Inge konnte mehr als........

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Haarkranz

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Inge konnte mehr als....

Ob das damals wirklich so einfach war, wer weiß? Aber Zeit heilt Wunden. Erinnerung aber bleibt, jedenfalls meine an diesen Leerlauftag in Saarbrücken, als ich schon ein Mann auf der falschen Seite der fünfzig war.
Herumtrödelnd in der Hotelhalle, kam mir plötzlich der Gedanke an Frau Schmid. Genauer, Frau Alvaria Schmid, der mich wie ein heller Funke aus der stickigen Gruft meiner Langeweile hochtrieb. Schmids, gab es sicher wie wie Sand am Meer, aber Alvaria?
Wenn sie noch lebt, steht sie im Telefonbuch mein zweiter Gedanke. Ich fand sie und sie meldete sich. Ihre Stimme klang ein wenig brüchig, kein Wunder, sie musste weit jenseits der achtzig sein.
Mein Name sagte ihr nichts, erst als ich Rothenburg und Kriegsende hinzufügte, lachte sie, „der kleine Wolf, Verehrer, meiner sich damals schon so erwachsen dünkenden, Inge.“
„Ja, Frau Schmid, genau der.“
„Was machen sie in Saarbrücken, leben sie hier?“ wollte sie wissen.
„Nein ich habe hier zu tun, den heutigen Tag zu meiner Verfügung, übermorgen reise ich wieder ab,“ erklärte ich.
„Ja, möchten Sie mich besuchen?“ fragte sie weiter.
„Ich käme gern, Frau Schmid.“
„Nun dann mal los, meine Anschrift steht im Telefonbuch, mit dem Taxi sind es von Ihrem Hotel kaum fünf Minuten. Ein Moment, bevor Sie einhängen, da ist noch was. Bringen Sie mir keine Blumen, sondern eine Flasche ordentlichen Scotch, Glennfidish, wenn möglich. Auf der Fahrt zu mir kommen Sie an einem Laden vorbei, „ Hard Liquor Shop “heißt der, da steigen Sie aus und kaufen die Flasche. Nicht so teuer wie im Hotel, die nähmen Ihnen ein Vermögen ab.“
Frau Schmid wohnte, in einem schönen, luftigen Appartement, mit Ausblick auf die Stadt und die umliegenden Hügel.
Ich begrüßte sie, ohne Heuchelei konnte ich sagen: „Ich habe Sie sofort erkannt. Ihr Gesicht in meiner Erinnerung, und Ihr jetziges, stimmen fast überein.“
„Sie nehmen mir nicht Übel, wenn ich nicht das Gleiche von Ihrem Gesicht und meiner Erinnerung sagen kann?“ Sie sah mich an und wölbte die Brauen.
„Sicher nicht,“ gab ich mich geschlagen, „und sie verübeln mir nicht, dass ich gleich zwei Flaschen vom köstlichen Scotch, mitgebracht habe?“
„Aber, Wolf, wollen wir ein Gelage veranstalten? Ach, was soll die Phrasendrescherei, setzten Sie sich, halt, vorher bitte aus dem Kühlschrank den Krug mit kaltem Wasser, im Schrank dort sind Gläser. Oder mögen Sie den Stoff lieber on the Rocks?“
„Nein ist o.k. so.“
„Ja,“ begann sie, „dann wollen wir mal ein Stück hinunterklettern in die Vergangenheit. Obwohl ich diesen Gedanken, vom hinunterklettern ausgesprochen blöd finde. Wieso hinunterklettern? Hört sich nach Grab und Tod an. Dabei ist Vergangenheit quitschlebendige Gegenwart, wenn man sich auf sie einlässt.
So manchen Tag sitz ich in meinem Rollstuhl und bin nicht hier. Bin auf meiner Hochzeitsreise, mit dem Traumziel Pisa, war anders als heute, Pisa war fern wie der Sirius. Fort aus dem grauen Saarbrücken, die Hochzeitsnacht im Schlafwagen, morgens frisch verliebt, vor dem marmornen Wunderturm.
Bei diesen Vergangenheits-Reisen spule ich den Film ab, der in einer anderen, aber meiner Gegenwart, von mir persönlich gedreht wurde. Diese Hochzeitsreise war Inges Anfang, hat sie zum Leben erweckt.
Also Rothenburg, meine zwei Töchter und ich sind ziemlich bald wieder nach Saarbrücken zurück. Irgendwann Ende 46 schrieb mein Mann, unser Haus sei unversehrt, aber von den französischen Behörden beschlagnahmt.
Das war schon mal eine gute Nachricht. Er war zwanzig Jahre älter als ich, hatte nicht Soldat werden müssen, an der Heimatfront gekämpft. So sagte man damals, wenn es einem gelungen war, einen sicheren Druckposten zu ergattern.
Als Saarländer war Max frankophil, hatte sich schnell mit den Besatzern arrangiert. War kein Nazi gewesen, hatte eine reine Weste.
Kommt zurück schrieb er. Je eher je besser. Wenn ich hier mit der ganzen obdachlosen Familie auftauche, kriegen wir unser Haus vielleicht zurück.
Schnell antwortete ich ihm: Lieber Max, er hieß Maximilian, seine Mutter nannte ihn nur so, sie hasste Max. Aber für mich, wie für seine Freunde, die mit seiner unkomplizierten Ungezwungenheit so herrlich klarkamen, war er Max.
Ich schrieb also : Lieber Max, eine wunderbare Nachricht! Wir können zurück und unser Haus ist auch noch ganz? Und wenn wir, deine drei Frauen und dein Enkelkind, von dem wir noch nicht wissen ob es ein Junge oder Mädchen wