm alles über mein Leben und über das letzte halbe Jahr. Ich schilderte alle Details meiner schizophrenen Episoden, die mich schon mehrmals aus der Bahn geworfen hatten. Als ich Stimmen gehört hatte und dachte ich stünde telepathisch mit der ganzen Welt in Kontakt. Schön langsam bekam ich Übung darin darüber zu sprechen.
Mir kam es so vor als würde es ihn wütend machen, obwohl er es tunlichst vermied, sich zu meinem Gesagten zu äußeren. Einzig teilte er mich zu einem Programm des BBRZ, eine Firma spezialisiert auf berufliche Rehabilitation, zu und gab mir einen Folder darüber.
Ein Zug, der um 6.45 abfährt, setzt ein Aufstehen um 5 Uhr voraus. Falls sie nicht in dieser Lage sind - und die meisten Menschen sind nicht in dieser Lage - dann wissen nicht, wie schwierig das einem fallen kann, vor allem wenn man wie ich gerade wieder begonnen hat seine „Medikamente“ zu nehmen, um wieder zu versuchen ein wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft zu sein.
Es ist zwar nicht so, dass ich aus meinen Träumen gerissen werde, eines der Medikamente verhindert gerade, dass ich träume und versetzt mich in jenen knapp 5 Stunden dauernden, koma-gleichen Zustand, in dem nicht ständig in meinem Hinterkopf, von mir gleichzeitig zwar unvernommen, trotzdem durch meine Handlungen bestätigt, mein Gedankenstrom arbeitet. Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann ist es eigentlich recht gut, dass mein Zug um 6.45 fährt, denn wach wäre ich sowieso und dann hätte ich mehr freie Minuten zu meiner Verfügung und freie Minuten sind für mich gefährlich.
Auch so gibt es schon fast zu viele freie Minuten, nämlich, wenn ich die Zeit meiner Körperpflege subtrahiere, um die Sechzig. Man füllt diese also, um tunlichst zu vermeiden, über sich selbst und sein Leben nachdenken zu müssen. Gesegnet sei hierfür das Internet, denn die zwei Zeitungen, die täglich zwischen drei und vier Uhr morgens vor meiner Türe abgeliefert werden, sind in 15 Minuten erschöpft, was den Weltpolitik-, Lokalpolitik-, Wirtschafts- und Kulturteil betrifft. Also rasch weiter zu den Fernsehnachrichten des Vortages. Sie ahnen vermutlich, dass, wenn man die Zeitungen von heute schon gelesen hat, die Fernsehnachrichten von gestern kaum mehr zu einem Erkenntnisgewinn beitragen. Das spielt aber keine Rolle, denn so gut Zeitungen auch sind, die meisten bemühen sich zumindest, so haben sie doch einen Nachteil: Sie beinhalten keine bewegten Bilder und außerdem keine Nachrichtensprecher, die ich so gerne dabei beobachte, wie sie mühelos und angestrengt zugleich versuchen einen Ausdruck eigener Meinung oder auch nur Anteilnahme zu vermeiden, sondern nur kleine erstarrte, aufgehübschte Bildchen der Kommentarschreiber. Oft fühle ich mich den Nachrichtensprechern persönlich verbunden. Sie sind quasi meine Coaches, meine Lehrmeister in Kommunikation. Meine Gespräche sind meist genau so aufgebaut: Ich verlese oder wiederhole leicht interpretiert, mich selbst beobachtend, bar jeder Anteilnahme die Informationen, die von außen an mich herangetragen werden und hoffe damit die Erwartungshaltung der anderen, eben jener außen, zu befriedigen, ohne sie dabei allzu lange und direkt anzusehen. Kürzlich wurde mir mitgeteilt, dass dies mir nicht so gelingt, wie ich selbst gedacht hatte und ich mich unaufmerksam verhalte. Ich bitte Sie aber zu verstehen, dass ich keineswegs absichtlich unaufmerksam bin, sondern meist nur sehr genau auf das Erzählte achte oder auch sehr genau, über das gesunde Maß hinaus, auf einzelne Ihrer Bewegung. Somit bitte ich Sie weiteres, es mir nicht übelzunehmen, wenn ich durch Sie hindurchschaue.
Im Internet habe ich dann täglich ein neues Steckenpferd. Durch meine umfangreiche, abgebrochene, eher angefangene als abgeschlossene Bildung sind mir die meisten Denker dem Namen und der Schlagwörter nach bekannt. Also suche ich dann mittels Google und Youtube Seiten und Videos eben dieser. So fange ich dann Chomsky-Interviews oder Game Theory Vorlesungen der Yale Universität zu sehen, trinke dabei meinen dritten oder vierten Kaffee und versuche zu vermeiden, dass mein eigenes Leben über mich hereinbricht und mir meine gesamte Aufmerksamkeit raubt und ich mich dabei verliere, über Sachen und Vorfälle nachzudenken, die zwar Jahre zurückliegen, trotzdem aber nicht abgeschlossen sind. Schon nach kurzem bricht meine Aufmerksamkeit aber ab oder ich möchte mich einfach nicht länger so mit der Welt beschäftigt. So eingeengt von Theorien und Theorem, so verknappt und zweidimensional in einer Disziplin, so ohne Herz und ohne Seele, so kopflastig und dann beginne ich Musik zu sehen und zu hören. Ich beginne mit Bob Dylan, Red Hot Chili Peppers, Eddie Vedder und Alanis Morissette. Ich beginne oft mit Künstlern, die mir schon seit Jahren, schon seit meiner Jugend bekannt sind. Mit Musikern, deren Songs irgendwann zu Mantras für mich wurden, die ich verknüpfe mit Emotionen, die ich irgendwann verspürte. Mit den Orten und Menschen, die der Grund für diese Emotionen waren. Ich gebe mich der Musik hin und lass die Töne und Worte in mich eindringen und durch mich durchfließen, bis nur mehr sie existent sind und ich nicht weiß ob es noch fremde oder meine eigenen sind oder vielmehr als das. Manchmal denke ich dann, ich fühle, was Dylan gefühlt hat, als er diesen Song geschrieben hat. Das Verwobene, das Verdichte der Kunst wird zu meiner Realität und ich hänge den Worten nach wie Sonnenstrahlen und die Töne erheben mich. Bis ich nicht mehr dort bin, wo ich eigentlich bin und nicht mehr so klein und unbedeutend und so alleine wie ich bin. Nie fühle ich mich verbundener mit der Welt, mit speziell dieser Welt aus Gedanken und Emotionen, die zwar die eines Anderen ist, aber doch auch so sehr meine eigene.
Und das Wunderbare ist: Es braucht nur so wenig Zeit. Nur Minuten, in denen ich frei und losgelöst bin und die dann den ganzen Tag vorbestimmen, in einfärben, wenn ich es mir bewahren kann und der Zauber nicht verfliegt. Von allen Drogen tuen nur Musik und Literatur wirklich gut und nur sie habe ich mir bewahrt. Sie sind meine Zufluchtshäfen vor den Unruhen und auch Banalitäten meiner Existenz und ich such sie auf so oft ich kann, nehme mir Auszeiten in ihnen. In jeder Pause, in der ich kann. Und es ist so schön neben anderen zu sein, ganz für sich, mit Musik im Ohr, den irgendwie werden dadurch auch die Menschen besonderer. Fremde werden zu Teilen der Musik und ich überlappe das Fremde in ihnen, das alles, was ich nicht weiß von ihnen und von fast allen Menschen, denen man begegnet, weiß man nichts, mit den Gedanken und den Stimmungen der Musik. Sie sind dann Darsteller bei Songs von Lou Reed. Sie müssen gerade das Denken, was Lauryn Hill sich gerade denkt. Bitte glauben Sie mir ich wähle mir meine Songs genau aus und sie werden Ihnen zwar wahrscheinlich nicht gerecht aber schämen müssen Sie sich ihrer ganz bestimmt nicht. Und um ehrlich zu sein, welche andere Möglichkeit hätte ich denn? Was wäre denn, wenn ich sie ansprechen würde, um nach etwas Anderem zu fragen, als nach der Uhrzeit und selbst das ist unglaubwürdig und sie einfach bitten würde mir etwas von sich zu erzählen?
So verfließt dann die Fahrt durch mein Heimatland im Zug. Mal mit mehr und mal mit weniger Mitreisenden und nie sind wir uns näher als auf der Rolltreppe, nachdem uns der Zug ausgespuckt hat und, wo dann jeder dem anderen nicht zu nahetreten will und Kontakte vor allem mit dem Blick so gut es geht vermeidet und man meint es wären hunderte Weg so aufgezeichnet, dass sie sich nie schneiden und das wäre so vorherbestimmt.
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich zum ersten Mal den Weg in das Schulungszentrum fand. Wie eingeschüchtert ich war und ich mich gleich anfangs verlor zwischen all den verschiedenen Räumen und mir vorkam wie in einer Klinik, weil weiß die einzige Farbe war, die ich sah und selbst die Schilder neben den Türen mir keine sinnvollen Informationen darboten. Mit Begriffen wie Vermittlungsvorbereitung oder kaufmännische und technische Abklärung hatte ich damals noch nichts anfangen können. Schließlich fand ich dann doch den Weg in den für mich bestimmten Seminarraum, wo schon zwei andere warteten.
Zum einen war dort Markus. Er war jünger als ich Anfang 20, braungebrannt, und über und über mit Tätowierungen bedeckt. So wie es eigentlich alle der Jungen, die ich an diesem Tag nur auf Terrasse stehen und rauchen sah, mit denen ich damals aber noch nicht gesprochen hatte, ihren Körper über und über bedruckt hatten. Jetzt glaube ich, dass es ihr Ausweg war, weil wir doch alle so verschüchtert waren und meinten wir hätten nichts mehr zu sagen, vielleicht nicht einmal mehr ein Recht zu sprechen.
Markus hatte als Maurer gearbeitet bis er sich eines Tages mit einem Bolzenschussgeräte durch das Fußgelenk seines linken Beines geschossen hatte, was seine Maurerkarriere schlagartig beendete und er nur noch von einem kurzen Hilfsjob zum nächsten wechselte. Er hatte zum Beispiel in den Wintersaisonen immer als Liftwart gearbeitet. Nun war aber selbst das nicht mehr möglich und so hatte seine Versicherungsanstalt ihm eine Umschulung genehmigt, bevor er drohte arbeitsunfähig zu werden.
Zum anderen gab es dort Lisa. Lisa wiederum war älter als ich. Sie war schlank, beinahe durchscheinend und hatte einen kessen Kurzhaarschnitt. Sie hatte in verschiedenen Hotels der gehobenen Kategorien als Konditorin gearbeitet, bis man sie in ihrem letzten Betrieb so unter Druck gesetzt und gemobbt hatte, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Uns verband, dass wir unseren Platz in der Welt verloren hatten und nicht recht wussten, wohin mit uns.
Die erste Woche wurden wir durchgehend getestet, um unsere Fähigkeiten aber auch Neigungen festzustellen. Durchgeführt wurde dies von verschiedenen Vortragenden, die meist nicht mehr als ein bis zwei Stunden bei uns verweilten und uns die Fragebögen austeilten und dabei die Zeit nahmen. Wissen Sie, ich war davor schon ein Jahr zu Hause gewesen und hatte wohl hie und da einzelne Kurse besucht. So hatte ich meine Sprachkenntnisse in Italienisch und Französisch aufgefrischt, was aber nur bescheidenen Erfolg hatte, denn Sprachen, um sie zu beherrschen muss man üben, also sie aktiv ausüben, am besten täglich. Dies trifft nicht nur auf Sprachen zu, sondern auf fast alles, was es überhaupt zu tun gibt. Genau diese Möglichkeit fehlte mir aber, oder vielleicht suchte ich sie auch nicht genug, oder vielleicht verhinderten auch meine Ängste und Zwänge, dass ich sie suchte. Wie auch immer. Jedenfalls konnte ich z.B. Englisch. Ich hatte es immerhin 8 Jahre in der Schule gehabt, auf der Universität 5 Kurse in Englisch absolviert, war mehrmals in den USA und in anderen englischsprachigen Ländern gewesen und sah wöchentlich vielleicht ein Dutzend Stunden Sendungen in englischer Sprache, aber einen englischen Satz geschrieben hatte ich zum letzten Mal vor Jahren. Und dass die Mehrzahl von fish fish ist, war mir irgendwann auch abhandengekommen.
So verhielt es sich mit vielen Dingen. Bei den Rechnungen war meist der Ansatz nicht das Problem, nur zum letzten Mal dividiert hatte ich auch vor Jahren und so flogen die Zahlen bei dem ersten Versuch kreuz und quer durch meinen Kopf, bis mir wirklich schwindlig wurde und mich ein leichter Brechreiz überkam.
Oft spielte die Zeit auch verrückt. Lebt man nur nach seiner eigenen Uhr, verliert man jedes Zeitgefühl und Stunden können sich anfühlen wie Minuten und Minuten wie Tage. Bei manchen Aufgaben ging es mir so. Während Lisa und Markus noch arbeiteten, war ich schon fertig und las alles noch einmal durch und kämpfte gegen den Zwang an, aus dem Raum zu fliehen, um draußen eine zu rauchen. Zugleich stieg aber auch Verunsicherung in mir hoch. Hatte ich die Aufgabe richtig gelesen? Etwas übersehen? Zu einfach gedacht?
Lisa schienen die Tests nicht viel auszumachen. Äußerlich bewahrte sie Ruhe und ich bewunderte sie sehr dafür. Nur bei den Dingen, die etwas mit Mathematik zu tun hatten, meinte sie anschließend, dass Mathematik nie ihres gewesen war. Viel mehr dazu sagte sie nicht. Ob sie in diesen Tests deshalb schlecht abschnitt, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, denn die Ergebnisse wurden uns in einem Einzelgespräch mitgeteilt und untereinander tauschte man sich darüber nicht aus.
Bei Markus sah die Sache anders aus. Oft sah er zu mir herüber, wobei sich dabei Falten auf der seiner Stirn abzeichneten und er gedankenverloren an seinem Stift herumkaute. An den Nachmittagen, in denen wir meist kleine Präsentationen über uns, unsere Stärken und unsere Ziele im Leben ausarbeiten mussten, reagierte er oft bockig und beschwerte sich lautstark, was der Scheiß ihm bringen sollte.
In unserem Schulungszentrum hatten alle Teilnehmer, auch die in anderen Räumen, zur gleichen Zeit Pause. Wir trafen uns dann immer auf der Terrasse. Es war der heißeste Sommer seit Jahrzehnten und so waren wir heilfroh, dass ein Sonnensegel sich fast über die ganze Terrasse spannte und die Temperaturen darunter wenigstens einigermaßen erträglich wurden.
Die Namen der anderen Teilnehmer, die meisten waren vielleicht schon ein paar Wochen hier, kannte ich anfangs nicht und so gab ich ihnen Spitznamen nach den Eigenschaften, die sie auszeichneten. Den General hätte wohl niemand übersehen können, selbst wenn er nur einen Tag hier verweilt hätte. Der General war knapp 180 groß und hatte bestimmt 130 Kilo, was sogar mehr war als ich. Er hatte als Mechaniker gearbeitet und bei einem Arbeitsunfall ein Unterbein verloren. Dort saß jetzt eine schwarze, gepolsterte Prothese, die er im kleinen Kreis und bei großer Hitze gerne abnahm, weil er dann sehr schwitzte. Wir verbrachten oft die Mittagspausen zusammen, wenn wir beide keine Lust hatten, die andere in das Zentrum zu begleiten, weil, offen gesagt, es uns zu beschwerlich war.
Ich mochte den General, obwohl er das einem nicht leicht machte. Ich bewunderte ihn sogar für seine bestimmende Art. Einmal die Woche machten wir zum Beispiel einen Spaziergang, Bewegungstraining wurde das genannt, und stets war es der General, der das Ziel, damit die Dauer, und natürlich auch das Tempo festlegte. Dieses Verhalten war so tief in seiner Persönlichkeit verankert, dass es ihm gar nicht auffiel, wie sehr es den anderen manchmal missfiel, wobei auch diese meist nichts dagegen unternahmen, sondern nur hinter seinem Rücken, sich über ihn das Maul zerrissen. Wagte es doch jemand Widerstand zu leisten, überforderte das aber den General und drehte sich einfach um und ging davon. Des Generals Traum war es wieder zu arbeiten, bevorzugt in seiner alten Branche, vielleicht irgendwo im Lager. Einige Praktika in dieser Richtung hatte er schon gemacht, aber zu mehr hatte es nicht gereicht, obwohl er dem Unternehmen vermutlich nicht einmal etwas gekostet hätte. Sie wissen ja die Wirtschaftslage.
Neben dem General, und natürlich Lisa und Markus, hatte ich noch mit Peter am meisten Kontakt. Auf ihn hatte mir damals auf die Schnelle kein Spitzname einfallen wollen. Seine Kleidung war zunächst das Auffälligste an ihm. Er trug immer weite Metal-Musik-Shirts. Peter war vielleicht Anfang 20, 170 cm groß, schlank und auch tätowiert. Seine Augen hatte er auf der Terrasse stets hinter einer Sonnenbrille versteckt, die er auch manchmal in den Klassen nicht abnahm, was unsere Lehrer aber nicht störte, diese waren überhaupt vor allem psychologisch ausgezeichnet geschult und behandelten uns mit größerem Verständnis und mit größerer Würde also wir es draußen irgendwo erfuhren. Ich war eines Tages eher zufällig mit ihm ins Gespräch gekommen. Normalerweise hielt Peter sich eher zurück und beteiligte sich kaum an den Unterhaltungen. Nur wenn die Stimmung etwas ausgelassener war, wir sagen dazu „der Schmäh lief“, machte er meist die für mich witzigsten Anmerkungen.
Die Terrasse war sehr groß, nahe am Zugang standen zwei Tische, an denen sich die meisten aufhielten. Morgens mit einem Automatenkaffee in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Mittags deutlich weniger mit einer Leberkässemmel der nahen Fleischhauerei, die eines der wenigen Geschäfte war, wo wir mit unseren Lebensmittelkarten tatsächlich einkaufen konnten.
Ich wanderte aber meist ruhelos umher. Die ständigen Tests forderten ihren Tribut und irgendwo, tief in mir drinnen, war etwas außer Rand und Band geraten. Ich merkte wie ich den Pausen ständig zitterte und in kleineren Abständen an meiner Zigarette zog. Ich konnte nicht stillhalten. Sogar wenn ich es mir selbst einschärfte, wirkte es nur kurz, worauf mir wieder bewusst wurde, dass ich die letzten Minuten wieder umhergeirrt war.
In einigen Pausen fing ich auch wieder an Stimmen zu hören. Das war schon Monate nicht mehr der Fall gewesen. Ich hörte Stimmen, die mich aufs Übelste beschimpften. Oft raunte mir auch der eine oder andere Teilnehmer Wörter wie Idiot und Arschloch zu. Ich musste dann immer zustimmen, brauchte aber eine gewisse Zeit, um einzusehen, dass dies nicht wirklich passiert war.
Nach der ersten Woche wurden wir verschiedenen persönlichen Betreuern zugeteilt. Dabei kam es zuerst zu Komplikationen, da der Kurs in der Urlaubszeit begonnen hatte und so einige Betreuer gerade nicht mehr da waren oder aber bald nicht mehr da sein würden.
Meinen Betreuer mochte ich. Wir hatten schon viel mit einander zu tun gehabt, denn er hatte viele der Tests überwacht und wissen Sie, ich bin zwar unfähig soziale Beziehungen zu deuten, aber ich wollte glauben, dass wir uns sympathisch waren. Ich vertraute ihm zumindest. Das war für mich wichtig in dieser Zeit einer neuen Lebenssituation, voller Veränderungen, voller Probleme, mit denen ich im Vorhinein nicht gerechnet hatte. Natürlich, so kam es mir vor, begann ich sofort unser Verhältnis zu überstrapazieren. Ich vereinnahmte ihn manchmal und begann halbe Stunden lang über meine Empfindsamkeiten zu sprechen. Ich versuchte zumindest ihn jeden meiner wertvolleren Gedanken mitzuteilen, besonders jene Abwegigen, die mich oft so sehr vereinnahmen, dass die Alltäglichen daneben bedeutungslos werden.
Ich merkte, und das zumindest war gut, dass ich wieder drohte aus der Realität zu rutschen, und nahm mir fest vor, diesmal meine Strategie zu ändern. Nichts wollte ich für mich behalten, bis daraus eine eigene Welt entsteht, die sich dann beginnt, dagegen zu sträuben, sich mit der konsensual bestimmten Wirklichkeit zu überlappen. Leittragender war jeder Mensch, zu dem ich ein Verhältnis hatte. Die Anzahl war überschaubar und so bekamen diese mehr ab. Gott sei Dank entschlüssle ich in meinem Wahn die Welt jedoch meist so, dass alles, was man einem Menschen sagt, jeder andere Mensch genauso weiß und dieser jeder andere Mensch hat dann auch nichts Besseres zu tun, als sich ausschließlich in allen Momenten, in denen wir uns oftmals rein zufällig begegnen, mit mir zu beschäftigen. Sie wissen nicht wie belastend und schwer zu verkraften es sein kann, dass jeder Passant, an dem man vorübergeht und mit dem man höchstens Blickkontakt aufnimmt, alles und davon vor allem das Schlechte von einem weiß. Auf lange Sicht ist dies jedoch sicherlich ein guter Aspekt meines Wahns, denn niemals sage ich einem einzelnen Menschen alles, was in mir vorgeht und durchbreche damit alle Leitplanken des menschlichen Miteinanders. Trotzdem erhielt ich aus der Summe, diesmal zumindest, der verschiedenen Reaktionen der verschiedenen Personen genug Resonanzen, die mich an der Oberfläche der realen Welt, festbinden, und verhinderten, diesmal zumindest, mein Absinken in meine eigene konstruierte Welt.
Als meine Wahnideen schlimmer wurden und damit sind nicht die üblichen Beschimpfungen gemeint, sondern dass ich begann vor allem Bewegungen, vor allem Gesten, die die anderen Teilnehmer mit ihren Armen durchführten auf mich zu beziehen und ihnen eine quasi magische Bedeutung beimaß, indem Sinne dass sie mich versuchten magisch zu beeinflussen und ich wieder mit Abwehr-Ritualen begann, hatte ich zwar nicht die Kraft einzusehen, dass das nicht wirklich war, aber mir gelang es zumindest, anders als noch in den Episoden in den Jahren zuvor, mit anderen, mit meinen Betreuern darüber zu sprechen.
Oft kam ich mir auch wie angebunden vor, an meinem Platz in dem Raum der kaufmännischen Abklärung, der man mich zugeteilt hatte, vollgestopft mit Schulungsteilnehmern, die alle in ihre Monitore starrten und versuchten die Aufgaben zu lösen. Ich dachte, die Betreuer, die jeweils einzeln in einer Ecke hinter einem weißen Schreibtisch saßen und manchmal Fragen beantworteten, uns aber eigentlich wohl überwachten, würden mich telepathisch dazu zwingen, an meinem Platz zu bleiben und ich kämpfte mit jeder Faser meines Körpers und aller Kraft meines Geistes dagegen an.
Ich wurde einen Vormittag freigestellt um ins nahegelegene Krankenhaus zu gehen. Ich wanderte durch die Innenstadt, die mir von Kindheit an vertraut war, denn meine Großeltern hatten hier gelebt und ich erinnerte mich an allen Ecken und Enden, dass ich hier mit meinem Großvater einmal Eis gegessen hatte, als ich vielleicht zehn Jahre alt war oder dass hier mein Großvater immer samstags Brathühnchen kaufen gewesen war. Gleichzeitig versuchte ich mir eine Strategie für das Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin in der Ambulanz zurecht zu legen. So komisch es klingt, denn die meisten wollen eigentlich aus solcher Art von Programmen nur raus, ich wollte es aber nicht aufgeben, denn es war das einzige, was mir geblieben war und mein einziger Kontakt zur Welt außerhalb meiner Familie. Ich war mir sicher, dass die Ärzte auf der Ambulanz mich wahrscheinlich am liebsten dabehalten würden, denn immerhin hatte ich gerade eine akute schizophrene Episode, aber die Psychiatrie, so gut es die Ärzte dort auch meinen, ist für mich nicht der richtige Platz um wieder gesund oder zumindest stabiler zu werden, denn man ist dort wieder auf sich zurückgeworfen und man hat zu viel Zeit sich mit einem selbst zu beschäftigen.
Als ich der Ärztin alles erzählt hatte und sie hatte sich wirklich Zeit für mich genommen, schloss ich damit, dass ich gerade eben in einem Programm des AMS bin und ich unter anderem von Psychologen betreut werde, dass ich, so war ich mir sicher, keine Gefahr für mich oder für andere darstellte, denn gottseidank äußerte sich mein Wahn nicht so, und dass ich deshalb nicht auf die Psychiatrie wollte. Sie vereinbarte mit mir, dass ich anstatt Tabletten gegen meine Schizophrenie nun eine Depotspritze nehmen sollte. Diese hatte wohl eine höhere Dosis und eine konstantere Wirkmittelabgabe. Außerdem vertraute sie mir wohl nicht, dass ich meine Tabletten regelmäßig nahm. Überdies sollte ich mich hier bei einer niedergelassenen Psychiaterin melden. Bei wem überließ sie mir.
Ich ging zurück ins Schulungszentrum, setzte mich aber auf die Terrasse und nicht gleich wieder in die Schulungsräume und recherchierte Telefonnummern von Ärzten. Zufällig fand ich die Nummer einer Psychiaterin, rief dort an und vereinbarte für in zwei Wochen für meine nächste Spritzenabgabe einen Termin. Diese Ärztin sollte im nächsten Jahr einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben werden, obwohl ich sie nur alle zwei Wochen für vielleicht 15 bis 30 Minuten sah.
Nach ein paar Wochen, die immer mehr zur Routine wurden, den Großteil der Zeit verbrachte ich weiterhin in der kaufmännischen Abklärung, wo es mir immer länger gelang, meine Konzentration über den endlosen Preisberechnungen und uninspirierten Geschäftsbriefen aufrecht zu erhalten, neigte sich dieses Arbeitslosenprogramm für einige dem Ende zu und es wurden Entscheidungen getroffen, wie es mit diesen Teilnehmern weitergehen sollte. Ob sie wieder arbeitsfähig wären oder nicht, d.h. ob sie nach Hause und in die üblichen Routinen des AMS entlassen werden konnten oder ob es auf andere Art weitergehen sollte. Markus hatte ein Praktikum im Büro eines Baustoffhändlers gefunden. Lisa durfte, genau wie sie es gewollte hatte, im Sozialbereich schnuppern.
Ich hatte so etwas noch nicht gefunden, glaubte aber, dass ich ein sehr verlässlicher Schulungsteilnehmer war, der jeden Tag da war, egal wie belastend meine Gedanken auch waren. Von meinen beiden zuvor gefassten Plänen, hatte sich zum einen der Plan Bibliothekar zu werden in Luft aufgelöst, denn ich war zwar nach Salzburg gefahren und hatte mich dort beworben, aber wurde nicht genommen. Zum anderen startete der Netzwerkadministratorkurs in Klagenfurt erst in drei Monaten. Ich war offen zu meinen Betreuern und bat sie mich irgendwie dazubehalten, denn ich wollte nicht wieder aus einem sozialen Gefüge fallen, denn so sehr ich auch manchmal die Aufgaben hasste, es gab mir Sicherheit wieder irgendwo dazu zu gehören. Außerdem misstraute ich mir selbst, wenn ich wieder zu Hause stranden würde.
So wurde beschlossen, dass ich an einem längeren Programm für Arbeitslose mit psychischer Beeinträchtigung teilnehmen würde, das auch hier in Villach, allerdings am Stadtrand in einem eigenen Gebäude, stattfand.
Dort sollte ich, nachdem ich mich einmal einen Tag umsehen hatte dürfen, mich nächste Woche einfinden.



Kapitel 3

Die Räume des Trainingszentrums lagen im ersten Stock eines Mehrparteienwohnhauses. Es gab drei große Räume. Zum einem ein Entspannungszimmer, das bis auf eingerollte Yogamatten vollkommen leer war. Den Kunstraum, bei dem an den Wänden zwar vereinzelt Computerarbeitsplätze standen, der aber ansonsten nur aus einem großen Tisch bestand auf dem Malerbedarf abgelegt war. Den Kern allerdings bildete ein Raum, wo wir Teilnehmer uns die meiste Zeit aufhalten sollten. Der lag meist im Halbdunkel, denn die Fenster, die die ganze Länge über beide Außenseiten liefen, waren mit vertikalen Jalousien verhängt. Links und rechts des Einganges lagen Unmengen an Computerteilen fein säuberlich in mannsgroßen Regalen eingeräumt. Am Fußende standen fertige Tower-Rechner, darüber folgten Netzteile, Motherboards, Ramstücke und alles Weitere aus dem Computer aufgebaut waren.
Es war zwar nicht so, dass ich abgesagt hätte, wenn es anderes gewesen wäre, aber die ganzen Computerteile und auch die Aussicht mich zwei Halbtage in der Woche mit ihnen zu beschäftigen hatten, hatte mich vollends davon überzeugt, dass ich hier richtig war.
Alle Büroplätze in diesem Raum waren schon fast vollständig belegt, als ich eingetroffen war und mich die Jüngere der beiden Leiterinnen in den Raum führte und mich kurz namentlich vorstellte. Ich hatte Glück. Ein Platz im Eck war noch frei und ich nahm ihn sofort in Beschlag und würde ihn nie wieder hergeben, obwohl ich wenig später herausfand, dass er eigentlich einem anderen Schulungsteilnehmer gehörte, der aber selten an den festen Unterrichtseinheiten teilnahm und sich lieber selbst beschäftigte, wofür man den Kunstraum aufsuchte. Das war sowieso eine Eigenheit des Programms. Man musste nicht. Alle Teilnehmer hatten psychische Probleme und waren daher nicht immer belastbar. Trotzdem sollte man aber und es wurde positiv aufgenommen, wenn man teilnahm.
Es blieb mir für den Moment erspart, dass ich mich näher vorstellen musste und alle Blicke auf mich gerichtet sein würden. Außerdem würde in ein paar Minuten sowieso der Unterricht beginnen. Ich sah mich um und musterte die anderen Teilnehmer im Raum. Wir waren ein bunter Haufen. Altermäßig gab es einige, die vielleicht Mitte Zwanzig waren. Andere waren schon um die Fünfzig. Irgendwie fühlte ich instinktiv heimisch, denn ich hatte in den letzten Wochen wieder etwas Zutrauen in die Menschheit gefasst, obwohl ich als die Vortragende den Raum betrat und sich die meisten in der Mitte des Raumes an einem großen Tisch versammelten, noch Abstand hielt, gerade so viel, dass es nicht als unhöflich erachtet werden sollte, denn ich signalisierte, dass ich meinen Computerarbeitsplatz verlassen hatte und meine Aufmerksamkeit dem Programm widmete.
Der älteste Teilnehmer, dem Aussehen nach, der an der Innenwand als erster saß, tat das nicht und spielte weiterhin ein Browserspiel, das daraus bestand, bunte Kugel zu stapeln, bis diese dann irgendwann herunterfielen und immer große Zahlen aufblinkten. Auch mein einziger Nachbar zu meiner Rechten, ebenfalls schon um die Fünfzig rückte wie ich nicht in die Mitte, legte aber immerhin seinen Zeichenblock zur Seite, auf dem eine wirklich gute Bleistiftskizze einer halbnackten Cindy Crawford, welche er vom Monitor abgemalt hat, ersichtlich wurde und drehte den Bürostuhl zur Mitte des Raumes.
Die Vortragende kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Marion hieß sie. Sie war für eine Frau recht groß und hatte krause, dunkle Haare. Sie war ungefähr in meinem Alter.
An meinem ersten Tag sollte es um das Thema Fremd- und Eigenwahrnehmung gehen. Ich glaube, wir taten das auch für mich, denn so hatte ich die Möglichkeit die anderen den Namen nach und ihren Eigenschaften nach kennenzulernen. Wir teilten uns also in Zweiergruppen auf und bekamen Stifte und Kärtchen in die Hände gedrückt, womit wir alles notieren sollten, um es dann später vor der ganzen Gruppe präsentieren zu können.
Ich bekam den Typen zugeteilt, von dem ich den Platz gestohlen hatte und den ich nicht namentlich erwähnen werde, denn er ist für mich und auch für die Geschichte irrelevanter, als der Buschauffeur, der die meisten jeden Morgen hierherbrachte. Vor allem aber hat er versucht mich zu schlagen.
Das einzige Mal, dass mir in diesem Jahr auch nur so etwas in der Art passiert ist und dass obwohl wir ja die Geistesgestörten waren und ich gerade vor kurzem wieder in der Ankündigung einer Reportage lesen musste, dass der Herausgeber heilfroh war, dass seine Reporterin wieder unbeschadet aus einer Irrenanstalt zurückgekommen war.
Eigentlich hat er mich nicht geschlagen, sondern nur begonnen mich zu schupfen und mich bei jeder Gelegenheit als Dicken bezeichnet, aber ein paar Wochen danach war er dann sowieso aus dem Programm ausgetreten. Schade für ihn, nicht für uns.
Ich lernte so also Klaus kennen, meinen Sitznachbarn, der von uns vielleicht am ärmlichsten gekleidet war mit seinen verwaschen Jeans und T-Shirts und der aber studiert hatte, sein Marketingstudium sogar abgeschlossen hatte. Er war der einzige von uns der ein Studium abgeschlossen hatte. Ich und Martin hatten zwar eines oder gleich mehrere begonnen, es aber nie abgeschlossen.
Klaus bezeichnete sich selbst als ruhigen Menschen, der aber auch ein Einzelgänger war, auch weil er von seiner Familie verstoßen worden war, was er nur andeutete und somit den Grund auch nicht erklärte.
Sabrina war Modeverkäuferin gewesen und bezeichnete sich selbst als Familienmenschen, der gerne im Freundeskreis Dinge unternahm.
Martin hatte Informatik studiert, wollte aber eigentlich immer Maler werden. Er beschäftigte sich viel mit Street Art, Hip-Hop und Graffitis und hatte wohl eine wildere Jugend hinter sich.
Für den Moment möchte ich ihnen nicht alle Dutzend Teilnehmer vorstellen, denn sie würden es sich nicht merken können. Mir ging es genauso. Vor allem wird es sie wundern, dass ich nichts über Krankheiten schreibe, obwohl wir doch in ein Programm waren für Leute mit psychischen Erkrankungen. Nur war es so, wir sprachen untereinander darüber kaum. Selbst bei uns blieb es, sowie eigentlich in der Gesellschaft an und für sich, ein Tabuthema. Hatte jemand ein akutes psychisches Problem, ging er in das Büro unserer zwei Leiterinnen und so blieb es hinter verschlossen Türen.
Vielleicht misstrauten wir einander deshalb auch ein wenig und versuchten uns eher an den vermeintlich sicherlich gesunden Vortragenden anzubiedern, muss man schon fast sagen, denn sie wurden immer umschwärmt und konnten kaum so viele Gespräche führen, wie sie sollten.
Eigentlich weiß ich nur von drei der Teilnehmer genau was sie hatten. Es kam auch nur selten vor, dass jemand explodierte und laut wurde. Die Leute implodierten eher und zogen sich zurück. Auch das rechne ich den Leuten hoch an, den bei uns allen waren unsere Lebensentwürfe kapital in die Hose gegangen und jetzt war es schon ein Erfolg, wenn jemand irgendwo halbtags als Kellner arbeiten würde, womit ich nichts gegen Kellner sagen möchte, aber eigentlich wäre es nur zu verständlich gewesen, wenn die Leute wütender gewesen werden, ob jetzt gegen sich selbst oder gegenüber der Gesellschaft ist dann wohl eher eine Typfrage.
Sie dürfen sich also keine Geschichte der großen Dramen oder ein zugespitztes Theaterstück erwarten. Vielleicht lag es auch an den Medikamenten, die die meisten von uns sicherlich nahmen, dass alles größtenteils so wohl gesittet und eher ruhig verlief. Vielleicht war aber auch das Programm bewusst so gestaltet worden, denn wir hatten ja ein Jahr Zeit bekommen wieder fit für den Arbeitsmarkt zu werden. Ein Jahr der kleinen Schritte, der persönlichen Entwicklung, ohne Prüfungen oder Aufgabenstellungen, deren Erfüllung verpflichtend war. Ich glaube viele hatten so eine Sicherheit schon lang nicht mehr gehabt und es erleichterte sie.
Nachdem wir also uns selbst beschrieben hatten und unser Gruppenpartner uns beschrieben hatte, bis auf mich und den Typen, wir kannten uns ja schließlich nicht und notierten deshalb Beschreibungen von Freunden und Bekannten, begannen wir ein Kartenspiel zu spielen. Auch hier ging es darum andere einzuschätzen. Es hieß die Werwölfe von Düsterwald. Karten wurden verdeckt ausgeteilt und so jedem Teilnehmer eine Rolle zugeteilt. Grob gesprochen waren die einen Dorfbewohner und die anderen Werwölfe, die diese Dorfbewohner fressen wollten. Eigentlich war es so ähnlich wie bei Arthur Millers Hexenjagd. Jeder beschuldigte jeden ein Werwolf zu sein und am Schluss wurde abgestimmt, wer zur Sicherheit des Dorfes getötet werden sollte, um möglichst zu verhindern, dass in der Nacht die Werwölfe sich wieder Opfer suchen würden.
Ich wurde vom wütenden Mob schon als Zweiter gelyncht, obwohl ich ein unschuldiger Dorfbewohner gewesen war, ich hatte mich aber schlecht verteidigen können, als der Verdacht auf mich gelenkt worden war. Ausgerechnet von Martin, der mir von allen am sympathischsten war und der, wie sich später herausstellte, selbst ein Werwolf war und sogar gewann, denn er überlebte als einziger. Die Werwölfe gewannen bei uns fast immer.
Nachdem Spiel war die Mittagspause gekommen und ich durfte schon nach Hause fahren, denn anfangs musste man am Programm nur halbtags teilnehmen, um sich langsam daran gewöhnen zu können. Zu Hause angelangt, aß ich noch etwas, sah mir dann ein paar Folgen meiner Lieblingsserie an und ging früh schlafen.


Kapitel 4

Am nächsten Morgen nahm ich zum ersten und letzten Mal an den Entspannungsübungen teil, die von der Älteren der Leiterinnen gehalten wurden. Es nahmen nicht alle teil. Martin bevorzugte es zum Beispiel zu malen. Die Mehrzahl fand sich jedoch im Raum ein.
Wir rollten die Yogamatten am Boden aus, zogen unsere Schuhe aus und legten uns darauf nieder. Ich hatte ähnliches schon auf der Psychiatrie kennengelernt. Dort, unter schweren Medikamenten, noch schwerer als die die ich jetzt nahm, und in der Eintönigkeit des Klinikalltages, war es eine willkommene Abwechslung gewesen. Hier war ich mir unsicher. Denn es ging darum unsere Phantasie zu benutzen, uns paradiesische Orte vorzustellen und auch in unseren Körper hineinzuhören. Nur war mein Körper ein Schlachtfeld. Ich rauchte Kette und war schwer übergewichtig. Ich misshandelte meinen Körper. Es ist wahrscheinlich meine Art zumindest schleichend Selbstmord zu begehen, denn als ich am Balkon gestanden war, nachdem ich wieder einmal von einer Universität abgegangen war und ich Stimmen meiner Familie gehört hatte, die sagten ich wäre eine Schande, war ich im letzten Moment zurückgetreten. Vermutlich war ich nur zu feige gewesen.
Außerdem war es oft so gewesen, dass ich in den schlimmsten psychotischen Zuständen dachte, ich könnte meinen Geist über die Wirklichkeit legen, sogar dass ich es müsste, dass es Priester und Ordensleute genauso machten, um den Teufel fern zu halten. Ich dachte mir aber abwechselnd ich wäre der Teufel und verbot mir meinen Geist zu nutzen, verbot mir zu denken, denn ich hatte Angst gehabt, dass meine Gedanken aus meinem Kopf entkommen könnten bzw. das andere meine Gedanken aus meinem Kopf ziehen könnten. Manchmal war es sogar so gewesen, dass ich keine Zeitungen mehr lesen hatte können und kein Fernsehen mehr schauen hatte können, weil so wie ich die Bilder der Kommentarschreiber und Nachrichtensprecher sah, sahen sie mich. Sie wussten wer ich bin und sie hassten und verabscheuten mich, deshalb bohrten sie sich in meinen Kopf hinein und suchten nach meinen schlechten Taten. Die größten Sünden waren zwar schon längere Zeit her, aber genau diese suchten sie immer und immer wieder und so wusste bald jeder in Österreich, was ich für ein verabscheuungswürdiges Wesen war. Einmal war ich im Bett gelegen und hatte in eine Bibel hineingeweint. Vor mir tauchten Menschenköpfe auf, zuerst die, denen ich Unrecht getan hat, bald aber jeder Mensch, dem ich jemals begegnet war und ich entschuldigte mich bei allen, dass ich ihnen begegnet war. Ich wollte meine Existenz auslöschen und dachte durch diese Art des Betens könnte ich es.
Ich hatte mir schon vor längerem verboten mich mit Religion zu beschäftigen. Selbst Kunst, was ich am meisten liebte, hatte ich mir lange Zeit verboten. Je uninspirierte eine Sache war, desto sicherer erschien sie mir. Deshalb freute ich mich auf den Netzwerkadministratorkurs und war froh mich mit Computern beschäftigen zu dürfen, denn nichts ist uninspirierender als Computer.
Gleichzeitig wollte ich nicht schon am zweiten Tag nicht an einem Programmpunkt teilnehmen und so folgte ich nicht den Instruktionen, die mit esoterischer Hintergrundmusik, aus den Lautsprechern der Stereoanlage kamen, ja verbot mir sogar ihnen zuzuhören. Mit geschlossenen Augen hörte ich um mich herum. Einer schnarchte. Von den anderen hörte man leise die Atemzüge.

Nach den Yogaübungen fand zum ersten Mal unser Computerkurs statt. Von uns nahmen nur vier daran teil, alles Männer. Der Rest beschäftigte sich selbst. Unser Lehrer hatte einen Ziegenbart und war eher drahtig. Peter, unser Küken, musste man immer extra einladen, denn er war internetsüchtig. Er verbrachte seine Zeit am liebsten damit sich Witzseiten im Internet anzusehen. Er scrollte und scrollte. Dabei lachte er kein einziges Mal. Unser Lehrer legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und riss ihn so aus seinem Zustand. Dann war er wieder im hier und jetzt. Wir holten den Kompressor, denn wir sollten alte Towergehäuse vom Staub reinigen. Wir trugen also den Kompressor zu zweit auf die Terrasse und bliesen dort den Staub aus den Gehäusen.
Wenn Peter einmal an etwas teilnahm, dann war er voller Energie und man konnte sehen, dass viel Lebensfreude in ihm steckte, die aber so tief verschüttet war, dass andere sie aus ihm sanft herausholen mussten, denn er selbst konnte es nicht.
Wir hatten uns alle unsere Computerarbeitsplätze selbst gebaut und bauten auch Rechner für andere, die sich ansonsten keinen leisten konnten. Heute weiß ich nicht, ob Computer und das Internet nicht die Geißel der modernen Menschheit sind, denn man findet für alles eine Bestätigung. Egal wie abstrus ein Gedanke ist oder wie pervers eine Vorliebe, im Internet findet man bestimmt genügend Material dazu.
Manchmal frage ich mich, ob das Internet nicht gesäubert gehört, um schwache Menschen vor schlechten Entscheidungen zu bewahren, denn oft denke ich, dass es keinen Zufall gibt, sondern nur Geister um Menschen ringen, in jeder Sekunde des Tages, bei jeder Entscheidung, die man trifft. Viele von uns konnten diesen Geistern nicht widerstehen. Wir waren so tief in der Hand dieser Geister, dass wir wie betäubt waren. Manchmal weiß ich aber auch nicht, ob diese Geister auf uns von der Gesellschaft geladen wurden, weil wir ja die Arbeitslosen und die psychisch Kranken waren und als solche musste wir uns ja auch benehmen. So verlangte es die Gesellschaft.

Kapitel 5:

Am nächsten Morgen hatten wir unsere Art des Bewegungstrainings. Wieder einen Spaziergang. Diesmal aber nicht durch das Zentrum und vorbei an Menschen, sondern am Ende der Stadt, in Wurfweite zum Ortsschild. Unsere Trainerin kam aus Deutschland, genauer gesagt aus Bayern. Sie lebte aber schon länger in Kärnten. Menschen aus Bayern sind mir sympathisch. Ich kann nicht genau sagen warum, vielleicht weil sie uns so ähnlich sind, ihnen aber der Mief der Provinz fehlt.
Unsere Trainerin hatte ihr Auto am Parkplatz des über die Straße liegenden Supermarktes geparkt. Dort führte sie uns hin, nachdem sie alle Verhandlungen, ob einer Teilnahme oder einer vorgeschobenen Begründung der Nichtteilnahme gewonnen hatte. Man konnte immer behaupten, man könne nicht, oder man müsse dieses und jenes ganz dringend machen. Man hätte eine Bewerbung zu schreiben, weil man von einem sehr verheißungsvollen Job gehört hatte. Aber in Wahrheit sträubten wir uns einfach oft und wollten nur unsere Ruhe, weil wir uns schon teilweise aufgegeben hatten. Nicht vollkommen, denn die, die sich vollkommen aufgegeben hatten, kamen irgendwann ganz einfach gar nicht mehr. Manchmal war es also schon ein Sieg, ob für das Programm oder für einen selbst können sie beurteilen, dass man überhaupt gekommen war und seine ganze verschüttete Welt, aus Depression, Enttäuschung und Wut, im Kopf zwar mitgebracht hatte, aber ignoriert hatte.
Diese Trainerin nahm oftmals wenig Rücksicht auf so etwas und oft war das gut, denn wir musste oft zu unserem Glück gezwungen werden. Einmal hatte sie gesagt und das werde ich niemals vergessen, dass wenn wir alle so weiterleben würden, würden wir Diabetes bekommen und dass wir uns das dann selber angefressen hätten. Sie sollte recht behalten.
Die Trainerin führt uns zu ihrem Auto, weil sie etwas Besonderes mit uns vorhatte. Sie öffnete den Kofferraum und darin lagen Nordic Walking- Stecken, die sie uns schmackhaft machen wollte, weil dann der ganze Körper arbeitet und nicht nur die Beine und der ganze Bewegungsablauf sowieso gesünder wäre und vor allem man mit Nordic Walking-Stecken nicht rauchen könnte.
Sie hatte sogar Erfolg. Gut die Hälfte nahm solche Nordic Walking-Stecken und wir machten uns auf den Weg. Vorbei an dem größten Wirtschaftsunternehmen der Region, das Computerchips herstellte und dessen Parkplatz so voll war mit Autos, dass sie kreuz und quer und fast über einander standen.
Irgendwie war es surreal, dass gerade wir daran vorbeigingen.
Unser Spazierweg führte oben auf einem Damm dem Fluss entlang. Wir waren eine recht hübsche Prozession. Peter ging immer einsam an der Spitze voraus und redete mit keinem. Ich ging auch meist alleine vor mich hin, weil ich mir so schwer tat überhaupt zu sprechen. Ich war so leer innerlich und so abgestumpft, dass ich nicht einmal mehr merkte, was mich im Kern so belastete. Ich, der ich alle Chancen im Leben gehabt hatte. Chancen, von denen andere nur träumen können und jede einzelne grandios und oftmals binnen kürzester Zeit vergeben hatte.
Manchmal jedoch ließ ich die Trainerin und die Gruppe, die sich um sie geschart hatte, zu mir aufschließen und hörte zumindest den Konversationen zu. Manuelas Hund war nach einem Jahrzehnt gestorben. Manuela hatte bei einer großen Baufirma als Projektmanagerin gearbeitet und hatte Baustellen in ganz Österreich besucht und überwacht. Jetzt hatte sie, glaube ich, Burn Out. Manuela weinte fast und zeigte uns Bilder auf ihrem Smartphone von ihrem Hund, der vielleicht so etwas wie ein letzter Weggefährte für sie gewesen war, denn er hatte sie auch durch ganz Österreich im Auto begleitet und war auch jetzt, wo sie alleine lebte, stets bei ihr gewesen.
Irgendwie war mir das ein zu viel an Emotionen und ich ging wieder voraus. Hat man selbst kaum Kontakt zu seinen Emotionen, kann mit den Emotionen anderer nur schwer umgehen. Irgendwie kam ich mir dabei aber auch wie ein Arsch vor.
Unser Umkehrpunkt war eine kleine Brücke, die über einen kleinen Bach führte. Dort machten wir kurz Pause und naja redeten ein bisschen. Dann ging es wieder meist einzeln zurück. Im Büroraum merkte ich erst, wie verschwitzt ich eigentlich war, denn ich war so außer Form, dass mich ein lockerer Spaziergang von vielleicht ein oder eineinhalb Stunden wirklich anstrengte. Und so war ich froh, dass wir dann etwas Zeit bekamen uns selbst zu beschäftigen bis die Mittagspause und somit der Endpunkt meines Tagesplans gekommen war.



Kapitel 6

Unsere Kunstlehrerin war so atemberaubend schön, dass man sich zwingen musste nicht nur auf ihre Schönheit zu achten, denn sonst verlor man sich in ihr und es erschien mir unangebracht Trainerinnen nach Kategorien wie Schönheit zu bewerten. Leider war sie auch noch ausgesprochen nett und so verzauberte sie alle Männer. Es fanden sich fast alle im Kunstunterricht ein und versuchten sich wenigstens an Malerei. Sogar unser ältester Schulungsteilnehmer Hans war wie ausgewechselt. Hans, der sonst an nichts teilnahm, mutierte zum Musterschüler. Er war schon Monate in diesem Programm und hatte sich schon so etwas wie eine eigene Technik beigebracht. Viele der Gemälde an den Wänden stammten von ihm, wie ich später erfuhr. Sie zeichneten sich durch eine Liebe und Hingabe an Struktur und Oberflächen und dicken Farbaufstrichen aus.
Meine eigenen Malversuche waren so ungelenk wie die eines Volkschülers oder im besten Falle eines Unterstufenschülers. Es war zum Verzweifeln, ich wollte so viel ausdrücken, nur mit Malerei konnte ich es nicht. Ich hatte mich fast zwei Stunden redlich bemüht, nur ohne den geringsten Erfolg. Dabei hatte ich den anderen ohne Neid zugesehen wie sie aufblühten. Martin stach natürlich alle anderen aus. Er malte Portraits von Hip- Hop-Künstlern, die ihn beeinflusst hatten, die man quasi als Plattencover verwenden konnte. Er sammelte seine Arbeiten sogar, weil er sich an einer Kunstakademie bewerben wollte.
Aber auch Sabrina und Manuela waren ganz eifrig bei der Sache und ihre Finger waren ganz voller Farbe, was ihnen einen Hauch von Kreativität verlieh und sie wirklich liebenswert machte. Ich liebe kreative Frauen. Manuela machte nur hin und wieder Pausen und setzte sich an einen Computer um Ebay-Auktionen zu beobachten, denn sie war gezwungen alte Sachen von sich zu verkaufen, um ihren Lebensstandard halbwegs halten zu können.
Peter machte Bleistiftskizzen von geometrischen Figuren, eine Unzahl von ihnen, auf den Blättern. Er arbeitete unermüdlich. Es rang mir richtig Respekt ab, wieviel Mühe er auf seine Arbeit verwendete.
Die einzige, die nicht teilnahm war Babsi. Babsi haben sie bis jetzt noch nicht kennen gelernt. Babsi war untersetzt und sah eigentlich eher aus wie ein Junge und hatte sogar das Gehabe eines eben solchen. Sie war Masseurin gewesen und hatte, glaube ich, Borderline. Manchmal war es mit Babsi schwierig. In der einen Stunde konnte sie der netteste Mensch auf Erden sein, mit einem Lachen, das ansteckend war, und in der nächsten Stunde war sie wirklich feindselig. Babsi trug immer langärmlige Pullover, egal wie heiß es auch immer war, denn sie ritzte sich und wollte nicht, dass das jemand weiß.
Babsi hatte sich mit der Erlaubnis unserer Leiterinnen zurückgezogen, weil sie für eine Meisterprüfung lernen wollte. Sie wollte sich endlich selbstständig machen können und hatte sogar in Aussicht in jener großen Computerchipfirma freiberuflich als Masseurin zu arbeiten, sobald sie die Meisterprüfung hatte.
Nur hin und wieder sah Babsi nach dem Rechten. Sie hatte dabei das große Vorbereitungsbuch immer dabei. Es wirkt allerdings noch recht fremd in ihren Händen und sie beklagte sich auch, dass sie schon jahrelang nichts mehr auswendig gelernt hatte und jetzt gleich so ein elendig dickes Buch auswendig lernen müsse.
Nachdem ich mich sehr gerne kreativ ausdrücken wollte, aber mir die Malerei nicht lag, sprach ich die Trainerin an, ob ich stattdessen schreiben könnte. Sie erlaubte es mir, obwohl sie sicherlich nicht hundertprozentig überzeugt war. Zuerst begann ich nach meinen alten Geschichten zu recherchieren. Ich war ein wenig auf Literaturplattformen aktiv gewesen, musste aber mit Bedauern feststellen, dass diese ziemlich verwaist waren. Eine meiner Lieblingsplattformen in der Schweiz war sogar komplett dicht gemacht worden.
Trotzdem fand ich aber eine alte Kurzgeschichte und druckte sie aus. Ich las sie durch und fand sie sogar ganz gut. Ich gab sie der Trainerinnen, damit sie sie auch einmal durchlesen könnte. Vielleicht tat ich das, um ihr zu beweisen, dass ich wenigstens fürs Schreiben etwas Talent hatte.
Es stellte sich nun die Frage über was ich schreiben wollte, denn ich konnte nur über Sachen schreiben, worüber ich persönliche Erfahrungen besaß. Ich entschied mich für Schizophrenie und begann eine Begebenheit in Graz, als ich noch Germanistikstudent gewesen war, niederzuschreiben. Als ich eine Ausstellung von Ingeborg Bachmann im Literaturhaus besucht hatte und auf großen Tafeln autobiographische Sätze von ihr über die Zeit des 2. Weltkrieges notiert gewesen waren. Die Sätze hatten mich so in ihren Bann gezogen, ich hatte die Stimme von Ingeborg Bachmann so eindringlich in meinem Kopf gehört, dass es mir vorgekommen war als würden mich schwarze Fäden immer näher an die Sätze heranziehen. Unter den Tafeln hatten sich sogar Blutlachen gebildet. Ich war auf die Knie gesunken, so sehr nahm es mich emotional mit.
Gerade als ich dabei war das auszuformulieren, trat der Typ ohne Namen an meinen Arbeitsplatz heran und begann sich über mich lächerlich zu machen, was das soll, was ich mir einbilde. Zu glauben, schreiben zu können und überhaupt würde schon niemand die richtigen Schriftsteller lesen. Er hatte wohl mal ein Praktikum in der Redaktion eines Boulevardblattes gemacht und meinte nun, die Koryphäe im Bereich Schreiben zu sein. Ich muss zugeben, ich konnte es nicht ganz ignorieren und so hörte ich für diesen Tag zu schreiben auf.


Kapitel 7

Am Freitag ließen wir es etwas ruhiger angehen. Wir hatten wieder Computertraining. Die Drecksarbeit war jedoch schon erledigt und so machten wir uns daran einzelne Rechner zusammenzusetzen. Ram war immer knapp, denn die Administratoren in den Firmen, von denen wir die alten, ausgemusterten Rechner bekamen, bauten den Ram gerne aus, um aktive Rechner damit zu erweitern.
Norbert, Paul – die beiden hatten Jahrzehnte in einer Fabrik gearbeitet und waren, nachdem die Fabrik Pleite gemacht hatte, durch eine Arbeitsstiftung in unser Programm gekommen – Peter und ich setzten also die Computerteile zusammen. Paul brauchte dabei Hilfe von unserem Trainer, denn er war immer sehr zaghaft und als Tischler hatte er nie viel mit Elektronik zu tun gehabt. Norbert dagegen hatte privat schon immer viel mit Computertechnik experimentiert.
Das Verkabeln der einzelnen Komponenten hatte gut funktioniert und so begannen wir Windows aufzusetzen, was auch nicht schwierig war, aber viel Zeit beanspruchte, vor allem das Einspielen der ganzen Updates. Es blieb also viel Zeit zum Quatschen. Unser Trainer versprach uns für nächste Woche einen Ausflug zu machen. Wir würden zu einem großen Industriebetrieb fahren um dort ausgemusterte Rechner zu holen. Das würde sicherlich interessant werden.
Auch versuchte unser Trainer Hans zur Mitarbeit zu bewegen. Hans hatte ihm einmal erzählt, dass er vor Jahren die Homepage seiner freiwilligen Feuerwehr gestaltet hatte. Das war der Anknüpfungspunkt für unsern Trainer. Er zeigte ihm im Internet verschiedene CMS-Systeme, also Sachen wie WordPress und Drupal, Systeme mit denen man moderne Homepages gestalten konnte. Hans schien interessiert.
Auch um Sabrina kümmerte sich unser Trainer. Sie konnte nicht Maschinschreiben. Unser Trainer fand auch hierfür Lernhilfen im Internet.
Unser Trainer war selbst Autodidakt und hatte im Leben schon die verschiedensten Jobs gemacht und überall in Österreich gelebt. Er konnte gut mit jedem.
Manuela ließ er aber in Ruhe. Man konnte spüren, dass sie heute keinen guten Tag hatte. Es war als schwebten Gewitterwolken über ihr. Sie ging auch mehrmals ins Büro unserer Leiterinnen.
Als das Büro einmal frei war, ging auch ich zum ersten Mal hinein. Die Leiterinnen frugen mich gleich, wie ich zurechtgekommen war und ich sagte ganz gut und dass es mir sehr gefalle, was auch der Wahrheit entsprach. Ich entschuldigte mich auch sofort, dass ich an den Entspannungsübungen nicht teilnahm, weil es meine Vergangenheit mit der Schizophrenie verhinderte und sie verstanden das. Auch bat ich ab nächster Woche ganztags teilnehmen zu dürfen, irgendwie wollte ich keine Zeit verlieren. Auch hier willigten sie ein, obwohl es unüblich war. Normalerweise bekam man immer mindestens zwei Wochen Eingewöhnungsphase.
Ich sprach auch an, dass ich mir Sorgen machte um Peter und dessen Internetsucht. Sie wiesen mich aber in die Schranken. Ich könne mich gerne mit ihm unterhalten, aber ich sollte mir verbitten an ihm herumzudoktern.
Vor allem die jüngere der Leiterinen fand ich sympathisch. Auch sie war ungefähr in meinem Alter. Sie hatte langes, blondes Haar und sah sehr sportlich aus. Ich würde noch oft das Gespräch mit ihr suchen.
Der Freitag verflog irgendwie wie im Flug. Gerade so wurden die Updates fertig und ich installierte noch einige kostenlose Programme, die auf keinem Rechner fehlen sollten. Sachen wie Acrobat Reader, VLC Media Player etc.
Ich war richtig stolz als ich den fertigen Rechner, meinen ersten, ins Regal schob, bereit von einem finanziell Schwachen für einen symbolischen Betrag erworben zu werden.
Wir alle freuten uns aufs Wochenende, so wie wahrscheinlich jeder Mensch in Österreich. Irgendwie fühlte sich das Programm wie ein Job an und ich war stolz die erste Woche eines neuen Jobs erfolgreich absolviert zu haben.


Kapitel 8
Montagmorgen nahm ich nicht den Zug, wie sonst üblich, sondern setzte mich in mein Auto um die einstündige Strecke zwischen meinen Wohnort und Villach hinter mich zu bringen. Ich hatte einen Termin bei der Ärztin für meine Spritze. Eigentlich war es kein richtiger Termin. Die Sprechstundenhilfe hatte nur gesagt, dass sie ab 9 Uhr Ordination hatten und dass es manchmal länger dauern könnte, da Akutpatienten den Wartenden oft vorgezogen würden.
Ich stellte mich also auf eine längere Wartezeit ein.
Mein Autoradio war schon mit einem USB-Anschluss ausgestattet und so war ich nicht auf die öffentlichen und privaten Radiostationen und den Chartmüll, den sie bevorzugten zu spielen, wahrscheinlich wurden sie sogar gut dafür bezahlt, angewiesen. Ich konnte mir meine eigene Playlist aus meinen Lieblingstiteln zusammenstellen. Ich hatte hunderte Songs auf meinem Stick gespeichert.
Ich wusste nicht, was mich bei der Ärztin erwarten würde. Würde sie mir nur meine Depot-Spritze geben, was nur einige Minuten dauerte, wovon der Löwenanteil auf die Vorbereitung entfiel, denn man bekam ein ganzes Set. Mit Serum, Lösungsmittel, Aufsätzen und Spritzen für den Po oder den Oberarm. Ich kannte mich deshalb so gut damit auch, weil ich vor Jahren schon einmal diese Spritze bekommen hatte. Damals hatte ich auch bei meinen Eltern gelebt und ich hatte die Spritze selbst vorbereitet, damit mein Vater, der Arzt gewesen war, sie mir verabreichen konnte. Jetzt war er krankheitsbedingt dazu nicht mehr in der Lage.
Ich wünschte mir so sehr eine Gesprächspartnerin in der Ärztin zu finden. Jemanden den ich vertrauen konnte. Ich hatte selten über meine Schizophrenie mit jemanden sprechen könnten und nie im vollen Umfang. Manchmal hatten sich meine schizophrenen Episoden über Wochen, ja sogar Monate hingezogen. Ich hatte meist allein gelebt oder ansonsten meine schizophrenen Gedanken vor meinen Mitbewohnern versteckt. Meist hatte die Schizophrenie selbst dafür gesorgt, den oftmals, ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll, hatte sie mir mitgeteilt, dass alles, was ich denke geheim ist und geheim bleiben muss. Dass man sich darüber nur telepathisch austauschte und das hatte ich oft getan. Ich hatte telepathisch mit der ganzen Welt kommuniziert. Mit meinen Mitstudenten, mit den paar Freunden, die ich hatte, mit Künstlern, die ich mochte, mit Professoren, die mich beeinflusst hatten. Manchmal sogar mit religiösen Führern.
Oftmals hatte es lange gedauert, bis ich nicht mehr den äußeren Schein waren hatte können. Manchmal hatte ich ganze Semester studieren können und sogar eine normale Anzahl an Semesterwochenstunden mit sogar oft ausgezeichneten Noten absolvieren können und war dabei nebenbei komplett schizophren gewesen. Anfangs sind Studien in Österreich vielleicht zu leicht. Die Professoren fangen wieder bei null an, denn sie konnten sich nicht darauf verlassen, dass man in den Gymnasien irgendwas gelernt hatte, so schien es jedenfalls. Dieser Anfang war oft spielerisch. Man bekam kurze Ausschnitte der Materie serviert. Man ging jedoch noch nicht wirklich in die Tiefe. Darin war ich gut, sogar sehr gut. Ich konnte gut Texte analysieren und Aussagen auf richtig und falsch bewerten. Irgendwann wurde jedes Studium jedoch anders. Es ging nicht mehr ums Analysieren, sondern darum Unmengen an Stoff auswendig zu lernen oder aber man musste in Mathematik brillieren können. Für beides hatte ich kein Talent. Und so war ich in den ersten Semestern immer einer der besten Studenten gewesen und dann, wenn der Bruch kam, konnte ich nicht mehr mit. Ich hatte es mit Wirtschaft versucht und war gut gewesen in den Nebenfächern Jus und Soziologie. In Englisch und historischen Wirtschaftswissenschaften, aber nie in Mathematik und daran war ich gescheitert. Ich war dann drogenabhängig geworden und nur sporadisch auf die Universität gegangen. Auf der Universität hatte ich immer mehr den Anschluss verloren und es wurde es immer schwieriger überhaupt hinzugehen. Als ich dann fast gar nicht mehr vor die Tür gegangen war und wenn nur um Lebensmittel oder etwas in der Richtung einzukaufen, hatte ich begonnen viel Literatur zu lesen und mich selbst auf Literaturplattformen auszudrücken, indem ich Texte verfasste oder Texte anderer kritisierte. Das, was für viele ein Hobby war und dessen Qualität vielleicht nicht der Rede wert war, wurde eigentlich zum meinem Hauptlebenszweck.
Den ersten Text, den ich jemals geschrieben habe, schickte ich zum einem Literaturpreis und wurde prompt zu einer Lesung eingeladen. Ob es an der Qualität meines Textes lag oder daran, dass der Jury-Vorsitzende ein Bekannter meines Großonkels gewesen war, kann ich immer noch nicht mit Sicherheit sagen.
Literatur war für mich immer so etwas wie Flucht gewesen. Das Letzte, was geblieben war, nachdem ich alles andere verloren hatte. In meiner Familie war Kunst nicht viel wert. Eben ein Hobby. Eine Narretei. Nicht einmal ein wirklich gutes Hobby. Besser wäre, man betätige sich sportlich oder ging zumindest an die frische Luft und in die Natur. Bücher zu lesen, war dekadent.
Trotzdem unterstützten mich dann meine Eltern als ich mein Studium von Wirtschaft auf Germanistik änderte. Das gleiche Spiel begann vor vorne. Die ersten Semester war ich wieder gut darin, Texte zu analysieren. Aber diesmal kam ich nicht an Fächern wie Sprachwandel und Sprachvariation vorbei, in denen es darum ging die Lautverschiebungen über die Jahrhunderte auswendig zu lernen. Ich hatte bis auf einer Professorin, die ich fast vergötterte, niemandem gesagt, dass ich gleich im ersten Semester Germanistik bei einem Literaturpreis las. Ich wollte die Aufmerksamkeit nicht, so es denn welche gegeben hätte. Ich wollte unsichtbar sein. Ich träume von Unsichtbarkeit schon mein ganzes Leben. Ich kann auch mit Neid nicht umgehen. Trotzdem war ich wie durch Zauberhand in jedem Schreibkurs der Germanistik. Und was tat ich? Ich las nicht nur die Bücher, die ich sollte, sondern begab mich auf die Suche nach einer Geheimsprache. Ich lieh mir auf der Bibliothek Unmengen von Büchern von christlichen Mystikern aus. Sachen von Teresa von Avila oder Meister Eckhart. Las in der Kabbala. Hatte sogar ein Buch über Hexerei.
Nebenbei begann ich mich selbst zu reinigen. Ich hörte auf zu rauchen bzw. rauchte Zigaretten nur mehr als Ritual. Drogen zu nehmen hatte ich schon vorher aufgegeben und habe nie mehr damit angefangen. Ich kaufte Lebensmittel nur mehr in Ausnahmefällen im Supermarkt und dort studierte ich immer die Ablaufdaten. Ich dachte nämlich durch deren Zahlenmystik könnte man herausfinden, ob es sich um ein energetisch gutes oder schlechtes Lebensmittel handelte.
Ich ging oft auf den Markt und kaufte dort nicht die schönen Lebensmittel, sondern welche von Marktstandlern, die ich als gute Menschen einschätzte. Den nur wer selbst ein guter Mensch war, konnte auch gute Lebensmittel herstellen. Den Akt des Kaufens dieser Lebensmittel betrachtete ich als energetische Handlung, so wie alles eine energetische Handlung war. Und ich Ex-Junkie, der so einen schlechten Einfluss auf seinen eigenen Bruder und seinen kleinen Freundeskreis hatte, den bei mir auf der Couch hatten sich die meisten Leute immer weggetan, wollte endlich ein guter Mensch werden.
Es war eine Notwendigkeit, denn nur gute Menschen können gute Texte schreiben. In den Schreibkursen, wo es darum ging dramatische Texte zu verfassen, schrieb ich kryptischen Scheiß, darüber dass mich der Teufel endlich in Ruhe lassen solle. Ich schrie in an. Ich bespuckte ihn. Mein Lehrer verstand die Texte aber nicht und ich durfte sie nicht erklären.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, als ich das erste Mal eine Stimme hörte. Es war auf dem Weg zur Uni, neben dem modernen Glaskomplex der Wirtschaftswissenschaften auf dem Weg zu einer Vorlesung über moderne Literatur der Germanistik. Ich hatte in der Früh mich wieder mit Religion beschäftigt und war über die Seiten der theologischen Fakultät gesurft, um zu sehen, welche Lehrveranstaltungen sie im Angebot hatten. Auf der Homepage der Religionswissenschaften, deren Lehrveranstaltungsangebot am verheißungsvollsten war, war ich an dem Bild einer Professorin hängengeblieben. Ihre Stimme hörte ich dann. Sie bot an mich auszubilden. Nach der Vorlesung, bei der ich nur physisch anwesend war, ging ich auf die Bibliothek und lieh mir jedes Buch, dass diese Professorin jemals geschrieben hatte aus.
Ich belästigte diese Professorin niemals. Ich ging nie in einer ihrer Lehrveranstaltungen. Ich traf sie, soweit ich weiß, nie persönlich. Nur manchmal, wenn ich spazieren ging und ich machte jeden Tag immer ausgedehntere Spaziergänge, irgendwie um zu sehen, ob in der Welt noch alles beim Rechten wäre, ging ich an den Religionswissenschaften vorbei, die in einer kleinen unscheinbaren Seitengasse gelegen waren.
Aber in Gedanken habe ich mit dieser Professorin jeden Tag gesprochen. Sie unterwies mich in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Wir gingen gemeinsam die Texte von Schriftstellern durch oder auch Songtexte. Wir unterteilten die gesamte Kulturwelt in Gut und Böse. Stellten fest, an welchen Sätzen, dass festzumachen sei. Wo man eingreifen müsste um einen positiven Schluss zu ziehen.
Darüber wollte ich mit der Psychiaterin sprechen und über noch so vieles mehr, denn das war nur der Anfang meines Wahns. Ich legte also die Strecke nach Villach in Trance, in Gedanken versunken zurück und grübelte viel über meine Grazer Zeit nach. Nebenbei hörte ich die gleichen drei Lieder immer und immer wieder.
Ich parkte nahe dem Rathaus auf einem großen privaten Parkplatz. Die Praxis der Psychiaterin war in Flussnähe gelegen. Ich wählte den Weg dahin so, dass ich über den Villacher Hauptplatz musste, obwohl der Weg so etwas länger war. Aber ich wollte nicht alleine durch Seitengassen gehen, sondern mich in Mitten von Menschen bewegen. Manchmal erscheint es mir nämlich so, als würden wir uns gegenseitig, alleine durch unsere Präsenz, erden und ich wollte wieder aus einem Gedankenstrudel über meine Vergangenheit heraus. Gleichzeitig widerte mich der Hauptplatz aber an. Die ganzen Modegeschäfte, die Banken und die Fastfoodketten. Die ganze Oberflächlichkeit Österreichs kam mir vor Augen, denn das, was wirklich wichtig ist, findet man in Österreich nicht auf den Hauptplätzen, nicht mal in den Seitengassen, wo in Villach die ganzen Bars und Cafés lagen, sondern nur im Privaten. Dort finden die zwischenmenschlichen Begegnungen statt. Liebe und Freundschaft und solche Dinge.
Die Eingangstür des Wohnhauses, worin die Praxis lag, stand offen und ich fuhr mit dem Lift hinauf. Ich setzte mich in Wartezimmer, in dem schon viele warteten und das zu klein und zu stickig war für alle. Ich schnappte mir eine Illustrierte und tat so als würde ich interessiert lesen. In Wahrheit half es mir nur die ganzen anderen Patienten zu ignorieren und so die räumliche Enge zumindest erträglich zu machen.
Das Warten zog sich hin. Es war jetzt schon halb elf und als ein junger Mann, der erst ein paar Minuten hier war, aufgerufen wurde, verlor meine Sitznachbarin die Nerven und sie fing sich lautstark zu beschweren an. Ich tat irgendwie so als würde mich das alles gar nichts angehen. Ich dachte an nichts und überflog auf meinem Smartphone, die Online-Ausgabe einer Zeitung, bei der ich auch hin und wieder Kommentare schrieb. Nicht, dass ich wirklich viel Interesse an den Artikeln hatte, ich las eigentlich nur um die Zeit totzuschlagen und dieser Ort des Wartezimmers war auch äußerst unpassend dafür, über mich selbst nachzudenken. Ich wünschte mir nur, ich hätte meine InEar-Kopfhörer dabei, dann könnte ich wenigstens Musik hören.
Um 11 wurde ich dann aufgerufen und ich schnappte mir mein Spritzenset, das die ganze Zeit auf meinen Beinen gelegen war, während ich so dagesessen hatte.
Die Ordinationshilfe war mit etwas ganz anderem beschäftigt, als ich das Durchgangszimmer betrat. Das Formelle und die E-Karte hatte ich ihr schon gegeben als ich die Praxis vor zwei Stunden betreten hatte. So wies sie mich nur an gleich ins Zimmer der Ärztin einzutreten.
Die Ärztin sah mit ihrer ungewöhnlichen Frisur, auf der rechten Seite hatte sie langes schwarzes Haar, auf der linken Seite waren die Haare kurzrasiert, aus wie eine alte Punkerin, die es zufällig in einen weißen Arztkittel verschlagen hat. Sie war mir sofort sympathisch.
Sie nahm mir das Spritzenset ab und begann die Gebrauchsanweisung zu lesen. Ich bot an ihr zu helfen, weil ich ja Erfahrung damit hätte, und so erklärte ich es ihr.
Sie begann sich nach meinen Lebensumständen zu erkundigen und ob das meine erste schizophrene Episode gewesen war. Wir hatten uns inzwischen an dem großen Schreibtisch gesetzt. Sie auf der einen, ich auf der anderen Seite.
Ich erzählte ihr vom Programm des Ams, das ich besuchte und dass ich Moment wieder zu Hause lebte, nachdem ich meine Studien abgebrochen hatte und Arbeit gegangen war.
Sie kannte das Programm sogar, weil auch andere Patienten von ihr dort teilnahmen. Ich wollte nicht fragen, wer das denn sei.
Ich sagte ihr, dass diese Episode halb so schlimm gewesen war und ich gut reagiert hatte und nicht wie schon öfters wochenlang durch die Stadt geirrt war.
Sie frug mich, ob ich Drogen nehmen würde. Ich verneinte und sagte, ich hätte Drogen genommen, aber das wäre jetzt schon zehn Jahre her und dass die Schizophrenie erst ein oder zwei Jahre später zum ersten Mal aufgetaucht war.
Sie sagte, dass es aber trotzdem dazu beigetragen haben konnte und ich keine Drogen mehr nehmen soll, weil ich sie nicht vertragen würde.
Sie schüttelte jetzt die Spritze und das angeschlossene Wirkstoffbehältnis, damit Wirkstoff und Lösungsmittel sich gut vermischten. Das sah bei jedem irgendwie witzig aus.
Sie frug mich, ob ich im Moment irgendwelche Symptome hätte. Ich erklärte wahrheitsgemäß, dass ich seit einer guten Woche keine Stimmen hörte und nur manchmal mir bei Fremden dachte, dass sie mich kennen würden, aber dass auch das nur selten der Fall wäre.
Sie hielt das Programm wirklich für gut und sagte mir, ich solle die Zeit nutzen wieder stabiler zu werden. Sie kenne sonst keine bessere Alternative. Ich kannte auch keine.
Ich zog mein Hemd aus und sie desinfizierte die Stelle an meinem Oberarm, wo er der Einstich stattfinden würde. Als sie die Spritze ansetzte und injizierte, zuckte mein Muskel ein wenig.
Ich erklärte meine Schizophrenie nicht. Es fühlte sich noch nicht richtig an, denn ich wollte nicht den Anschein erwecken, als dass ich darauf stolz wäre, obwohl es die intensivsten Gefühle waren, die ich jemals in meinem Leben empfunden hatte. Ich wusste, dass das alles nur in meinem Kopf stattgefunden hatte und somit nur für mich real war, denn leider waren meine schizophrenen Episoden als das gespeichert, als intensive Erinnerungen.
Wir verabschiedeten uns. Ich war zufrieden. Die Ärztin war verständnisvoll und gleichzeitig nicht gefühlsdusselig gewesen. Vor allem aber hat sie mich als Mensch behandelt und nicht als Patienten. Das sind die besten Ärzte, die die jemanden als Mensch behandeln.
Ein Satz vom Gespräch mit den beiden Leiterinnen fiel mir. Die Jüngere hatte gesagt, dass es hier nicht um Krankheiten ginge, das wären nur Begriffe, sondern um Menschen.


Kapitel 9

Ich fuhr zu unserer Schulungseinrichtung und kam dort genau richtig zu Mittagspause an. Wir bekamen täglich 5,50 Euro an Essensmarken und die gab ich meist für das Mittagessen aus. Im großen, nahegelegenen Supermarkt gab es ein angeschlossenes Restaurant. Das Restaurant war auch das einzige in der Gegend, das die Essensmarken akzeptierte, aber nur das Restaurant, nicht der Supermarkt selbst.
Norbert und Paul saßen schon an einem Tisch und aßen, ich setzte, nachdem ich mir mein Essen selbst geholt hatte, denn das war ein Selbstbedienungsrestaurant, mich nicht zu ihnen. Ich war heute schon wieder genug unter Menschen gewesen, man denke nur an das volle Wartezimmer. Mein Kontingent an verkraftbaren menschlichen Begegnungen war endlich, wenn nicht sogar überschaubar. Überschritt ich diese Grenze, kam mir jedes Gespräch wie Lärm vor, der meine Nerven strapazierte. Sie nahmen es mir wahrscheinlich übel. Wochen später fragte mich nämlich einer der beiden, ob ich mich für etwas Besseres hielte.
Diesen Eindruck konnte man gewinnen, auch wenn es nicht der Fall war. Ich hielt mich selbst nämlich im Gegenteil für menschlichen Abschaum, denn jeder, den ich kannte, hatte im Leben schon mehr geleistet als ich. Entweder mehr gearbeitet, schneller und erfolgreicher studiert oder hatte im Privatleben so etwas Großartiges geleistet, wie Kinder aufzuziehen.
Ein Bekannter meines Vaters hatte mich einmal als Parasit bezeichnet. Vielleicht war ich das und hätte ich nicht meine Krankheit, dann spräche überhaupt nichts gegen diese Auffassung.
Aber was war meine Krankheit schon? War ich in einer akuten schizophrenen Episode, nahm ich sie nicht als Krankheit war. Im Gegenteil die Gedanken hatten eine große Faszination und Anziehungskraft. Ich war etwas Besonderes, fast schon ein Art Auserwählter und die Welt war geheimnisvoll. Nie kam mir währenddessen in den Sinn, wie verrückt das alles war. Oft folgte ich der schizophrenen Episode mit all meinem Herzen und Verstand.
Und wenn ich dann Wochen oder Monate später aufwachte, hatte sich die Welt ohne mich weitergedreht und das Studium oder jetzt sogar schon die Studien waren verloren. In unserer heutigen Welt kann man es nicht leisten, einmal ein paar Wochen nicht Teil von ihr zu sein. Die Erfordernisse an Konstanz unserer modernen Welt sind so absurd hoch, wenn man darüber nachdenkt, dass es verhinderte, dass vielleicht durchaus begabte Menschen, die jedoch diese Konstanz nicht hatten, außen vor bleiben mussten.
Oft waren ganze Städte verbrannt. Städte, die mich aufgenommen hatten und mir Chancen geboten hatten. Graz war solche verbrannte Erde. Ich hatte mich in den letzten Jahren genau einmal nach Graz getraut, um alte Freunde zu treffen, und dabei am ganzen Leib gezittert. Zu präsent waren die Erinnerungen. Zu schwer, war es zu zuordnen, was nur in meinem Kopf passiert und was die Außenwelt mitbekommen hatte.
Graz eine eigentlich großartige Stadt ist für mich ein einziges Traumagebiet.


Als wir das Selbstbedienungsrestaurant verließen um zu den nachmittäglichen Kursen zugehen, beobachtete ich die Hilfsköchin, die hinter dem Grill stand. Ich kannte sie schon von den Busfahrten in der Früh, denn sie nahm immer den gleichen Bus wie wir.
Ich bekam Schuldgefühle, weil sie jeden Tag das Gleiche tun musste und nicht das Privileg hatte, so wie wir, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Vielleicht waren wir zwar nicht auf einer Universität und ich war auf vielen Universitäten gewesen, aber so zumindest kam es mir manchmal vor, waren wir im Harvard für Arbeitslose.
Unsere Lehrer waren vielleicht keine Universitätsprofessoren, deren fast enzyklopädisches Wissen sicherlich beeindruckend ist, aber wie oben schon besprochen, stand bei uns der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Fach.
Bei uns kam ein Vortragender auf ein Dutzend Zuhörende. Das ist vielleicht sogar besser als in Harvard.
Vielleicht sind diese Gedanken auch nur dem Stockholmsyndrom zuzuordnen, den manchmal denke ich, dass die klügste Person im Raum die Gedanken aller anderen ordnet, so diese das auch zulassen und unser Vortragenden hatten keine Doktortitel oder gleich mehrere davon.

Jedenfalls aber war ich hier zu richtigen Zeit und es gibt eine richtige Zeit für alles im Leben.
Ich war so sozial inkompetent, dass ich vielleicht nur unter Personen funktionierte, die genauso inkompetent waren wie ich.
Ich Junkie, der Zeit seines Lebens ein Spielball von Süchten war, hatte gerade erst meine Computerspielsucht überwunden, die so heftig gewesen war, wie eine Sucht nur sein kann und hielt mich jetzt von Computerspielen fern, weil ich andere dabei beobachtete, wie sehr sie ihre Lebenszeit damit vergeudeten.
Einzig Religion kam bei uns nicht vor. Aus welchem Grund auch immer. Aber auch auf Universitäten kam Religion nicht vor. Ich beschäftige mich übrigens wieder mit Religion jetzt, wo ich diese Zeilen niederschreibe und kann es jedem nur anraten. Ich möchte denken wie ein Jesuit und wünschte, ich hätte die Kraft zu leben wie einer.
Oft denke ich, dass alles weltliche Wissen ohne die richtige geistliche Führung nur in die Irre führt. So schwer es mir manchmal fällt an Jesus Christus zu glauben, so sehr glaube ich an jeden Ordensmann und jede Ordensfrau. Christ zu sein ist schwer. Einmal hatte ich meinen Wahn sogar einen Stein an der Synagoge in Graz abgelegt, weil ich unbewusst vielleicht Jude werden wollte.
Jedenfalls fühle ich mich Juden verbunden. Auch ich wäre unter Hitler getötet worden. Deshalb sind Hitler aber auch Goebbels noch immer Todfeinde von mir. Und jeder Österreicher sollte ausspucken vor den Gedanken dieser Dämonen, die selbst in die Träume der Menschen eindrangen, wie es Bob Dylan andeutete. Zum richtigen Fluchen auf diese beiden sind noch nicht die richtigen Worte gefunden worden.
Monate später führte ich unsere Gruppe in die Villacher Innenstadt. Eigentlich hatte unsere Vortragende Marion vorgeschlagen wieder einen Spaziergang zu machen und vielleicht uns selbst zu spüren, indem wir mit nackten Füßen durch das nasse Gras laufen würden.
Aber an diesem Tag hatte ich die Nase voll davon mich mit mir selbst zu beschäftigen und am Rand der Stadt unter Ausschluss der Öffentlichkeit meine Runde zu drehen. Ich wusste, dass in der Innenstadt gerade Stolpersteine, die an jüdische Opfer erinnerten, verlegt worden waren.
Marion wollte zuerst ablehnen. Auch die anderen in der Gruppe waren nicht gerade begeistert, denn es war brütend heiß und die Innenstadt einen Fußmarsch von einer Stunde entfernt.
Trotzdem, nach einigem Hin und Her, machten sich alle auf den Weg und wir gingen jeden Stolperstein ab und lasen jede Informationstafel. Vielleicht wurden wir dabei auch selbst zu Stolpersteinen. Jesuiten würden sich nämlich nicht fragen, was bei uns falsch gelaufen war, dass wir arbeitslos und psychisch krank geworden waren, sondern was in der Gesellschaft falsch läuft, dass wir arbeitslos und psychisch krank waren.

Kapitel 10

Heute hatte ich Gewitter im Kopf. Erinnerungen stiegen in mir hoch und ich sinnierte ihnen nach. Ich konnte kaum der Diskussionsrunde folgen, die sich entwickelt hatte.
Ich überinterpretierte wieder einmal menschliche Gesten und dachte ich könnte mit den Energien der Gruppe spielen, sie verschieben, so dass dem, der gerade spricht, die Lebensenergie der ganzen Gruppe zufließen würde und beides, Gedanken und Worte, klarer werden würden.
Ich wollte ausgleichen zwischen den beiden Parteien, die sich darüber gebildet hatten, ob sich Mediziner wirklich und uneigennützig um uns kümmerten oder ob sie nur „Agenten der Pharmamafia“ waren, wie es Hans sagte.
Ich konnte Hans verstehen. Ich nahm jetzt schon über ein Jahrzehnt Psychopharmaka und wann immer ich mit meiner Persönlichkeit unzufrieden war, mit meiner Unfähigkeit tiefe Empfindungen zu haben z.B. schob ich es auf die Psychopharmaka. Nur wenn ich sie absetzte, dann hatte ich zwar Gefühle, aber diese waren dann so überwältigend, dass ich jeden Lebensbezug verlor und aus jedem menschlichen Beziehungsgeflecht, das ich mir manchmal so mühevoll aufgebaut hatte, flog.
Oft denke ich, das ist das was bei der Behandlung von psychisch Kranken noch fehlt, dass sie auch das Recht hatten zu empfinden. Ein Mensch ohne Empfindungen ist eine leere Hülle. Der Lebensfunke fehlt ihm. Vieles bei der Behandlung von psychisch Kranken ist richtig in Österreich und wir haben einen langen Weg hinter uns. Wir hier bekamen jede Unterstützung, die man sich nur vorstellen konnte.
Von Verhaltenstherapie angefangen über kostenlose Gesprächstherapie bis hin zur Kunsttherapie.
Mir war bewusst, dass sich viele Leute den Kopf darüber zerbrochen hatten, wie unser Programm auszusehen hatte.
Einzig intellektuell wurde sich nicht auseinandergesetzt mit unserer Krankheit, aber das holte ich mir selbst. Ich hatte begonnen online Psychologie-Vorlesungen amerikanischer Universitäten in der Früh anzusehen. Ich wollte zu einem Experten meiner eigenen Erkrankung werden.
Ich verließ unseren Gruppenraum und ging zuerst auf die Terrasse. Natürlich rauchte ich, aber das war nicht der Grund, warum ich auf die Terrasse gegangen war. Manchmal hatte ich mir angewöhnt, auch körperlich meine geistigen Bedürfnisse auszudrücken. Ich wollte wieder Frieden haben vor meinen Emotionen und meinen Erinnerungen und Traumatas.
Ich konzentrierte mich, atmete tief ein und formte mit den Daumen und Zeigefingern beider Hände ein Dreieck. Langsam führte ich so meine Arme von meinem Herzen weg und so auch alles, was in mir hochstieg und hoffentlich auch den Wahn. Ich konnte nur beten, dass es funktionierte.
Ich ging wieder hinein und suchte den Kunstraum auf. Dort war Martin ganz vertieft in seine Malerei. Er mischte gerade eine neue Farbe zusammen. Ich nutzte die Chance und sprach ihn an. Ich brauchte dringend Freunde, obwohl ich wusste, dass hier eine Freundschaft zu schließen schwierig sein würde, denn wir alle wollten nicht zu viel von uns offenbaren. Einfach weil wir so viele Probleme hatten.
Martin malte gerade an einem Gemälde, indem aus einer Theke eine U-Bahn wurde. Das Gemälde hatte eine unheimliche Dynamik.
Wir kamen tatsächlich ins Gespräch. Martin zeigte mir alle Werke, an denen er in den letzten Wochen gearbeitet hatte. Martin war ganz aufgedreht und hektisch. Sein Redefluss war kaum zu stoppen.
Am meisten gefiel mir ein Bild einer Hip-Hop-Band, von der ich noch nie gehört hatte. Die MCs sahen alle aus wie kubanische Revolutionäre. Martin war, was Musik anbelangt, so underground, dass ich nicht mitkam. Ich war eher alternativ mainstream und irgendwie in den 90ern hängengeblieben. Ich hörte immer noch Oasis oder Fiona Apple, ich bin ja seit einem Jahrzehnt so verknallt in Fiona Apple, oder Pearl Jam. In den 90ern war meine Welt noch in Ordnung gewesen.
Ich erzählte Martin von einem Art Brut-Museum, das ich in Lausanne besucht hatte, als mein Bruder dort studiert hatte. Die Rohheit und Direktheit der Kunst hatten mich umgehauen. Begriff ich mich selbst als Künstler und das war nur selten der Fall, begriff ich mich auch als Art Brut-Künstler.
Es ist schön einen Menschen über seine Kunst kennenzulernen und ich hatte das Gespräch wirklich genossen. Ich war fast enttäuscht, als unsere Mittagspause gekommen war und wir uns profaneren Dingen widmeten. Martin fuhr zu seiner Freundin nach Hause und ich ging essen.

Kapitel 11

Wir alle trudelten meistens recht pünktlich ein. Unser Bus ließ den meisten von uns auch keine andere Wahl. Paul und Norbert fuhren aber immer gemeinsam mit dem Auto. Sie wechselten sich dabei ab. Unser Informatiklehrer hatte vergangenen Freitag Paul gebeten eine Halterung für einen alten Beamer, den er organisiert hatte, zu konstruieren. Paul hatte zu Hause eine kleine Werkstatt für Holzbearbeitung. Diese Halterung sollte rings um eine der Säulen führen. So könnten unsere Vortragenden endlich auch Power Point Präsentationen verwenden.
Gemeinsam trugen Paul und Norbert die Holzplattform herein in unseren Raum. Sie glänzte wie ein mit Speck poliertes Osterei. Man sah die schöne Maserung ganz genau.
Sie stellten sie auf dem Tisch in der Mitte ab. Paul ging nochmal zum Auto hinunter um Werkzeug zu holen.
Als er zurückkam, ging Manuela auf die beiden zu. Sie lobte Paul für seine Arbeit. Zu Recht. Die Halterung war wunderschön. Ich könnte das nicht. Manuela strich mit ihren Fingern über das Holz, so wie man es bei einem neuen Möbelstück macht.
Paul hatte, wie kann ich es ausdrücken, einen nervösen Tick. Er war zaun-dürr und alles erschöpfte ihn schnell.
Paul kletterte neben der Säule auf einen der Tische. Norbert und ich reichten ihm die Halterung hoch. Die Rundung der Halterung passte genau zur Rundung der Säule. Paul fixierte sie vorne mit einer langen Schraube und stieg dann wieder herunter.
Er ließ sich erschöpft in seinen Sessel fallen. Er sah aus, als hätte er gerade den Kilimandscharo bestiegen.
Unser Computertrainer und die Jüngere der Leiterinnen betraten gemeinsam den Raum. Sie erkundigte sich nach Klaus. Klaus war die letzten zwei Tage nicht aufgetaucht.
Martin sagte, dass er in gestern in der Ossiacher Zeile gehen gesehen hatte. Klaus war in ganz Villach stadtbekannt. Man sagte Spaziergänger zu ihm. Mir hatte er einmal erzählt, dass er jedes Angebot in den verschiedenen Supermärkten ausnützte und deshalb so viel zu Fuß unterwegs war.
Auch heute hatte noch keiner von uns Klaus gesehen.
Unser Trainer ging zur Säule und musterte die Halterung ganz genau. Auch er lobte Paul über den grünen Klee.
Paul war das peinlich.
Unser Trainer wies Peter an den Beamer raufzustellen. Nach Anweisung unseres Trainers kalibrierte Peter den Beamer bis das Bild gestochen scharf, auch wenn es etwas blass blieb, denn es war ein sehr alter, lichtschwacher Beamer.
Manuela sagte zuckersüß, dass wir das ausnützen müssten. Sie war ein großer Filmfan. Sie sagte, dass wir ja die letzten Wochen brav gewesen wären und fragte, ob wir nicht als Belohnung heute einmal einen Film ansehen dürften.
Unser Trainer hatte nichts dagegen. Wir hatten uns die letzten Wochen wirklich bemüht.
Als Belohnung durfte sich Paul den Film aussuchen. Manuela hatte nämlich ein ganzes Sortiment an Filmen auf einer Festplatte dabei. Manchmal nutzte sie nämlich die schnelle Internetverbindung unseres Schulungszentrums dafür sich Filme runterzuladen.
Paul suchte sich Fack Ju Göhte aus. Wir alle lachten viel als wir den Film sahen. Die Frauen in unsere Runde zogen Elyas M. Barek mit den Augen aus, so denn dieser nicht sowieso halb nackt war.
Gegen Ende des Films tauchte Klaus auf. Er sagte kein Wort und setzte sich still und leise auf seinen Platz.
Seine Haare waren ungewaschen. Alle Poren dünsteten Alkohol aus. Er musste gestern stock besoffen gewesen sein. Auch wenn es nicht den Anschein machte, als hätte er heute etwas getrunken.
Zumindest war er wiedergekommen.

Kapitel 12

Wir hatten heute Sabrina gegen eine Neue eingetauscht. Sabrina würde aber wieder zurückkommen, denn sie machte nur ein paar Tage ein Verkaufspraktikum bei einem renommierten Trachtenmodegeschäft. Wir alle sollten hin und wieder Praktika machten. Wir hatten dafür sogar eigens dafür einen Ansprechpartner. Ich selbst war aber noch zu kurz im Programm für Praktika. Vielleicht war ich noch zu unberechenbar.
Die Neue sah aus, als wäre sie gerade durch einen Regenbogen gelaufen. Sie hatte rot gefärbtes Haar und jedes ihrer Kleidungsstücke hatte eine andere grelle Farbe.
Zwei Tische entfernt musste deshalb zusammengerückt werden, denn ab sofort teilte sie sich einen der großen Schreibtische mit Peter. Dieser sah nicht gerade glücklich aus.
Ich half mit ihr einen Computerplatz einzurichten.
Sofort begann sie in zu personalisieren. Sie veränderte zuerst das Hintergrundbild am Desktop und druckte dann Bilder von Musikgruppen aus, die sie an der der Säule links von ihr anklebte.
Sie hieß Sarah und sie führte einen Blog. Das erzählte sie jedem. Auch ungefragt. Nebenbei arbeitete sie geringfügig als Roadie bei Konzerten. Auch das erzählte sie jedem.
Sie erzählte überhaupt viel. Eigentlich hielt sie nie die Klappe. Nach ein paar Stunden wusste ich mehr von ihr als von den anderen nach Wochen.
Obwohl sie unsere wohlgehütete Stille im Raum verletzte, fand ich sie amüsant, wenn nicht sogar interessant.
Heute hatten wir unsere Wirtschaftsinformatikerin Lena als Vortragende. Manchmal kommt es mir so vor, als studiere heutzutage jeder nur noch irgendwas mit Informatik. Unsere Generation hatte wenigstens noch den Traum Künstler zu werden. Jetzt träumen alle davon ein dämliches Start-up zu gründen und irgendein weiteres überflüssiges Produkt zu verhökern.
Lena nutzte den Beamer sofort und präsentierte eines ihrer Referate, das sie auf der Uni gehalten hatte. Das Thema war die Manipulation durch Werbung. Man musste verstehen, dass sich unsere Vortragende nicht auf jede Stunde extra vorbereiten konnten und deshalb Material wiederverwerteten. Sie bekamen nur 20 Euro pro Stunde. Glaube ich zumindest.
Die Präsentation war gut. Vor allem hatte sie viele lustige Beispielvideos eingebaut.
Anschließend entstand eine rege Diskussion. Jeder versicherte, wie immun er gegenüber Werbung nicht wäre und dass er sowieso kaum mit Werbung in Berührung käme, weil er zum Beispiel immer den Kanal wechselte, sobald Werbung beginnen würde.
Klaus, unsere Teilnehmer mit Marketingstudium, hielt sich aber raus aus der Diskussion. Er war mehr damit beschäftigt, sich über einen Wertkarteninternetzugang schlau zu machen. Er hatte im Moment kein Internet. In manchen Ländern ist der Zugang zum Internet ein Grundrecht.
In einer der Pausen sprach er mich darauf an, ob wir im Moment einen fertigen Rechner hätten und wieviel die kosten würden.
Ich wusste, dass selbst die 20 Euro für Klaus viel Geld waren und deshalb bot ich ihm an, ihm den alten Laptop meiner Eltern zu leihen, den ich am Wochenende neu aufgesetzt hatte. Dessen Akku war zwar hinüber, aber ansonsten funktionierte er jetzt wieder einwandfrei.
Klaus sagte, vielleicht übergangsweise. Klaus wollte nichts geschenkt.
Ich antwortete, ich würde ihn morgen mitnehmen.
Er bedankte sich aufrichtig und sagt, dass er sich freue darauf online Zeitungen lesen zu können. Im Moment konnte er sich nur eine Wochenendausgabe einer Qualitätszeitung leisten.
Ich dachte daran, dass meine Eltern zwei Tageszeitungen und drei Magazine im Abo hatten und die manchmal nur flüchtig durchgeblättert würden.
Mein Verhältnis zu Zeitungen war widersprüchlich. Aus persönlichen Gründen. Ich hatte vor Jahren die Chance gehabt Journalismus zu studieren, weil ich eines der besten Testresultate gehabt hatte und so aus 500 Bewerbern einen Platz bekommen hätte.
Dann kam aber, Sie wissen ja, wieder einmal meine Schizophrenie dazwischen. Dieses Kapitel meines Lebens habe ich von allen wohl am tiefsten verdrängt. Selbst meine derzeitige Therapeutin wusste das nicht.
Gegen Ende der Lehreinheit politisierten wir ein wenig. Lena sagte, wir sollten die SPÖ wählen, denn das wäre die einzige Partei, die sich um Leute wie uns kümmern würde.
Zwar gab ich ihr teilweise recht, aber dass sie es laut ausgesprochen hatte, machte sie mir ein bisschen unsympathisch.
Lena war beim VSSTÖ, der Studentenorganisation der SPÖ, aktiv, das hatte sie einmal erzählt. Vielleicht konnte man so das Kommentar entschuldigen.
Ich persönlich versuche immer unpersönlich zu wählen. Ich machte mir immer Gedanken, was der Gesellschaft im Moment am meisten fehlte. Bräuchte die Marktwirtschaft wieder einmal ein soziales Korrektiv dann wählte ich etwas Sozialistisches. Bräuchte Österreich im Moment den innovativen Geist von Unternehmern, dann wählte ich etwas Liberales. Ging es um grundlegende Dinge wie den Klimawandel, Chomsky wurde nie müde auf den Klimawandel hinzuweisen, dann wählte ich Grün. Es gab nur eine Partei für mich, die ich abgrundtief hasste. Alle anderen waren zumindest wählbar.
Wählen aus persönlichen Beweggründen hielt ich aber für primitiv.

Kapitel 13

Ist man schizophren, glaubt man jedes Wort ist nur für einen selbst geschrieben worden. Ich war der stolze Besitzer von rund tausend Büchern, die ich alle zumindest angefangen hatte zu lesen. Sie hatten sich in meiner Grazer Wohnung aufgetürmt. Ungeordnet, wahllos. Es hatte Stapel gegeben. Stapel, die mir bis zur Hüfte gereicht hatten. Alle Regale waren voll mit Büchern gewesen, die nur manchmal unterbrochen wurden von Kultgegenständen, die ich gesammelt hatte. Von tibetanischen Gebetsmasken, bis hin zu Tonfiguren von Indianerstämmen.
Mein häufigstes Buch blieb aber immer die Bibel. Ich hatte 5 Ausgaben der Bibel in meiner Bibliothek und sie standen auch am besten Platz. Ganz oben.
In meinen Episoden hatte ich Gedanken und Worte verfolgt quer durch Bücher hindurch. Ich hatte Musik gehört bis ich in Trance war und dann ein Buch herausgenommen und einen Satz gelesen. Hatte mir dann ein anderes Buch geschnappt und dort ein bisschen gelesen.
Vor allem Lyrik hatte es mir angetan. Lyrik war für mich immer die reinste Zauberei gewesen.
Je nach Tiefe meiner Trance, dachte ich, dass andere Worte mir ins Auge fallen würden, dass andere Worten beginnen würden zu klingen. Es gab verschiedene Ebenen der Erkenntnis. Je nachdem erfuhr man tiefere Weisheit oder man blieb auf der Oberfläche sitzen, wie alle anderen Menschen.
Ich forschte versteckten Weisheiten nach bei Hesse, Rimbaud und Bachmann. Ihre Lyrik, ihre Zaubersprüche, bestimmten mein Weltbild. Manchmal spielte ich mit Silben, zerlegte Worte, stellte mir Buchstaben grafisch vor.
Bücher lebten. Sie hatten Energien. Ich dachte, jedes Buch färbt ab. Es reichte manchmal schon es im Raum zu haben. Man musste nur darüberstreichen um dessen Weisheit aufzusaugen.
Manchmal schlug dann die Stimmung aber um und Schriftsteller wurden zu etwas Bösem, denn sie lenkten von der Bibel ab. Ihre Worte und ihre Sprache waren verzerrt. Satan persönlich hatte sie ihnen eingeflüstert.
Einzig verliebt war ich nie in eine Schriftstellerin gewesen. Verlieben tat ich mich nur in Sängerinnen, in Sirenen also. Auch heute noch bin ich noch nicht mal in Valerie Fritsch verliebt. Im Gegensatz zu halb Österreich.
Schriftstellerinnen waren zu schade für Liebe. Liebe in meinem Leben war etwas Flüchtiges. Aber Freundschaft hatte ich ihnen in Gedanken angeboten. Allen. Mit Körperlichkeit wollte ich aber ihre Worte nicht besudeln. Dafür waren sie oftmals zu rein.
Manchmal hatte ich wochenlang kaum mit jemanden gesprochen und selbst, wenn nur über belangloses Zeug. Menschen in Büchern waren die einzigen Menschen, die ich wirklich kannte.
Die Erzählstimmen der Autoren die einzigen, die mit mir und zu mir sprachen.
Maupassant wurde mein lustigster Freund.
Mit Truman Capote flüchtete ich aus dem Zwang der bürgerlichen Welt.
Thomas Bernhard wagte auszusprechen, was ich nur runterschluckte.
Einmal hatte ich Bücher zerstört. Nur ein einziges Mal. Als ich aufgehört hatte Wirtschaft zu studieren, hatte ich drei Meter an Büchern weggeschmissen, aber nicht bevor ich jedes einzelne mit einem Messer durchbohrt hatte, um sicherzustellen, dass nicht jemand anderer ihnen erliegen würde.
Vielleicht auch damit ich nicht in der Realität Amok lief, hatte ich Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes mit einem Messer erstochen.

Kapitel 14

Sabrina war von ihrem Praktikum zurückgekommen. Sie erzählte von einer Situation, als ein Kunde ins Geschäft gekommen war und von keiner der wirklichen Verkäuferin angesprochen worden war. Diese hatten lieber Kleidung in den Regalen eingeräumt, so Sabrina. Sie sagte, dass man sich das vorstellen müsse und dass sie ihm bestimmt etwas verkauft hätte.
Sabrina war nicht wirklich glücklich hier und wollte lieber heute als morgen wieder arbeiten gehen.
Der Inhaber des Geschäfts hatte gesagt, dass er sich bei ihr melden würde. Was immer das auch zu bedeuten hatte.
Mein Verhältnis zur Arbeit war ambivalent. Jeden Tag brachte eine der Leiterinnen die aktuellen Jobangebote des AMS in unseren Raum.
Die Liste war immer ein paar Finger dick, wurde von uns aber meist ignoriert. Nur manchmal blätterte sie einer von uns beiläufig durch.
Man muss das verstehen. In unserem Bundesland waren 90 Prozent der beim AMS gemeldeten Stellen entweder in der Gastro bzw. im Tourismus oder am Bau. Für den Bau fehlte mir jede Qualifikation und für den Tourismus fehlte mir die Leidenschaft. Ich war nicht einmal besonders freundlich, also wie sollte ich dann Menschen bewirten.
Dieses Verhalten wurde den größten Teil des Jahres über toleriert. Nur wenn es zum Ende hinging, verschärfte sich das Verhalten der Leiterinnen. Man musste dann Bewerbungen schreiben und diese wurden auch kontrolliert, aber bis dahin war es noch lange hin.
Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Ich arbeitete nicht ungern. Ich hatte Jobs gemacht, um die andere einen weiten Bogen machen würden. Ich hatte Zeitungen am Telefon verkauft. Führen sie einmal hunderte Gespräch pro Schicht. Ich hatte in der Meinungsforschung gearbeitet. War Mysteryshopper gewesen. Hatte Medikamente ausgefahren.
Diese Jobs waren aber alle eine Sackgasse und ich hatte die Angewohnheit, wenn ich einmal irgendwo war, dort zu bleiben. Sei es aus Bequemlichkeit oder weil die Leute oftmals nett gewesen waren. Nettigkeit ist kostenlos, dann kann man sich etwas am Gehalt sparen und ich hatte meist weniger verdient als die Mindestsicherung.
Aber manchmal hatte ich auch Träume. Ist es verboten Träume zu haben in unserer modernen Welt? Träume vom Schreiben. Gleich ob als Journalist oder als Schriftsteller. Mir ging es nicht Ruhm oder um Reichtum. Ich wollte mich selbst ausdrücken. Ich hatte Chancen in diese Richtung gehabt. Hatte bei Zeitungen und bei Radiostationen Praktika gemacht, auch durch Beziehungen.
Hätte es studieren können und hatte es auch. Darf man, weil man aufgrund von psychischen Störungen als Germanistikstudent gescheitert war, sein ganzes Leben kein Buch mehr lesen, geschweige denn versuchen eines zu schreiben?

Kapitel 15

Manchmal kochten wir gemeinsam. Das war auch dringend notwendig, so einseitig sich die meisten von uns ernährten, was aber nicht unserer Schuld war – das Angebot ein Selbstbedienungsrestaurant ist einfach nicht sehr abwechslungsreich. Oft blieben Schnitzel die einzige valide Alternative und wo anders zählten ja unsere Lebensmittelkarten nicht.
Unser Kochlehrer war ein bisschen ein schräger Vogel, aber das waren wir auch, deshalb war er auch sehr beliebt. Er konnte stundenlang Vorträge halten über für mich esoterische Kochrichtungen, aber für mich war alles esoterisch, was über Karotten hinausging.
Wir kochten immer im Kunstraum. Gemeinsam saßen wir ringsum um den großen Tisch. Jeder schnipselte etwas Anderes klein. Meist eben irgendein exotischeres Gemüse. Manchmal gab es überhaupt nur Rohkost – ein für mich zweifelhaftes Vergnügen. Jedenfalls war es sehr gesellig. Hans, der selber Koch gewesen war, aber keineswegs in irgendeiner Art die Führung übernahm, jedoch zumindest mitmachte, hatte sogar eigenes eine Pfanne von zu Hause mitgebracht. Unsere Küche war nämlich ziemlich schlecht ausgestattet und um 12 Personen gleichzeitig sattzubekommen braucht es doch eine gewisse Ausstattung.
Diese Pfanne war Hans‘ Heiligtum. Wehe jemand kam ihr mit Besteck zu nahe, das Kratzer hinterlassen konnte. Man durfte nur einen Plastikschaber benutzen und das auch nur sehr behutsam.
Ansonsten war Hans aber beim Kochen mehr Teil der Gemeinschaft als sonst. Er scherzte sogar manchmal mit Manuela. Die beiden hatten sich zaghaft angefreundet, obwohl Hans 20 Jahre älter war. Die Witze, die die beiden rissen, lockerten die Stimmung zusätzlich auf.
Während wir kochten, bereiteten Norbert und Paul den Tisch in unserem Hauptraum vor. Sie deckten meist gar fürchterlich feierlich ein. Ich, der ich meist Zeit meines Lebens alleine gegessen hatte, während ich irgendeine Serie angeschaut hatte, war das nicht gewöhnt. Gemeinsam mit anderen zu essen, disziplinierte mich. Ich schlang keine übergroßen Portionen in mich hinein und aß langsam und sehr zivilisiert. Gleichzeitig zu essen und zu kommunizieren überforderte mich aber und so überließ ich den anderen die Tischthemen.
Gemeinsam zu essen brachte so etwas wie Normalität in unseren Alltag auch wenn es nur einmal die Woche war. Es stärkte überdies das Gemeinschaftsgefühl. Manuela ließ sich sogar einmal zur Bemerkung hinreißen, dass zumindest wir auf einander schauen müssten, wenn es sonst schon niemand tat.
Nur Alkohol blieb verboten, denn er war für ein paar von uns problematisch besetzt. Zwar nicht für mich und Martin, wir hatten andere Drogen bevorzugt, aber auch wir hatten kein Problem damit keinen Alkohol zu bekommen.
Sarah versuchte einmal uns während des Kochens einen Multi Level Marketing Energy Drink einzureden. Sie pries dessen sagenhafte Wirkung gut an, aber Martin und ich kannten das Getränk und das Geschäftsmodell, das dahinterstand. Wir redeten es Sarah ganz schnell wieder aus, bevor sie noch mehr Geld darin investieren würde, waren ihr aber nicht böse.
Sarah war halt eine kleine Ich AG, sie hatte in verschiedensten Bereichen Geschäftserfahrung und dieses Getränk, war eine ihrer schlechteren Ideen.
Meist brachten wir den Leiterinnen auch zwei Portionen in ihr Büro. Sie wollten zwar nicht mit uns gemeinsam essen, das würde vielleicht zu viel Nähe schaffen und in irgendeiner Art und Weise waren sie ja gleichzeitig unsere Vorgesetzten als auch Psychotanten.
Sie bedankten sich aber immer sehr artig und waren wohl stolz auf uns, dass wir wieder etwas selbst gemacht hatten und meist sogar etwas, das schmeckte.


Kapitel 16

Sprechen wir über den Netzwerkadministratorkurs. Ich möchte ihn nicht Tag für Tag abhandeln. Dafür war ich dort als Mensch zu wenig aktiv und ich bin mir nicht sicher, ob es bei den anderen nicht auch so war.
Die ganze Atomsphäre des Wifi erinnerte mich an die Atmosphäre der Wirtschaftsfakultät in Graz. Diese Aura des Erfolgs, der Zielgerichtetheit, der Professionalität, in der man sich gerne sonnte, war inkompatibel zu mir und zu meiner Persönlichkeit.
Sie dürfen mich nicht falsch verstehen der Vortragende war hervorragend. Er war ein bundeslandweit geschätzter Experte in den Themengebieten, die wir behandelten und ein Praktiker vor dem Herrn. Sein Lehransatz war anders als auf den Universitäten, die ich kennengelernt hatte. Wir wurden nicht mit Theorie erschlagen, sondern bekamen etwas praktisch demonstriert und dann Zeit es auch selber zu üben.
Ja selbst die Ausstattung des WIFI war makellos. Die Rechner vom feinsten. Die Bildschirme riesengroß. Es gab jeden Schnickschnack, den man sich nur vorstellen konnte. Wir hatten sogar die Möglichkeit uns Elektroautos kostenlos auszuleihen. Auch die anderen Schulungsteilnehmer waren nicht unsympathisch. Natürlich waren wir bis auf zwei Ausnahmen alles Männer. Mit einer der Frauen, machte ich alle praktischen Fallbeispielprüfungen. Wir arbeiteten gut zusammen. Sie war smart, wenn auch gleich etwas schüchtern, was vielleicht an ihrem jugendlichen Alter lag. Ich schätzte sie auf vielleicht 19 oder 20.
Das einzige, was hierhin nicht passte, war ich. Ich war arbeitslos, was ich verschwieg. Ich war Grunge, Kunst war nie ein Thema. Ich war lowtech und nicht hightech. Ich hatte ein billiges Chinaimportphone und kein shiny I-Phone. Ich betrachte Technik, als Werkzeug, das anderen kreativeren Menschen Möglichkeiten eröffnete und nicht als Statussymbol.
Ich beschäftigte mich gerne mit Technik und ich bin von auf dem Markt verwertbaren Tätigkeiten lieber Techniker als z.B. Lohnverrechner, aber im tiefsten Herzen liebte ich Kunst und hatte so viele Interessen.
Ich bin lieber ein Mensch, der sich mit vielen Dingen gleichzeitig befassen darf, als irgendwo ein Experte zu werden.
Gleichzeitig nahm ich Psychopharmaka. Mein Diabetes hatte sich schon zu äußern begonnen, obwohl es noch nicht diagnostiziert war. Auch war ich schon seit fünf Uhr wach und war durch das ganze Bundesland gereist.
Wegen diesen Dingen war ich öfters so unendlich müde und bekämpfte meine Müdigkeit mit Unmengen an Coffein. Untertags in meinem Schulungszentrum hatte ich mir angewöhnt ein Mittagschläfchen zu halten an den Tagen des Netzwerkadministratorkurses. Zuerst wurde ich schief angeschaut, aber dann wurde es akzeptiert, dass ich mich in den Entspannungsraum zurückzog, mir eine Yogamatte schnappte und 45 Minuten schlief. Ich brauchte jede Minute davon.
Des Abends, der Netzwerkadministratorkurs startete um 18 Uhr und ging bis 22 Uhr, war ich öfters absolut gereizt, was aber gottseidank nicht auffiel, da ich meine Klappe hielt, um nicht etwas Zynisches zu sagen.
Jeder Mausklick ermüdete mich so unendlich. Ich kannte es zwar von meiner Zeit als Computerspielsüchtiger, dass man unendlich viele Mausklicks durchführte und hier waren sie sogar produktiv, aber trotzdem ging mir jeder einzelne unendlich auf die Nerven und kostete mich Kraft.
Je öfter wir etwas übten und die Tätigkeiten schrittweise erweiterten, desto weniger interessierte es mich. Ich übte auch zu Hause am Wochenende mit meinem Spielerechner, den ich zu einer Höllenmaschine für Virtualisierung umgebaut hatte. Ich konnte darauf 5 Rechner gleichzeitig simulieren und so ein ganzes Netzwerk darstellen. Ich übte unzählige Male. Unzählige Male setze ich Windows neu auf. Richtete Benutzer ein. Vergab Rechte. Installierte Serverrollen etc etc etc.
Ich wurde auch gut beurteilt bei den Prüfungen, aber je länger ich es machte, desto weniger interessierte es mich. Die Routine der Tätigkeit vergrämte sie mir. Beim Schreiben war das anders. Jeder Satz ist eine neue Herausforderung. Man hat ihn schließlich noch nie geschrieben. Es gibt eine Unendlichkeit an Wörtern und Möglichkeiten und nicht nur ein paar Auswahlmöglichkeiten.
Obwohl die Leute hier erfolgreicher, psychisch gesunder und ganz sicherlich keine schlechten Menschen waren, sehnte mich zurück zu den anderen Arbeitslosen, die mir durch ihre Fehler und Krankheiten menschlicher vorkamen.
Jeden Abend sehnte ich mich ins Schulungszentrum zurück, wo wir jeden Halbtag mit einer anderen Disziplin konfrontiert wurden und sei es nur ein Spaziergang.
Ich setzte mich lieber mit zehn Jahre alter Technik auseinander, als mit der neuesten Technik, denn die hatte Patina.
Ich revitalisierte lieber alte Büro-Rechner für sozial Schwächere als komplexe Netzwerke für Firmen zu designen.
In der einzigen Pause blieb ich für mich und schnappte Luft vor der Tür, während der ganze Netzwerkadministratorkurs gemeinsam etwas trank.
Ich hatte mich wieder eingerichtet in der Rolle des Außenseiters.
Aber ich wollte den Abschluss so unendlich, deshalb zog ich es durch. Als der Abschlussabend gekommen war, war mein Vater anwesend. Der Rahmen war festlich. Es spielte ein Band. Es gab ein Buffet. Alle hatten sich herausgeputzt. Ich glaube mich zu erinnern, dass als mir meine drei Zeugnisse, für die verschiedenen Teilprüfungen und die riesige Urkunde verliehen wurde, mein Vater Tränen in den Augen hatte. Er war sicher, dass ich endlich meinen Weg gefunden hatte. Ich aber wusste in meinem tiefsten Herzen, dass ich eigentlich als Netzwerkadministrator nicht arbeiten wollte.
 

stefanle

Mitglied
Kapitel 17

Ich möchte jetzt einen kleinen Trick anwenden. Ich habe vor längerem geschrieben, dass ich drogenabhängig war, als ich Wirtschaft sporadisch studierte. Ich denke es könnte Sie vielleicht interessieren, wie so ein typischer Nachmittag eines drogensüchtigen Sporadisch-Studenten aussah.
Das ist für mich angenehm, denn die Kurzgeschichte habe ich schon geschrieben. Sie ist also fix und fertig und vielleicht meine 2. beste Kurzgeschichte, obwohl sie gleichzeitig auch das Portrait eines meiner besten Freunde von damals ist. Keine Sorge die beste Kurzgeschichte von mir hänge ich hinten an. Als Bonustrack sozusagen.
Die Namen sind selbstverständlich geändert. So wie alle Namen geändert sind hier in meiner Erzählung oder meinem Bericht oder whatever. Ich merke auch gerade, dass ich ein Faible für den Namen Peter als Alias habe. Es ist jedenfalls ein anderer Peter, als der im Arbeitslosenprogramm.

Rauch stieg auf

Peter kam immer zwanzig Minuten zu spät, deshalb war ich erst zehn Minuten zu spät nach unten vor meinen Wohnblock gegangen. So blieb mir genug Zeit genüsslich eine zu rauchen. Ich stand da in einem alten, ausgewaschenen Shirt, in kurzer Sporthose und mit meinen zerschlissenen Basketballschuhen an den Füßen. Mit der linken Hand hielt ich den Basketball und die rechte Hand bewegte immer wieder zu meinem Mund, um an der Zigarette ziehen zu können. Ich beobachtete den Verkehr, der an mir vorbeifloss. Viel los war nicht, denn es war früher Nachmittag. Hauptsächlich fuhren Mütter vorbei, die ihre Kinder von der Schule abholten oder zu irgendeinem Hobby brachten. Sie sahen geflissentlich an mir vorbei.
Peters Auto kam über der Kuppe der Straße vor meinem Block in Sicht. Es war so rot wie man es sich nur vorstellen konnte. Ein französisches Auto aus so dünnem Blech, dass man Angst hatte ein Loch reinzubohren, wenn man es berührte. Peter scherte abrupt aus der Straße aus und brachte das Auto ruckartig genau vor mir zu stehen. Er öffnete mir die Beifahrertür, streckte mir die Hand entgegen und begrüßte mich herzlich mit: „Servus Alter“.
Ich schlug ein und entgegnete: „Servus Peter“.
Als ich mich setzte, schoben sich meine Schuhe hinein in all die Abfälle, die im Beifahrerfußraum herumlagen. In die ausgetrunken Red Bull Dosen. Zuckerfrei. Die Bic Mac Kartons und die leeren Zigarettenschachteln. Ich stellte mir vor, es wäre Sand an einem griechischen Strand.
Ab jetzt war ich in seiner Welt, denn Peter lebt irgendwie kaum mehr in unserer Gesellschaft, hatte es aber im Gegensatz zu mir geschafft, sich ein Gegenmodell aufzubauen. Dort war er der König und ich genoss es ein Freund des Königs zu sein.
Peter hatte rotes Haar, Sommersprossen und studierte hin und wieder Jus. Er hatte seine übertriebene Sonnenbrille auf. Das hieß er hatte gekifft. Es war immerhin schon beinahe zwei Uhr. Der Tag war schon lang gewesen.
Peter war mit Miri zusammen, einer Halbspanierin, die aus Wien kam und im Gegensatz zu uns zwei Bauernbuben auf einem Privatgymnasium gewesen war und eine klassische Ausbildung genossen hatte. Miri spielte Geige und Klavier und studierte auch Jus, aber so richtig
Wir ordneten uns wieder in den Fließverkehr ein und fuhren durch das Univiertel. Peter fingerte an der CD-Tasche, die an der Sonnenblende befestigt, war herum. Er wollte mir seine neueste Entdeckung vorspielen. Surfrock aus den 60igern. Musik war ihm wichtig. Er spielte selbst Gitarre und ersann beinahe täglich neue Melodien. Zu ganzen Songs kam es aber meist nicht. Kunst war uns allen irgendwie wichtig. Wir träumten alle davon Künstler zu sein.
Ich beobachtete die Leute an denen wir vorbei fuhren. Im Auto hatte ich immer das Gefühl, dass ich zwar alle sah, aber niemand mich.
In Graz gab es eine Handvoll Plätze, wo man Basketball spielen konnte. Wir hatten uns für einen Platz in einem Sozialprojekt entschieden. Er war am schönsten gelegen, denn daneben floss ein kleiner Bach vorbei, es gab Bäume die Schatten spendeten und die Wohnblocks sahen für mich aus wie die hängenden Gärten von Babylon.
Peter reichte mir einen Spliff, den ich annahm. Ich hatte heute noch kein Gras geraucht und deshalb ein bisschen Kopfweh.
„Gehen wir danach noch zu dir? Die Miri möchte noch lernen, aber ich möchte noch etwas machen. Wir können uns einen Film ansehen. Ich hab aber auch die Gitarre im Kofferraum.“, sagte Peter.
„Ja gerne“, antwortete ich. Ich hatte heute nichts mehr vor. Die Mathehausübung vom Uni-Kurs hatte ich gestern probiert, aber nicht verstanden. Hoffentlich konnte ich mir die Punkte später holen.
Ich brauchte dringend Punkte.

Sofort nachdem Peter das Auto geparkt hatte, schlenderten wir über die kleine Grünfläche hinüber zum Basketballplatz. Dort pfefferte Peter seinen Rucksack auf die Parkbank, schlug mir den Ball aus der Hand und dribbelte zum Korb. Er macht einen Korbleger und rief mir zu: „Alter was ist, brauchst du eine Extraeinladung?“.
Ich grinste.
„Fängst du an oder ich? Winner or Loser’s Ball?“, entgegnete ich.
„Bis zehn. Loser’s Ball. Dann darfst du auch mal. Du fängst an!“, sagte Peter.
Anstatt mir den Ball zuzupassen, rollte Peter in mir ganz langsam über dem Boden entlang zu. Ich hob ihn auf. Peter kam auf mich zu und ging in Verteidigungshaltung über, indem er etwas in die Knie ging und die Arme ausbreitete. Ich wandte ihm den Rücken zu und machte eine Täuschung nach rechts. Peter fiel teilweise auf die Täuschung hinein und verlagerte sein Gewicht auf den falschen Fuß. Ich konnte links an ihm vorbeiziehen. Im letzten Moment schaffte er es aber sich zwischen mir und Korb zu positionieren und ich war zu einem schwierigen Hakenwurf gezwungen. Ich traf trotzdem. Der Ball rutschte mit einem Rasseln durch das metallene Netz des Korbes.
„Glück“, sagte Peter.
Wir gingen aus der Zone raus und ich übergab ihm den Ball.
Peter hatte als Jugendlicher im Verein gespielt. Technisch war er mir überlegen, aber ich war größer und übte zumindest einmal in der Woche. Auch wenn es nur Wurfübungen waren.
Peter zog nach rechts. Er wechselte hinter dem Rücken den Ball von der rechten in die linke Hand. Schöner Trick. Das konnte ich nicht. Ich schaffte es nicht mehr ihn den Weg abzuschneiden. Er machte einen Korbleger mit links. Nur um zu zeigen, dass er es konnte.
Als es acht zu acht stand waren wir beide ganz schön außer Atem. Peter hatte einen ganz roten Kopf und schwitzte stark, was dazu geführt hatte, dass ich nicht mehr ganz so eng verteidigt hatte, da ich seine Schweißsuppe nicht auf meinen Armen haben wollte.
Ich war dran und überlegt, was ich jetzt tun sollte. Ich zitterte vor Anstrengung und kam zum Entschluss, dass ich alles auf eine Karte setzen würde und einen Zweipunktwurf wagen würde. Für alles andere fehlte mir sowieso die Kraft.
Ich dribbelte kurz nach links dann nach rechts und konnte mir etwas Platz verschaffen. Ich stieg hoch, musste mich aber etwas nach hinten fallen lassen, damit ich ganz sicher nicht geblockt werden würde. Ich schaute den Ball nach als er durch die Luft flog und versuchte ihn telepathisch zu beeinflussen, dass er den Weg in den Korb finden würde. Er prallte am Brett ab und fiel genau in der Mitte durch den Ring.
„Zweier mit Brett. Gratuliere. Heute klappt aber auch alles“, sagte Peter sichtlich genervt.
„Glück“, kam von mir
„Ok Pause“, setzte Peter bestimmend an.
Wir setzten uns auf die Bank. Peter holte seine Longpapers aus dem Rucksack und schnorrte sich eine Zigarette von mir. Er riss ihr Papier auseinander und der Tabak rieselte auf das Longpaper. Er streute nur ein bisschen Gras über den Tabak. Immerhin machten wir gerade Sport.
Wir plauderten ein bisschen und überlegten, ob wir gemeinsam am Donnerstag auf ein Heimfest gehen wollten. Peter bot an, dass er eine Frau für mich aufreißen würde. Peter hatte nie Probleme Frauen aufzutun. Ich war mir nicht so sicher. Irgendwie waren wir schon so langsam zu alt für Heimfeste. Außerdem hasste ich das Geschiebe und das Gedränge in den engen Gängen. Da brach bei mir immer die Paranoia aus. In letzter Zeit war ich sowieso wenig ausgegangen. Ich hatte angefangen mich mehr mit Literatur zu beschäftigen und las lieber auf Literaturplattformen im Internet Texte und schrieb hin und wieder Kommentare. Das war angenehm. Man musste nicht vor die Türe gehen und hatte trotzdem das Gefühl, sich mit Menschen über interessante Themen zu unterhalten.
Zwei Männer Mitte Dreißig in Sportklamotten kamen auf uns zu. Sie sprachen uns in schlechtem Deutsch mit Balkanakzent an, ob wir ein Spiel machen würden. Wir sagten zu.
Wir verloren haushoch, obwohl wir zehn Jahr jünger waren. Es war als prallten wir mit vollen Anlauf gegen eine Mauer. Sie waren viel kräftiger und hatten mehr Körperspannung. Irgendwie waren sie immer einen Schritt schneller. Wir machten nur zwei Punkte und die auch nur, weil zwei einstudierte Pick and Roll-Spielzüge von uns aufgingen. Beschämend wenig dafür, dass wir schon so lange zusammenspielten.
Peter kommentierte das ganze damit, dass man das verstehen müsse, am Balkan lernen sie Basketballspielen gleich nach dem Laufen. Die Hackordnung auf dem Court war eben eine andere als in der Gesellschaft. Ich war eher der Meinung, dass es vielleicht auch an den Drogen liegen könnte.
Wir zogen ab.
Wir fuhren quer durch die Stadt in einen Randbezirk. Peter brauchte Nachschub und unser Dealer hatte dort vor kurzem ein schmuckes Haus gebaut. Wir waren zu gute Kunden, als dass wir uns von irgendjemanden im Stadtpark für 10 Euro das Gramm Oregano andrehen lassen mussten.
Der Deal verlief gut. Ein Dealer musste uns einfach lieben, denn wir machten nie Stress. Wir waren sehr gut erzogene Drogensüchtige. Er hatte uns sogar auf einen Kaffee eingeladen. Ich hielt das Gespräch dennoch kurz, denn das Haus war zwar wunderschön, ich fragte mich zwar, was ich alles finanziert hatte, aber wenn er den Mund aufmachte und man seine Zähne sah, war das irgendwie zu viel Realitycheck.
Peter hatte zehn Gramm Dope gekauft. Ich diesmal nur zwei Gramm Gras. Manchmal brauchte ich Gras zum Einschlafen, wenn die Schuldgefühle zu groß wurden. Es fiel mir auch leichter zu lachen, wenn ich geraucht hatte, denn ansonsten war mir klar, dass ich eigentlich wenig Grund hatte, fröhlich zu sein.
Aber eigentlich wollte ich bei Texten auf den Literaturplattformen nicht jeden Absatz dreimal lesen müssen bevor ich ihn verstand, denn Literatur und Gras ergänzten sich nicht. Musik und Gras mag irgendwie funktionieren. Literatur und Gras tat es nicht. Ich hatte mir auch vorgenommen, mehr selbst zu schreiben. Mehr als die paar Absätze, die ich pro Woche schrieb. Auf die ich zwar immer mega-stolz war, denn irgendwie hatte ich immer das Gefühl etwas für die Ewigkeiten zu hinterlassen, wenn ich schrieb, auch wenn es in den Weiten des Internets vielleicht nur ein paar Leser fand.
Als wir in meiner Wohnung angekommen waren, schob ich ein ganzes Backblech voller tiefgefrorener Cordon Bleus und Pommes vom Hofer in den Ofen, denn wir würden bald sehr hungrig sein.
Peter hatte es sich schon auf der Couch bequem gemacht. Er baute gerade den ersten richtigen Joint des Tages. Für mich jedenfalls. Nebenbei erstellte eine Playlist auf meinem Laptop, der am Couchtisch stand. Ich gesellte mich zu ihm, nachdem ich die verschwitzte Sportkleidung gegen normale gewechselt hatte.
„Was magst denn hören?“, frug Peter mich.
„Nix Heftiges“, sagte ich.
„Wie geht es Miri?“, frug ich ihn dann.
„Gut sie macht gerade bei einem Projekt auf der Uni mit, wo sie fiktive Fälle vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Kleingruppen verhandeln.“
„Klingt interessant“, sagte ich.
„Naja“ sagte Peter,“ ist ein ziemlicher Aufwand und sie bekommt nur ein paar Stunden dafür.“
Peter reichte mir den Joint.
Ich war mir unsicher, ob ich wirklich rauchen wollte, denn bei Dope schaltete sich mein Gehirn immer wieder eine Zeitlang aus und ich wachte dann erst wieder eine halbe Stunde später auf und wusste nicht genau was in der Zwischenzeit passiert war oder ob ein einzelner Gedanke jetzt wirklich so lange gedauert hatte.
Ich zündete den Joint trotzdem an und zog ein paar Mal, dann gab ich ihn Peter zurück.
Auch bat ich ihn auf die Uhr zu schauen und mir in einer halben Stunde Bescheid zu sagen, damit das Essen im Ofen nicht verbrannte.
Peter zog stark am Joint, legte ihn dann im Aschenbecher ab, schnappte sich seine Gitarre und begann zu einem Song von Ben Harper auf seiner Gitarre mitzuzupfen. Ben Harper war einer unserer Säulenheiligen.
Durch das große Fenster des Wohnzimmers fielen Sonnenstrahlen, die sich schön am Rauch in allen Farben des Regenbogens brachen.
„Wie geht’s dir auf der Uni?“, frug mich Peter.
„Ganz gut.“, log ich.
„Mich kotzt die ganze Burlington-Fraktion auf den Rechtswissenschaften so richtig an.“, sagte Peter.
„Naja Präsentation ist heute alles. Es ist nicht mehr wichtig, was du sagst, sondern wie du dabei aussiehst.“, antwortete ich.
„Stimmt. Dann passt du mit deinen längeren Haaren und den zerrissenen Jeans ja super rein.“
Peter musste lachen.
„Mein Englisch-Lehrer hat auch lange Haare. Sein Plan ist es uns ein Gewissen einzupflanzen, glaub ich, wir bekommen jedes Mal kritische Artikel über die Globalisierung, über Umweltschutz, Arbeitsbedingungen, Armut usw. zu lesen.“, sagte ich.
„Wie heißt der?“
„Smith. Das ist schon der dritte Kurs, den ich bei ihm mache.“
„Ihr müsst drei Englisch-Kurse machen?“ frug Peter.
„Nein. Ich mach den freiwillig. Mal schauen wie ich ihn mir anrechnen lassen kann.“
Das Dope begann zu wirken. Alles rückte bedrohlich nahe und meine Gedanken verstiegen sich in Kaskaden
„Eine halbe Stunde ist um.“, sagte Peter. „Zeit zum Essen holen“
Ich verlief mich fast in der Wohnung als ich in die Küche ging und frug mich dort kurz, warum ich jetzt eigentlich hier war.
Während des Essens sahen wir uns Fear and Loathing in Las Vegas mit Johnny Depp an und rauchten noch einen Joint. Wir sahen uns oft Fear and Loathing an oder The Big Lebowski. Die Filme dauerten immer ewig lang.
Wir aßen wie die Tiere. Das Essen wurde im Mund immer mehr und ich hatte Probleme zu schlucken. So kam es mir jedenfalls vor. Aber es schmeckte so unendlich gut und es war so interessant seinem Körper dabei zuzuschauen, wie er aß.
Ich wusste nicht mehr, wie spät es war, aber irgendwann frug mich Peter ob er hier schlafen durfte. Er wollte keinen Stress haben mit Miri.
Im Wohnzimmer stand auch ein Gästebett, also war das kein Problem. Wir waren viel zu stoned um noch aufzubetten. Peter schnappte sich einfach die Couchdecke und legte sich aufs Bett. In seiner ganzen Kleidung.
Ich schaltete den Fernseher aus und ging in mein Zimmer. In mir drehte sich alles und mir war echt schlecht, trotzdem schwor ich mir, morgen in der Früh aufzustehen, denn morgen hatte ich Englisch. Es war der einzige Kurs, bei dem ich noch nicht mehrfach gefehlt hatte. Ich wollte gerade diesen Professor nicht enttäuschen.
Ich frug mich als ich einschlief, ob ich, wenn ich Miri als Freundin hätte, auch etwas tun würde, das verhinderte, dass ich neben ihr schlafen dürfte. Neben ihr zu schlafen, würde aber nie passieren. Miri hasste mich. Sie gab mir die Schuld, dass Peter so viel kiffte.







Kapitel 18
Wenn ich eine Geschichte schreiben würde, könnte ich die Handlung vorantreiben. Konflikte entwickeln. Überraschende Wendungen einbauen. Sie in Erstaunen versetzen. Sie mitfiebern lassen und vieles mehr. Ich schreibe aber keine Geschichten und so verlief das Programm anders als in einem Thriller.
Die gröbsten Probleme der anderen bekam ich nicht mit. Denn sie wurden im Büro unserer Leiterinnen geregelt und in unserem Raum rissen sich alle zumeist zusammen. Mit mir hatten sie aber wegen meines Körpers ein Problem. Eines Tages wurde ich ins Büro gebeten. Der Netzwerkkurs lief jetzt schon mehrere Monate und ich kam auch in Villach der überwiegenden Mehrzahl der Programmpunkte nach. Ich war also brav und funktionierte, obwohl es mich manchmal sehr anstrengte. Ich wünschte ich könnte sagen, dass ich stolz war, aber ich dachte nicht viel über mich nach, sondern funktionierte eben einfach. Selbst in den Therapiestunden war ich zu unsensibel um über meine Probleme zu sprechen. Vielleicht hatten sich auch die Psychopharmaka wie ein Schleier über meinen Kopf gelegt und behinderten eine allzu große Selbstreflexion.
Ich wurde also ins Büro gebeten. Ich wurde zur Rede gestellt, denn ich hatte stark zugenommen. Des Nächtens, nach dem Administratorkurs, hatte ich mir angewöhnt immer zu einem Fast Food-Restaurant zu gehen. Sei es als Belohnung oder aus Stress. Ich weiß es nicht. Mittags aß ich auch immer ungesund und nebenbei trank ich jetzt am Tag zwei Liter Cola Light. Ich war körperlich ein Wrack.
Die Leiterinnen sagte, dass es so nicht weitergehen könnte. Vor allem da wir ja alle bewiesen hatten, dass wir für höherwertigere geistige Tätigkeiten nicht zu gebrauchen waren, mussten wir uns wenigstens für körperliche eignen. So hatte ich es mir jedenfalls später zusammengereimt.
Ich versprach Besserung, obwohl ich mich mit meinem Lebenswandel schon lange nicht mehr beschäftigt hatte.


Hier in unserem Harvard für Arbeitslose hatte jeder einen anderen Traum oder bekam Zeit sich einen zu suchen und jede Unterstützung dabei in zu verwirklichen.
Babsis Traum war nun in Gefahr. Sie hatte schon ein paar Monate auf ihre Meisterprüfung gelernt, aber ihre Vergangenheit holte sie ein. Babsi war als Kind missbraucht worden und sie fiel gedanklich in ihre Kindheit zurück. Sie war kurz davor das Programm abzubrechen und sich wieder einmal in ein ärztliches Rehaprogramm einweisen zu lassen.
Und das obwohl es die letzten Wochen so gut bei ihr gelaufen war. Sie trainierte eine Mädchenfußballmannschaft und hatte begonnen ein Selbsthilfeprogramm für Borderliner zu organisieren.
Sie trug also zur Gesellschaft bei. Vielleicht nicht als Berufstätige, aber doch zumindest in ihrer Freizeit. Um das geht es immer, dachte ich mir, irgendwie zur Gesellschaft beizutragen. Richard David Precht, von dem ich öfters Videos in meiner Freizeit ansah, hatte ein Vision der Zukunft ausgemalt, in der eine konstant hohe Arbeitslosigkeit herrscht und es die Kernaufgabe der Gesellschaft wäre, Menschen aktiv zu halten und sie einzubinden.
Babsi war ein aktives Mitglied der Gesellschaft. Unsere Leiterinnen wollten das erhalten. Sie warfen Babsi auf den Kopf, endlich ihre Opferrolle zu verlassen.
Ich wusste nicht wie ich Babsi helfen könnte, außer nett zu ihr zu sein. Es war einer der wenigen Fälle, wo ich mit etwas Existenziellem konfrontiert wurde und es überforderte mich. Ich war kein Psychologe.
Ich denke oft nach über die österreichische Gesellschaft und die modernen Zeiten. Vieles steht so auf dem Kopf. Wir betäuben uns mit Produkten und nicht mal mit unseren eigenen, sondern mit Produkten aus Fernost. Wir wären zum Beispiel eine literarische Weltmacht. Wir gewinnen dort Nobelpreise. Schreiben regelmäßig beim Bachmannpreis das 10-mal größere Deutschland in Grund und Boden, obwohl natürlich Kunst niemals ein Wettstreit sein sollte, sondern von der Vielfalt lebt. Und trotzdem ist der durchschnittliche Österreich nicht mal stolz auf seine Literaten, sondern beflegelt sie eher, ja er liest nicht einmal, sondern sieht sich lieber die x-te Wiederholung amerikanischer Fernsehserien an. Und das Schlimme ist, bei mir war es oft genauso. Und ich hasste mich dafür.
Kapitel 19
Ich habe geschrieben, dass ich einmal Bücher zerstört habe, nämlich jene der Volkswirtschaft. Ich habe nicht nur ihre Bücher mit einem Messer zerschnitten, sondern meinem subjektiven Empfinden nach sie auch intellektuell vernichtet, auch wenn dem objektiv betrachtet bestimmt nicht so war. In meinem ersten Kurs auf der Germanistik, mussten wir eine quasi wissenschaftliche Arbeit schreiben, zu einem mehr oder weniger freien Thema, das aber Sprache bzw. Kultur zum Inhalt haben sollte. Die Arbeit durfte maximal 10 Seiten lang sein. Also hatte ich nur 10 Seiten Platz. 10 Seiten in denen ich allem widersprach was ich auf der Volkswirtschaft jemals gelernt hatte.
Dafür holte ich mir Hilfe bei Max Weber, den ich bei den Soziologen kennengelernt hatte. Soziologen waren cool, bei den soziologischen Kursen und Prüfungen hatte ich römische Einser gehabt und wurde mit Handschlag verabschiedet. Bei den Volkswirtschaftlern wurde ich nicht einmal ignoriert.
Ich kombinierte also Max Weber mit Noam Chomsky, den ich bei den ebenso coolen Sprachwissenschaftlern kennengelernt hatte. Auch dort hatte ich super Noten. Ich, der ich im Gymnasium jedes Jahr in Deutsch fast durchgefallen war. Der in der Unterstufe mit Satzanalysen gefoltert worden war, von einer „Professorin“, die einmal eine Klassenkameradin gefragt hatte, ob das Blonde, das ihr da aus Kopf wächst, Stroh wäre – nur so viel zu ihrer pädagogischen Kompetenz.
Auch bei den Literaturwissenschaftlern hatte ich super Noten. Irgendwie kein Wunder, hatte ich doch während meiner Drogensucht mich an der gesamten Weltliteratur mit Schwerpunkt Kärnten versucht. Auch Literaturwissenschaftler sind super cool wieder im Unterschiede zu den bornierten, bourgeoisen Menschen auf der Volkswirtschaft. Der einzige Volkswirtschaftler, den ich akzeptierte, war John Nash, weil auch der schizophren war. Ansonsten hat die Wirtschaftswissenschaften in Graz, offen gesagt, für mich für alle Zeiten und darüber hinaus ausgeschissen, wenn ich es so banal formulieren darf.
Ich kombinierte also Weber mit Chomsky, suchte mir Studien zur Gläubigkeit in den USA und Europa, analysierte präsidentielle Reden und stellte fest, welchen Einfluss die Religion auf die Ausbildung eines kollektiven Massengeschmacks im großen Binnenmarkt der USA hatte. Das war ein entscheidender Vorteil für das Wirtschaftssystem konnten so doch die Vorteile einer economy of scale zum Tragen kommen.
Des Weiteren stellte ich fest, was das zukünftige Vereinigte Europa daraus lernen könnte, ohne die kulturelle Individualität der einzelnen Regionen und Staaten zu gefährden um im Kampf der Kulturen, die USA weit hinter sich zu lassen. Ich bekam eine super Note
Ja damals auf der Germanistik gab ich mir richtig Mühe ein Intellektueller zu sein. Das hätte groß werden können. Ich hatte Visitenkarten von Verlagen in der Tasche von meiner ersten und einzigen Lesung die ich gehalten hatte, mit meinem ersten literarischen Text, den ich jemals geschrieben hatte. Einer der bekanntesten Schriftsteller im ganzen deutschsprachigen Raum wollte mich vorstellen.
Leider rächte sich dann meine jahrelange Drogensucht, die mein Gehirn in einen Schweizer Käse verwandelt hatte und ich wurde schizophren. Außerdem war ich so sozial gestört durch die Menschenvernichtungsanstalt Wirtschaftsfakultät, dass ich mich in dem netten sozialen Gefüge Germanistik nicht mehr einfügen konnte.
An beiden war aber beileibe nicht die Germanistik schuld, sondern, wenn ich die Schuld bei jemanden anderen als bei mir suchen wollte, die Volkswirtschaft.
Auch heute würde ich keinem einzigen Professor auf der Volkswirtschaft die Hand geben. Gott wie gut tut das, das einmal aufgeschrieben zu haben.
Sie dürfen mich nicht falsch verstehen Es gibt grandiose Uni-Professoren. Ich wünschte, ich hätte heute wieder das Privileg mich in eine Vorlesung zur modernen Literatur zu setzen.
Allerdings gibt es genügend Uni-Professoren, die sich ihrerseits nicht des Privilegs bewusst sind, den besten Köpfen einer Generation vorschreiben zu dürfen, welches Buch sie zu welcher Zeit zu lesen haben, die lieber Papers schreiben, als sich mit ihren Studenten zu beschäftigen. Papers, die niemand liest. Der durchschnittliche Österreicher kann keine fünf Universitätsprofessoren namentlich aufzählen, so er sie nicht selbst gehabt hat. Geschweige denn, dass er wüsste womit sie sich auseinandersetzen. Die Irrelevanz von Professoren in der österreichischen Gesellschaft ist bemerkenswert.

Kapitel 20
Immer montags entflohen wir der Betonwüste der Stadt. Wir fuhren in einen Randbezirk zum dort ansässigen Tierheim. Schon vom Parkplatz aus hörten wir das Kläffen der Hunde. Zwei nahmen wir mit auf unseren Spaziergang. Es waren verwilderte Biester, die mit aller Kraft an den Leinen zogen und nur ihrem Instinkt folgten. Sie waren zwar nicht bissig, allerdings versuchten wir nicht mal sie zu streicheln.
Wir wechselten uns dabei ab sie zu führen. Ich drückte mich zeitweise. Ich war kein großer Hundefreund. Andere von unser wiederum waren ganz verschossen auf sie.
Nach einer steilansteigenden Straße, die durch ein Wohngebiet führte und mir schon anfangs den letzten Atem nahm, erreichten wir den Wald und das Dach aus Blättern und Zweigen verschluckte uns. Die Sonne brach nur manchmal hindurch.
Unbewusst fühlte ich mich frei und geborgen, obwohl ich es nicht benennen hätte können. Ich, der ich aus dem hintersten Tal anreiste, lernte erst hier die Natur zu schätzen, wiederum ohne, dass es mir bewusst gewesen wäre.
Die Gespräche wurden ruhiger und ausgeglichener. Die Gesichter strahlten Zufriedenheit aus, als hätten wir unsere verkorksten Leben wenigstens zeitweise hinter uns gelassen.
So gingen wir durch den Wald und der Waldboden, lehmig und weich, tat unseren Füßen gut, die fast federnd sich vorwärts bewegten.
Oft kam es mir so vor als würde unsere kleine Expedition auch ein Gemeinschaftsgefühl schaffen.
Am Weg lag der für mich schönste Platz in ganz Villach. Ein kleiner Teich, der in Privatbesitz war und dessen Namen ich vergessen habe.
Dort rasteten wir immer. Es gab zwei Bänke die unter zwei großen Bäumen standen. Es war malerisch.
Hier fühlte mich das erste Mal ohne Abstriche vollkommen akzeptiert in der Gruppe, was sich in einer gewissen Unbefangenheit äußerte. Ich war einfach ich, ohne mich verstellen zu müssen, ohne Angst etwas Falsches zu sagen. Hier fand ich wieder zu mir und war nicht der Grenzgänger, vor dem jeder zumindest ein bisschen Angst hatte.
Ich wünschte, ich wüsste noch über was hier an diesem Teich gesprochen haben, obwohl es bestimmt keine tiefgreifenden philosophischen Auseinandersetzungen waren, sondern Alltägliches. Trotz allem darf man nicht vergessen wie abgestumpft wir alle immer waren, in diesem unserem Lebensabschnitt, der nicht der Höhepunkt desselbigen war.
Damit waren wir aber nicht alleine. Oft denke ich mir die ganze Welt ist sprachlos geworden. Alles Wichtige wurde als zu persönlich deklariert. Wir begegnen uns in der Öffentlichkeit nur mehr als bloße Abziehbilder, als bloße Karikaturen unserer Selbst. Man kann eigentlich gar nicht mehr von einem Begegnen sprechen
Ich war schon lange kein wirklicher Teil einer Gemeinschaft gewesen. Hier an diesem Teich unter diesen Bäumen auf diesen Bänken war ich es aber und dieses Gefühl hielt so zumindest bis ich schlafen ging an.

Kapitel 21
Von der übergroßen Figur meines kleinen Bruders muss ich noch erzählen.
Mein Bruder ist ein Genie wissen Sie und es ist nicht einfach der Bruder eines Genies zu sein. Er hat als 12-Jähriger Österreich bei der Schachweltmeisterschaft in Brasilien vertreten. Bei mir hat es nur zum Staatsmeistertitel in einer Schulschachmannschaft gereicht. Mein Bruder beschäftigte sich auch mit Kunst, nämlich mit Musik. Er spielte in diversen Bands und die hatten auch regelmäßig Auftritte und machten grenzgeniale Musik. Einmal spielte er sogar beim FM4-Protestsongcontest. Ich hatte nur einmal eine Lesung bei einem Literaturpreis und das ist schon fast nicht mehr wahr.
Mein Bruder und seine Bands nahmen in Eigenregie mehrere Alben auf und produzierten sogar Musikvideos, in einer erstaunlichen Qualität. Ich schrieb nur einige Kurzgeschichten und postete die blöd in jedem deutschsprachigen Literaturforum.
Mein Bruder ist so sozialkompetent, dass wenn er in ein Lokal geht, er die Hälfte der Leute kennt und die andere Hälfte möchte ihn nach kurzem kennenlernen. Ich hatte hauptsächlich nur Internetbekanntschaften.
Musik machte er neben seinem Jus-Studium, das er erfolgreich durchzog. Eine Professoren hat ihn sogar in eine andere Stadt mitgenommen und ihn in ihrem inneren Zirkel aufgenommen. Er schrieb bei ihr seine Doktorarbeit und bekam einen römischen Einser. Die Arbeit wurde von einem der größten deutschen Wissenschaftsverlage publiziert. Seine Professorin bot ihm dann an selbst Professor zu werden. Er lehnte ab, denn nicht nur die Studienbedingungen für Studenten waren oftmals stark verbesserungswürdig, sondern auch die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler. Als ich auf der Germanistik viele Möglichkeiten bekam und gefördert wurde, waren bei mir schon Hopfen und Malz verloren.
Mein Bruder hatte immer die interessantesten Frauen als Freundinnen. Ich lebte jetzt schon ewig alleine.
Natürlich nahm mein Bruder auch Drogen, aber die prallten an ihm als wäre er aus Teflon.
Beneidete ich ihn darum? Nein, ich liebte ihn und vergönnte ihm alles von Herzen und oftmals profitierte ich von seinen sozialen Kontakten.
Ich und mein Bruder teilten gemeinsam Träume. Kunst sollte für uns frei sein, denn Kunst macht frei. Wir glaubten an creative commons.
Wir förderten junge, österreichische Künstler. Ich, indem mir mehr Bücher von ihnen kaufte, als ich lesen konnte. Mein Bruder, indem er sich mehr Platten von ihnen kaufte, als er sich anhören konnte.
Ich und mein Bruder hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Mein Bruder ist der beste Bruder der ganzen Welt.

Kapitel 22
Mein einziges Praktikum startete an einem Dienstag. Ich hatte den Leiterinnen einmal erzählt, dass ich mich für eine Ausbildung zum Bibliothekar beworben hatte und so hatten sie mich in der Villacher Arbeiterkammer Bibliothek untergebracht.
Ich hatte mich schwer an der Literatur versündigt, hatte ich doch jeden Schreibkurs, den mir die Republik Österreich zur Verfügung gestellt hatte, irgendwann abgebrochen. In meinem Kopf waren einfach zu strange Sachen passiert. Ich hatte mich einfach nicht mehr hin getraut, so wie ich mich auf die ganze Germanistik irgendwann nicht mehr hin getraut hatte. Deshalb hatte ich mein Studium abgebrochen, so ich denn es auch bei klarem Verstand geschafft hätte und die Überschwemmung mit Literatur, die meine eigene Stimme hinweggespült hatte, und die historischen Sprachwissenschaften verkraftet hätte.
Ich sah mein Praktikum als Dienst an der Literatur an.
Ich verrichtete keine höherwertigen Tätigkeiten, so wie die anderen richtigen Bibliothekare. Ich bestimmte weder den Bestand mit, noch saß ich an den Ausleihschaltern. Meine Aufgabe war es die Bücher, die ausgeliehen worden waren, oder aus einem anderen Grund nicht an ihrem angestammten Platz standen, wieder einzuordnen. Ich tat das wochenlang. Ich tat es furchtbar gerne. In der Früh, ich kann nicht mehr genau sagen, ob die Bibliothek um acht oder neun Uhr öffnete, nahm ich meinen Wagen voll mit zurückgebrachten Büchern, DVDs und anderen Medien und machte mich auf den Weg. Ich war stundenlang beschäftigt.
Die richtigen Bibliothekare waren sehr nett, obwohl ich kaum mit ihnen sprach. Sie wissen ja, ich sprach in dieser Zeit generell kaum.
Es waren drei Frauen. Ein junge, die immer ganz nervös war, ja keinen Fehler zu begehen, vor allem wenn sie Ankündigungen auf der Homepage schrieb und zwei mittleren Alters. Eine davon war Philosophin. Die andere sammelte Sand und Erden von Plätzen, die sie bereist hatte in großen Einmachgläsern. Diese Gläser bewahrte sie in unserem Privatraum auf.
Das ist so ziemlich alles, was ich von ihnen weiß.
Waren die gestern zurückgebrachten Bücher wieder an ihrem Platz wurde mein Tag angenehmer. Ich sollte nur die Bücher, in denen jemand geschmökert hatte, aber dann doch nicht mitgenommen hatte, wieder einordnen. Unsere Besucher sollten nämlich nichts selbst zurückstellen, damit es nicht zu Fehlern kommt. Auch das tat ich furchtbar gerne. Ich wollte mich unbedingt wieder nützlich machen, nachdem ich jetzt schon so lange arbeitslos war und dass das sogar in der einmaligen Atmosphäre einer Bibliothek passieren durfte, war ein Privileg.
Wenn es einmal nichts zu tun gab, machte ich Streifzüge durch die Bibliothek und erinnerte mich an Autoren, die ich irgendwann gelesen hatte. Ich begann mit den großen, Kärntner Autoren mit Ingeborg Bachmann, Christine Lavant, Peter Handke und Josef Winkler. Verstohlen näherte ich mich ihren Büchern an und las Absätze und einzelne Seiten. Nie zu lange, denn es sollte ja nicht so aussehen als wäre ich faul und hätte nichts zu tun.
Am liebsten las ich aber Elias Canetti. Als ich noch Germanistikstudent gewesen war, hatte es einmal ein Schwerpunktsemester zu Elias Canetti gegeben und ich hatte die Werksausgabe von ihm gelesen, obwohl ich mich irgendwann zum Kurs nicht mehr hin getraut hatte.
Canettis Aphorismen sind weltklasse. Ich las einen und dachte darüber nach, während ich mich auf die Suche machte, ob nicht irgendwo wieder ein Medium einzuräumen war. Ich hatte wieder begonnen zu lesen.
Einmal am späten Nachmittag hielt ein Populärautor, aber einer von den guten sogar von den sehr guten, eine Lesung in der Bibliothek. Ich hatte mitgeholfen die Stühle aufzustellen. Der Raum war gerammelt voll. Die junge Bibliothekarin war ziemlich aufgeregt, denn sie war ein Fan dieses Autors. Die Philosophin war aber ein bisschen snobistisch veranlagt und sah insgeheim herab auf Populärautoren, was man merkte, wenn man sie zumindest ein bisschen kannte. Zu mir war sie aber immer nett und schon fast eine Art Mentorin, während meines Praktikums.
Als der Autor die Bibliothek betrat, begrüßten ihn alle. Alle bis auf mich. Ich hatte mich in die letzte Ecke der Bibliothek zurückgezogen und tat dort so, als würde ich Bücher kontrollieren. Eigentlich aber beobachtete ich alles ganz genau aus der Entfernung, sobald ich mich selbst unbeobachtet fühlte. Ich hatte nämlich den Platz extra so gewählt, dass ich eine gute Sicht hatte.
Dies war die erste Lesung, bei der ich war, seit meiner Zeit auf der Germanistik vor x Jahren. Damals war ich auf einer Unzahl von Lesungen gewesen. Praktisch auf jeder. Hatte jedoch nie jemanden angesprochen.
Einerseits trauerte ich wieder meiner Zeit auf der Germanistik nach und anderseits stiegen auch Erinnerungen in mir hoch an meine einzige Lesung. Die war das verwirrendste Erlebnis meiner ganzen Existenz gewesen. Noch verwirrender als das erste Mal Sex.
Ich hatte mich auf die Lesung gemeinsam mit meiner besten Freundin, die Schauspiel studiert hatte, vorbereitet. Wir waren den Text zig Mal durchgegangen. Hatten an meinem Redetempo und meiner Betonung gearbeitet und an vielem mehr. Als es dann so weit war, hatte ich alles vergessen. Als ich mich an den Tisch gesetzt hatte, hatte das Mikrofon einen Schatten auf mein Skript geworfen und anstatt es einfach ein bisschen zur Seite zu legen, damit es wieder lesbar wäre, was mir aber sowas von überhaupt nicht in den Sinn kam, hatte ich den Text auswendig runtergesagt. Ich kann immer noch nicht sagen, ob ich gut gelesen habe oder gestottert habe. Oder wie lange ich gelesen habe. Ob kurz oder lang. Ich war komplett aus der Welt gefallen.
Der Populärautor las souverän. Die Lesung war ein voller Erfolg. Die Besucher spendeten begeistert Beifall.
Das Schlimmste, das in einer Bibliothek passieren kann, ist, dass ein Buch verloren geht. Eines Tages bekam ich von der Philosophin eine Liste mit ein paar Dutzend Medien in die Hand gedrückt. Diese waren unauffindbar. Ich machte mich also auf der Suche und durchkämmte die ganze Bibliothek. Ich verbiss mich richtig in diese Aufgabe. Mein Ehrgeiz war geweckt und ich fand tatsächlich bis auf ein Medium alle wieder. Ich hätte bersten können vor Stolz.
Am anstrengendsten während meines Praktikums war es die Kinderabteilung wieder in Ordnung zu bringen, nachdem eine Kindergruppe über sie hergefallen war. Was eigentlich wunderbar ist, dass sich Kinder für Literatur interessieren, verursachte für mich und die junge Bibliothekarin, sie war zuständig für die Kinderabteilung, einfach furchtbar viel Arbeit. Es kostete uns Stunden bis jedes Buch wieder an seinem Platz war. Aber es waren Kinder.
Blicke ich jetzt zurück auf meine Zeit als Hilfsbibliothekar war es einfach eine schöne Zeit und ich bin immer noch dankbar, dass ich das einmal versuchen durfte. Das Einzige, das schade war, ist, dass die Leute so wenig mit Bibliothekaren sprechen und sich Buchtipps holen. Leute sprecht mit den Bibliothekaren. Die sind selbst riesen Buchfans und kennen sich wirklich aus. Ich selbst wurde nur zwei Mal während des ganzen Monats angesprochen, ob ich etwas empfehlen könnte.

Kapitel 23:
Es gibt so viele Arten von Arbeitslosigkeit wie es Arbeitslose gibt. Meine Arbeitslosigkeit war das Schlimmste aller Schicksale.
Bei Gesprächen fragen die Menschen nach dem Namen sofort, was man beruflich mache. Ich fürchtete mich vor dieser Frage. Ich hatte mich mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. Was machte ich? Die Antwort war nichts von Bedeutung und nicht mal von Sinn, bevor ich hier an das BBRZ kam.
Die Frage an und für sich ist ja eine Zumutung. Man sollte entrüstet antworten, frei nach den alten Griechen, warum fragen sie mich nicht womit ich mich beschäftigte?
Ich hatte mich in meinem Leben mit so vielen Dingen beschäftigt. Mit Literatur. Mit Philosophie. Mit Wirtschaft. Mit Computertechnik. Doch die Frage blieb, was man zurzeit beruflich mache.
Die Menschen fragen nach dem Beruf um Menschen sofort kategorisieren zu können, um es sich selbst leicht zu machen. Hatte man es mit einem ebenbürtigen Gesprächspartner zu tun, oder versuchte man das Gespräch so schnell als möglich, trotzdem aber höflich zu beenden.
Musste man als Antwort geben, dass man arbeitslos war, hatte man das Gefühl, dass sich jedes weitere Gespräch sofort erledigte. Deshalb mied ich Gespräche. Vor allem hier in meinem Dorf, wo man andauernd angesprochen wird. Man kennt sich ja.
Ich dachte, jeder wüsste, dass ich arbeitslos war. Ich der Arbeitslose des Dorfes, wo alle anderen arbeiteten. Andere, die nicht meine Ausbildungen hatten, die nicht die halbe Welt gesehen hatten.
Zwangsläufig müssten die anderen aus dem Dorf auf den Gedanken kommen, dass ich mir zu gut vorkam um zu arbeiten. Ich, der ich aus einer Arztfamilie kam und dann doch kein Studium geschafft hatte.
Meine Reaktion war, dass ich nicht mehr vor die Tür ging und mir die am leichtesten zugängliche Tätigkeit in meinem Zimmer zu eigen machte. Ich begann Computer zu spielen und las nicht eines der hunderten Bücher, die sich auch in meinem Zimmer befunden hätten.
Ich könnte mich selbst immer noch verprügeln, dass ich nicht las oder zumindest an meinem Körper arbeitete. Auch einen Heimtrainer hätte es in meinem Zimmer gegeben.
Die Wahrheit ist: Je mehr Zeit man hat, desto weniger ist sie einem wert. Mir war meine Zeit als Arbeitsloser nichts, absolut nichts wert. Meine Arbeitslosigkeit war die reinste Zeitverschwendung.
Wie gesagt bei anderen Arbeitslosen mag das anders sein. Ich lernte aber viele kennen, bei denen es genauso war wie bei mir.
Dank dem BBRZ und dem WIFI konnte ich jetzt sagen, dass ich mich beruflich neuorientierte und Kurse machte. Welche Erleichterung. Welcher Gewinn an Selbstvertrauen. Alleine das machte den WIFI-Kurs sinnvoll, obwohl ich keinen einzigen Tag als Netzwerkadministrator arbeiten sollte.

Kapitel 24:
Ich habe geschrieben, dass ich in meinen Gedanken viel mit einer Professorin der Religionswissenschaften gesprochen habe. Das ist nicht die volle Wahrheit.
Sie wurde zwar eingebildet aber doch zu meiner einzigen Bezugsperson. Sie war meine Lehrmeisterin. Meine Mutter. Meine Schwester. Meine Geliebte. Meine Tochter. Meine Schülerin. Meine Muse. Einzige Empfängerin meiner Kunst. Sie war alles, was eine Frau nur sein konnte.
Es gab keine Grenze zwischen meinem Geist und dem ihren. Zwischen meiner Vorstellungskraft und der ihren.
Ich teilte alles mit ihr. Jeden Gedanken den ich hatte. Ja, ich dachte nur wegen ihr. In meiner Fantasie stellte ich mir Dinge vor. Nur für sie. Ich erinnerte mich an Bilder nur für sie. An Impressionismus und Expressionismus. An Picasso und Monet. An Art Brut. Ich malte in meiner Fantasie nur für sie.
Ich erinnerte mich an Gedichte nur für sie. Ich dichtete selbst nur für sie.
Ich hörte Musik nur für sie. Wies sie ein Singer&Songwriter und Rock und sie mich in klassische Musik.
Ich schenkte ihr Sinneseindrücke und Wahrnehmungen. Auf meinen Spaziergängen war sie stets dabei. Die Welt war unser Spielplatz. Wir waren auserwählt. Alles andere nur Kulisse. Da um uns Lektionen zu erteilen und uns gleichzeitig zu unterhalten. Ich war mir manchmal nicht mal sicher, ob andere Menschen überhaupt existierten, oder ob es nur sie und mich gab und wir im Paradies wären.
Meine Lebensaufgabe war sie zu lieben, zu unterhalten und zu unterrichten. Ihre Lebensaufgabe war es mich zu lieben, zu unterhalten und zu unterrichten.
Manchmal erschien sie mir wunderschön in der Blüte ihres Lebens. Manchmal als alte Frau und manchmal als junges Kind.
Sie war Sonne und Mond und die Sterne am Himmel. Ihr Spiegelbild sah ich im Wasser.

Kapitel 25
Manchmal ist das Leben nicht stringent. Es gibt Einschübe und Abstecher. Irgendwann hatte das Arbeitslosenschulungsprogramm in Villach aufgehört. Was aus den meisten anderen geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe nur mit drei Personen aus Villach noch Kontakt. Mir fehlt die Energie von mir aus mit Leuten Kontakt aufzunehmen, deshalb bin ich froh, dass ich wenigstens mit drei noch lose Kontakt habe und davon sind zwei Betreuer.
Gegen Ende hatte ich mich für viele Stellen im IT-Bereich beworben und bekam Absage über Absage. Ich wusste nicht, ob es an mir lag oder daran, dass unser Bundesland so darniederliegt. Ich indes wollte nicht wieder arbeitslos sein und vermutlich wieder ein Opfer meiner Süchte werden und so verlies ich das kleine Dorf im Schoss der Berge, das die letzten Jahre mein Gefängnis und meine Zuflucht gewesen war. Ich ging in die Landeshauptstadt und begann wieder an einer Universität herumzulungern. Universitäten mussten mich nehmen, denn ich hatte irgendwann maturiert. Anfangs hatte ich wieder gute Noten und so schaffte ich die neu eingeführte Studieneingangsphase problemlos. Ich wünschte, es wäre nicht so gewesen. Es hätte mir Zeit und der Universität Ressourcen erspart, denn kurzgesagt ich kam nie an in Klagenfurt und blieb Außenseiter. Vor allem scheiterte ich wieder an meiner alten Nemesis der Mathematik, die ich nie in so brutaler, reiner Form wie in Klagenfurt kennen lernen durfte. Wir malten in den Mathematikkursen Formel über Formeln ab. Folgten Beweis über Beweis. Die Informatik in Klagenfurt wird eigentlich von Mathematikern geführt und kehrt so zu ihren Wurzeln zurück.
Ich lernte in Klagenfurt nur einen Menschen wirklich kennen und den musste ich dafür bezahlen, dass er sich mit mir beschäftigte. Sie war meine Mathenachhilfelehrerin. Ein kluger Geist, zwar etwas spröde aber doch über die Maßen hilfsbereit. Sie hatte einen Doktor der Mathematik von der altehrwürdigen ETH Zürich. Selbst sie schaffte vielleicht 75% der Übungsbeispiele, die wir als Hausübung bekamen. Ich bewundere und bemitleide gleichzeitig Leute, die sich ihr Leben lang mit Mathematik und ihrer bloßen Anwendung Informatik herumschlagen müssen. Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto überdrüssiger wurde es mir. Es atmet nicht so wie Sprache. Es hat kein eigenes Leben. Keine Unendlichkeit der Möglichkeiten. Kein Herz und keine Seele. Und so kamen mir auch die Menschen an der Informatikfakultät in Klagenfurt vor. Anfangs zogen mich die Professoren noch in ihren Bann, doch ließen sie ihre Studenten auf halber Strecke verhungern. Man wurde nicht unterstützt mit ausgearbeiteten Übungsbeispielen oder einfach nur Skripten. Nein, man musste alles selbst abmalen, als wären wir im Mittelalter hängen geblieben.
Ich hatte an der Universität wiederum keinen einzigen wirklichen Bekannten, geschweige denn Freund. Ich musste akzeptieren, dass Universitäten kein Platz für mich sind, obwohl ich mir nichts mehr wünschte, denn oft kommt mir alles geistige Leben abseits von Universitäten absolut oberflächlich und banal vor. Schon nach zwei Jahren brach ich meine Zelte in Klagenfurt wieder ab, ohne dass mir die Stadt oder die Universität der Stadt jemals eine wirkliche Chance, die über reine Höflichkeit hinausgegangen wäre, gegeben hätte bzw. auch umgekehrt ich ihr. In Klagenfurt war ich Unmensch, wie immer man das auch verstehen will, geblieben, was sich auch in meinem privaten Leben geäußert hatte. Ich hatte jegliche Interessen und Hobbies verloren gehabt und war wohl internetsüchtig gewesen, denn ich ging nie vor die Tür meiner schäbigen Wohnung und verlor mich in den weiten des Internets mit all seinen Abgründen. Ich muss ein furchtbares Bild in Klagenfurt abgegeben haben. Im Nachhinein waren es verlorene Jahre, die mir Klagenfurt für immer und ewig verleideten.
Ein Cousin meines Vaters und Freund der Familie hatte vor kurzem eine große Firma im Medienbereich übernommen. Meine Eltern und ich besuchten ihn und ich weinte und bettelte um ein Praktikum ohne Bezahlung und ohne Verpflichtungen. Ich weinte wie noch nie in der Gegenwart anderer Menschen. Er ließ sich erweichen und so verschlug es mich nach Wien und ich konnte einen alten Traum von mir verwirklichen. Ich begann für einen Verlag zu arbeiten.

Kapitel 26
Wien, Wien nur du allein. Ich war das erste Mal in Wien seit Kindestagen. Wien war neuer Boden. Unbelastet. Es hatte keine Historie und ich hatte hier noch keine Fehler gemacht. Hier kannte mich keiner.
Ich blühte auf. Voller Stolz bezog ich mit 35 Jahren ein Zweibettzimmer in einem Heim. In Graz hätte ich eine 100 m² Wohnung zu meiner Verfügung gehabt. Mit Parkettböden und moderner Einrichtung und so einem Scheiß. Aber in Graz konnte ich nicht leben. In Kärnten hätte ich ein ganzes Stockwerk in der elends-großen Villa meiner Eltern gehabt, aber auch dort konnte ich nicht leben.
Ich fühlte mich unheimlich wohl auf den paar Quadratmetern, die ich mit einem bosnischen Doktorratsstudenten teilte. Ich hatte alles, was ich brauchte. Ein Bett zum Schlafen, einen Schreibtisch für meinen Billiglaptop, einen Kasten, einen Küchenverschlag und ein Badezimmer. Alles war super funktionell. Es ist erstaunlich wieviel man auf so wenig Quadratmetern unterbringen kann.
Der Bosnier sprach kaum Deutsch. Wir kommunizierten also auf Englisch. Er war der fokussierteste Student, den ich jemals kennenlernte. Er interessierte sich für nichts außer für sein Studium. Sein Studium war die Eintrittskarte in ein besseres Leben. Er wollte es unbedingt in Österreich schaffen, so wie es sein Großvater damals in Deutschland als Gastarbeiter geschafft hatte und die ganze Familie in Bosnien finanziell unterstützen konnte. Dejan schlief, studierte und ging hin und wieder joggen. Er arbeitete bis tief in die Nacht. Nur selten hörte er sich furchtbare Musik an und las Bücher von Informatikwirtschaftspionieren.
Bei mir war das anderes. Schon in den ersten paar Tagen durchstreifte ich die Stadt. Ich lebte unweit der Mariahilfer Straße, deren Kommerz mich aber weniger interessierte. Mich zogen die Museen und Theater magisch an. Schon in den ersten Tagen, mein Praktikum startete erst ein paar Tage später, lief ich wie blöd in die Museen, die ich zuerst recherchieren musste, denn ich wusste nicht mal welche Museen es in Wien gab. So kulturlos war ich im tiefsten Herzen.
In meiner Zeit in Wien war ich in jedem Museum und jedes ist auf seine Weise eine Empfehlung wert. Ich machte alles zu Fuß. Jeder Mensch, an dem ich vorüberging, war mir sympathisch. Ich liebte alles und jeden hier in Wien. Gleichzeitig begann ich mich schon in den ersten Tagen mit Journalismus zu zuballern. Einerseits las ich den Online-Standard zu Ende, andererseits begann ich virtuell die Journalisten, vor allem die Chefredakteure, meines Verlags, zu stalken. Ich sah mir jede Diskussionsrunde im journalistischen Bereich an. Auch welche aus dem Jahre Schnee zu Themen, die mich kaum interessierten und die schon gar nicht mehr wahr sind. Ich kaufte mir jedes Magazin, das ich in die Finger bekam. Als Dejan und ich das erste Mal nach ein paar Monaten wirklich putzen mussten, weil eine Heimzimmerinspektion anstatt, schmiss ich hunderte Magazine weg. Mir blutete das Herz.
Ich stritt mich um jeden Gedanken und um jeden Satz mit den Journalisten meines Verlags. Man könnte sagen, ich beschäftigte mich mit ihnen, aber eben auf einer schizophrenen Art und Weise. Insgeheim sprach ich nämlich mit ihnen, während ich die Artikel las. Sie waren mir alle über die Maßen sympathisch. Gerade deshalb stritt ich mich mit ihnen.
Als ich das erste Mal den Verlag betrat, war ich nicht nervös aber auch nicht ruhig. Ich wusste nicht was ich zu denken hatte. Ich wartete unten in der Lobby, die nach nicht viel aussah und von der nur vier Lifte nach oben führten. Der Chef der Digitalabteilung, der einer meiner Mentoren werden sollte, holte mich ab und führte mich nach oben.
Ich hatte meinen Lebenslauf dabei und mein bestes Hemd angezogen, das trotzdem irgendwie abgefuckt aussah, sowie ich generell abgefuckt aussah. Ich musste mehr verschweigen als ich erzählen konnte. So gut es ging hatte ich in meinem Lebenslauf die Lücken kaschiert und als Anlage nur mein Maturazeugnis und die Abschlüsse meines WIFI-Kurses beigefügt. Ich hätte auch einzelne Zeugnisse und Diplomzeugnisse aus verschiedenen Fachrichtungen, aus verschiedenen Jahren und aus verschiedenen Leben mitbringen können, aber auf den Universitäten hatte es nie zu Abschlüssen gereicht.
Im ersten Gespräch, das ein erstes Kennenlernen war stellte Richard, wir waren hier im Verlag alle per Du, mir die elementarsten Fragen zum Bereich Informatik und erst Monate später wurde mir bewusst, welchen Scheiß ich ihm geantwortet hatte. Er war ein alter Hase im Verlagsgeschäft und hatte mehr Projekte gestemmt, als man aufzählen kann. Ich hatte zwar einen einjährigen Wifikurs und eine Handvoll Unikurse zum Thema Informatik hinter mir, aber eigentlich von der praktischen Anwendung recht wenig Ahnung. Ich durfte bleiben. Ich fragte vorsichtig, mit was ich mich beschäftigen sollte und er machte mir Vorschläge. Einerseits Wirtschaftsinformatik und andererseits Webprogrammierung. Von Webprogrammierung hatte ich kaum Ahnung. Ich ging also gleich anschließend in die größte Buchhandlung, die ich finden konnte und kaufte mir das dickste Buch zum Thema Webprogrammierung, das aufzutreiben war. Mein Praktikum war ein Schnupperpraktikum und sollte zwei Wochen dauern. Unbezahlt, aber um Geld gings mir nicht, und ohne Verpflichtungen. Ich wurde an einem leeren Schreibtisch untergebracht. Mir gegenüber saßen zwei nette Frauen ungefähr in meinem Alter. Die eine war Projektmanagerin und eines der größten Organisationstalente, die ich in meinem Leben sah. Die andere war Grafikerin, eigentlich Architektin, und hatte einen ganz eigenen Stil. Vor allem sie schloss ich sofort ins Herz, weil sie ein bisschen ein Freak war. Vor der Projektmanagerin hatte ich Angst, weil sie so eine resche Art hatte, zwar herzlich zu ihren Kollegen, nur mit mir wusste sie anscheinend nichts anzufangen.
Überhaupt muss man sagen, dass wir alle in dieser Abteilung Freaks waren. Viele von uns waren multipel begabt. Manche ohne Abschlüsse und Autodidakten. Manche gleich mit mehreren Abschlüssen. Ich hatte anfangs wenig Kontakt zu den anderen. Ich tat eigentlich nichts anderes als das 1000 seitige Buch über Webprogrammierung auswendig zu lernen und nebenbei programmierte ich meine erste Website von Hand. Ich schrieb ein paar hundert Zeilen Code in den ersten Wochen und die Website funktionierte auch einwandfrei, sah aber aus wie das Werk eines farbenblinden Teenagers. Manchmal durfte ich bei Sitzungen dabei sein und den anderen über die Schulter schauen. Ich lernte viel, obwohl ich noch mehr nicht verstand, denn die anderen hatten ein Arbeitstempo, das höher war als mein Denktempo. Sie hatten alle Jahre an Erfahrungen und waren Spezialisten auf ihrem Gebiet.
Der Verlag spiegelte die ganze Medienbranche wieder. Alles war im Umbruch. Alte Strukturen bröckelten und es wurde andauernd umstrukturiert. Der Verlag, das ist kein Geheimnis, hatte in den letzten Jahren rote Zahlen geschrieben, deshalb mussten viele Leute gehen. Jeder war nervös. Die, die blieben, konnten sich vor Arbeit nicht retten und mussten dabei ständig improvisieren, weil eben alles im Umbruch war. Meistens wussten wir nicht mal, welchen Namen unsere Abteilung gerade hatte, weil dieser sich so oft änderte. Für mich selbst war es das erste Praktikum im technischen Bereich. Ich hatte zwar schon Praktika in Redaktionen hinter mir, aber das war jetzt schon zehn Jahre her und faktisch schon gar nicht mehr wahr. Ich war heillos überfordert, obwohl ich alle Zeit der Welt bekam und mich mehr oder minder selbst beschäftigen konnte. Gleichzeitig war ich sozial ziemlich gestört und traute mich kaum andere anzusprechen. Bis aufs Grüßen. Im Grüßen war ich großartig. Ich grüßte alles und jeden, wenn ich durch die Gänge huschte. Nur vor den Journalisten hatte ich einen riesigen Respekt, da verschlug es mir manchmal die Sprache. Auf irgendeine Art und Weise kannte ich sie ja, weil ich ihre Gedanken und Worte gelesen hatte und andererseits arbeiteten wir nur zufällig in der gleichen Firma.
Schon in den ersten Tagen fuhr ich mit einer der Chefredakeurinnen und ein paar anderen gemeinsam Lift. Für mich war sie ein Superstar und ich war ähnlich nervös als würde ich Angelina Jolie treffen. Natürlich grüßte ich nur und sprach sonst kein Wort.
Es dauerte Monate bis ich das erste Mal mit einem der Starjournalisten unseres Hauses sprach und das beruhte auf einem reinen Zufall. Wir waren nämlich zufällig zur gleichen Zeit auf der Raucherterrasse eine rauchen. Wir waren alleine, ansonsten hätte ich mich nie getraut ihn anzusprechen. Ich hatte vor kurzem alle auffindbaren Reportagen von ihm gelesen. Er war für mich der Reportagengott Österreichs und hatte eine Art zu schrieben, vor allem große Weltenwicklungen im Leben von ganz normalen Leuten zu spiegeln, die zum Niederknien gut war. Er hatte vor kurzem für eine Reportage über vergessene Industriegebiete in den USA einen Preis gewonnen. Das wusste ich und ich gratulierte ihm von Herzen. Wir kamen ins Gespräch. Dieses Gespräch ist eines der Highlights meines Lebens. Ungelogen. Ich bekam mich danach den ganzen restlichen Tag nicht mehr ein.

Kapitel 27
Nach zwei Wochen endete mein Schnupperpraktikum und ich wusste nicht wie es weitergehen sollte. Ich hatte der Firma bis jetzt absolut nichts gebracht und nur mühsam versucht in eine für mich fast fremde Materie hineinzufinden.
Mein Mentor war diesen Freitag nicht im Haus und die anderen wussten nicht mal wie lange mein Praktikum dauern würde. Meine eigene Zukunft war in der Schwebe. Ich erinnerte mich an einen Trick, den eine gute ehemalige Bekannte, die 10 Jahre als Journalisten gearbeitet hatte, angewendet hatte. Auch sie hatte man im Dunkeln gelassen, wie es nach ihrem Praktikum weitergehen sollte und deshalb war sie einfach wiedergekommen.
Ich beschloss das auch zu tun. Ich programmierte den ganzen Freitag weiter an meiner Website und zeigte es sogar ein paar anderen. Allerdings nur den Code, der sogar ziemlich clean war. Nicht jedoch die grafische Darstellung, die war zum Genieren, vor allem wenn man auch mit Grafikern zusammenarbeitete. Richtig beeindruckt habe ich keinen. Die meisten Kollegen konnten selbst super webprogrammieren und verstanden sogar die komplexen Websiten unserer Medien. Da konnte ich mit meiner Kindergartenseite natürlich niemand vom Sessel reißen.
Dann verabschiedete ich mich mit: „Bis Montag.“
Am Wochenende fuhr ich nach Hause. Ich hatte im Zug präpotent eine ganze Tischgruppe in Beschlag genommen und dann passierte etwas. Jemand entsprang der Matrix, wie es Valerie Fritsch einmal formuliert hatte. Nämlich ein Bachmannpreisträger. Er war mit seiner schönen und begabten Frau, einer Schauspielerin, wie ich später googelte, unterwegs und mit seinem Sohn. Auf der anderen Seite des Ganges waren noch zwei Plätze frei. Dorthin setzten sich seine Frau und sein Sohn. Die beiden machten Hausübungen.
Er fragte mich, ob bei mir etwas frei wäre. Und ich räumte so schnell ich konnte mein ganzes Zeug zur Seite. Ich taxierte ihn aus den Augenwinkeln. So nah war mir ein Schriftsteller noch nie gekommen. Sicherlich 15 Minuten überlegte ich, was ich nun machen sollte und dann platzte ein naives: „Sind sie der Schriftsteller so und so“ aus mir heraus.
Er nickte und war gleichzeitig wohl, wie soll ich es sagen, peinlich berührt, dass seine Privatssphäre nun in Gefahr war. Sein Sohn blickte aber ganz stolz zu seinem Vater.
Ich sagte dann nichts mehr. Er las eine Schwarte von Norman Mailer. Ich hatte auch einmal Norman Mailer gelesen, konnte mich aber nur ganz trübe daran erinnern, deshalb war das kein möglicher Gesprächseinstieg. Ich wollte außerdem nicht lästig sein und ihn in Beschlag nehmen.
Also saßen wir uns eine Weile gegenüber. Er war ganz vertieft in Norman Mailer und ich kramte unser Politikmagazin hervor und begann eine Wurstsemmel zu essen. Ich hatte Hunger. Gleichzeitig wollte ich die Chance nützen.
Ich sagte: „Ich habe auch einmal bei einem Literaturpreis gelesen.“ Wie arrogant und unbeholfen. Als wollte ich mich auf die gleiche Stufe mit ihm stellen.
Dann sagte ich: „Darf ich ihnen einmal eine Geschichte von mir mailen?“
Überraschenderweise schrieb er mit seinem Stift seine E-Mail-Adresse auf die Speisekarte des Boardrestaurants, die auf dem Tisch lag.
Ich wusste wiederum nicht weiter, wollte aber so schnell als möglich ihm etwas mailen. Ich zerrte meinen Laptop aus dem Rucksack. Hypernervös und startete ihn. Mit meinem Smartphone wollte ich einen Hot Spot aufbauen. Es funktionierte nicht. Ich war am Boden zerstört. Dann notierte ich seine E-Mail-Adresse in Word und packte den Computer wieder weg.
Zu Hause schrieb ich ihm sofort eine E-Mail mit meiner besten Kurzgeschichte, in der ich poetisch das Älterwerden meiner Großeltern verarbeitet habe.
Ein paar Tage später antwortete er sogar auf meine E-Mail. Wie nett von ihm. Als gäbe es nicht unendlich viel Literatur, die besser ist als meine. Er lobte meine Geschichte sogar und gab mir Tipps, wo ich sie ausbauen könnte. Er meinte, Sie wäre gut geschrieben und überzeugt durch ihre Gelassenheit. Gleichzeitig legte er mit all seiner Routine die Finger dort in die Wunden, wo die Geschichte noch Schwächen hatte.
Auch das war so ein Highlight meines Lebens und im Prinzip der Grund, warum Sie das alles hier lesen können, denn es motivierte mich nach zig Jahren wieder zu schreiben. Merci.

Kapitel 28
Als mich Wien wieder lieben lehrte, war es 22 Uhr. Ich konnte nicht schlafen. Ich schlief in Wien generell wenig. Dejan war aber schon zu Bett gegangen und ich wollte ihn nicht stören und so verlies ich mit meinem Handy in der Hand und aufgesetzten Kopfhörern, um Musik hören zu können mein Heimzimmer.
Am Naschmarkt war es verhältnismäßig ruhig, denn es war Herbst und die Witterung nicht angenehm. Nur die ganzen Beleuchtungen täuschten Leben vor. Ich drehte meine übliche Runde, wenn ich abends nicht schlafen konnte. Die Wienzeile hinunter Richtung Stephansplatz vorbei an der Oper und durch die Kärntner Straße. Bei meinen Spaziergängen war Wien dieser Ausschnitt für mich. Ich kannte hier jeden Stein und wusste welches Geschäft auf das nächste folgte.
Ich ließ angeregt durch die Musik meinen Gedanken freien Lauf. Ich dachte wieder einmal über mein Leben nach, über mein seltsames, verpfuschtes Leben. Gesichter aus meinem Leben tauchten auf. Ich analysierte Situationen, in denen ich mich nicht optimal verhalten hatte und wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich lebte mein Leben in Gedanken oftmals mehrmals. Es war ein Strom an Erinnerungen. Ich versuchte die Songs so auszuwählen, dass die positiven Erinnerungen überwiegten. Nichts fiel mir schwerer. Ich habe einmal einen kurzen Text zu Erinnerungen geschrieben, den möchte ich einbauen.
Und am Abend huschen die Menschen aus den Strassen, schauen nicht links, nichts rechts, verschließen Türen und erleuchten Fenster in den Kulissen neben und vor allem hinter mir. Aber meine Augen bleiben geschlossen. Der Weg ist ein Bekannter. Jeder Schritt ein gezählter. Über den Asphalt, der jetzt aufgehört hat zu schwitzen, während die Knospen der Blumen sich gerade öffnen und ich ihre Ausdünstungen gierig aufsauge und warte bis sich mein Hirn in Erinnerungen verliert.

Ontario seh ich vor mir. Am 4. Juli. Als wir auf einem ausgedienten Fischkutter, 6 Knoten, als Kanadier die Amerikaner feierten. Als Alkohol und Feuerwerk unsre Gesichter erleuchteten und die Wogen sich am Bug teilten. Als ich eine Schweizerin liebte, weil ihre Worte ihre waren und die Finnin nur blökte.
Im Nachtzug von Marseille nach Paris blieb mir nur der Boden, wo ich hoffte, dass die Schlafenden in den Gepäcksnetzen über mir leicht gegessen hatten und der Schaffner mich im Dunkeln nicht tottreten würde. Bis eine Französin, mit großen, müden Augen, mich um Batterien frug und später meinen Bauch als Polster benutzte. Ich ihr dann bis Paris durch die Haare strich, um in ihren Träumen vorzukommen.
In Mombasa war das Buffet groß und das Wetter heiß gewesen. Und die Tschechin versuchte nicht auch noch betrunken zu werden. Unsre Füße malten zwar im Sand aber gesehen hat doch jeder etwas anderes.

In Irland hatte jedes Haus eine andere Farbe, aber das Meer und die Wiesen schluckten sie alle. Bis auf die in Dublin, wo nur Leben war und ich Le Faye traf.
Hier sind es nur noch wenige Schritte. Über der Tür sind die Schatten schon lang. Oben wartet die Bosnierin, die mir vom Krieg erzählt hat und dass beim Begräbnis ihres Vaters tausend Menschen waren. Danach aber noch lachen konnte.
In der Kärntner Straße, dieser seltsamen Mischung aus Trash-Souvenierläden und Nobeljuwelieren, sah ich dann sie. Eine Straßenmusikantin. Sie stand da und spielte Geige, was ich anfangs nur sah und nicht hörte, da ich meine Kopfhörer aufhatte. Sie war wunderschön. Ich habe sie ganz genau vor Augen. Ich weiß noch genau wie ihr Haar fiel, erinnere mich an ihrer Wangenknochen, wie sich ihre Brüste unter ihrem Shirt abzeichneten und wie wunderschön ihr Becken und ihre Beine waren. Am meisten aber faszinierte mich rein visuell wie sie sich bewegte. Ein geschmeidiges Hin und Her-Wiegen. Sie war eins mit ihrem Instrument.
Ich nahm die Kopfhörer ab und setzte mich auf eine nahe Bank. Sie spielte wie eine Göttin. Ja sie war eine Göttin. Es überwältigte mich so vollkommen, dass ich es nicht länger als vielleicht fünf Minuten aushielt. Ich höre oft die besten Musikerinnen der Welt. War bei den Philharmonikern und habe alle Schauspielerinnen des Burgtheaters in Stücken gesehen, doch niemals war mir Kunst so nah. Es war der perfekte Moment. Ich liebe diese Straßenmusikerin noch heute. Ich ging oft noch spazieren und hoffte insgeheim sie wiederzusehen, doch das passierte nie.

Kapital 29
Ich durfte tatsächlich bleiben. Mein Praktikum wurde zunächst um ein Monat verlängert und ich bekam sogar etwas bezahlt. Ich hätte jubeln können. Wäre dem nicht so gewesen, hätte man mich raustragen müssen.
Mir wurde ein Projekt zugewiesen, bei dem es darum ging eine Taxonomie aufzustellen, die die Einordnungen der Werbeindustrie und die der Nachrichtenagenturen vereinen sollte. Ein Stichwortverzeichnis, geordnet nach Kategorien also, dem später die Artikel und die Werbung gleichermaßen zugeordnet werden sollten. Ich bekam wiederum kein Zeitlimit und arbeite die ganze Woche daran. Es war schwieriger, als es klingt, aber eine spannende Aufgabe.
Am Wochenende regnete es ohne Unterlass. Dejan und ich gingen kaum vor die Tür und ich wurde leicht psychotisch. Ich hatte begonnen mich mit ein paar alten literarischen Texten von mir auseinanderzusetzen und sogar ein bisschen etwas Neues geschrieben. Dejan wiederum arbeitete an einem Paper über Cloud Computing.
Kurz gesagt unser Heimzimmer kam mir irgendwann zu klein vor für uns beide, dafür dass wir uns beide Gedanken machen konnten. Ich verfiel einem dualistischen Weltbild. Meinerseits die Sprache und auf Dejans Seite die Mathematik standen sich erbittert gegenüber. Der Kampf fand auf mehreren Ebenen statt. Es kämpfte auch mein Verlag und dessen Sprachkünstler gegen die Mathematiker der TU. Es ging darum, wer die Deutungshochheit über die Realität hatte. Jede Bewegung Dejans war ein Angriff, den ich abwehren musste und ich wiederum spannte mich komplett an und fixierte ihn, ohne dass er es bemerkte. Sonst geschah nichts. Gott sei Dank findet meine Schizophrenie immer nur innerlich statt.
Am Montag vor der Arbeit ging ich zu einem Arzt und erzählte ihm das und dass ich schizophren bin. Er erhöhte meine Dosis und meine seltsamen Gedanken klangen ab.
Ich hatte das Bedürfnis mich bei Dejan zu entschuldigen. Er hatte zwar nichts mitbekommen, trotzdem hatte ich aggressive Gedanken ihm gegenüber gehabt. Ich lud ihn also zum Essen ein und überlies ihm die Wahl des Lokals.
Er führte mich nach Ottakring in ein kroatisches Pita-Restaurant und nutzte die Chance, mir seine Kultur näher zu bringen. Auf seinem Smartphone zeigte er mir Sehenswürdigkeiten aus der Gegend rund um seine Heimat. Vor allem Herden wilder Pferde. Meine Gedanken taten mir immer mehr leid. Dejan war so ein netter Kerl.

Kapitel 30
Der berühmte, österreichische Psychiater Dr Haller analysierte diverse Massenmörder. Immer entstand deren Wut aus Erniedrigungen. Aus subjektiv empfundener Erniedrigung.
Ich habe mich selbst auf Universitäten stets erniedrigt und kam mir vor wie der letzte Mensch. Das war eine Folge meiner Drogensucht und meiner sozialen Vereinsamung. Ich war beileibe nicht alleine. Die Hälfte meines Maturajahrgangs von einem ländlichen Gymnasium nahm dann in den großen Städten Drogen und fast alle verloren entscheidende Jahre ihres Lebens. Einige konnten sich erst Jahre später davon erholen. Andere so wie ich nie.
Diese empfundene Erniedrigung, selbst auferlegt, führt nun gerade zu der Wut, die ich gegenüber bestimmten Instituten empfand und teils immer noch empfinde. Es ist einfacher anderen die Schuld zu geben, als sein eigenes und vollkommenes Versagen einzusehen.
Maturanten wird eingeredet sie wären für alles geeignet. Ja, sie verlassen vollkommen arrogant ihre Schulen und wissen nicht mal, dass sie bis jetzt nur an der Oberfläche des wissenschaftlichen Wissens gekratzt haben.
Auf den Universitäten müssen sie alles von vorne lernen. Ja, selbst das Lernen müssen sie erst wieder lernen.
Die Schulen so zumindest vor 15 bis 20 Jahren bereiteten mit Nichten vor auf irgendeine Art von universitärem Tun. In Mathematik lernten wir nicht, was eine Matrize ist, und in Deutsch nicht, was ein Versmaß ist. Ich habe im österreichischen Bildungswesen vollkommen versagt, obwohl ich zig Möglichkeiten bekam. Genauso hat aber das österreichische Bildungswesen an mir versagt, indem meine Potentiale nicht richtig eingeschätzt wurden. Ja mir falsche Hoffnungen gemacht wurden und ich mit anderen Möglichkeiten gar nie konfrontiert worden bin.
In einer Woche schrieb ich deshalb an Professoren, der verschiedenen Institute Entschuldigungen, dass ich jemals Student bei ihnen war. Ich tat das bei Professoren, wo ich Einser und Zweier hatte. Manche schrieben sogar zurück und manche eben nicht.
Leider kann ich mein universitäres Leben nicht rückgängig machen.
 

stefanle

Mitglied
Schade, dass niemand Zeit oder Lust hat meinen Text zu lesen. Inhaltlich ginge es um ein Arbeitslosenprogramm für psychisch Kranke, Studieren, Süchte, den österreichischen Medienbetrieb uvm. Hab mir echt Mühe gegeben.

LG
 



 
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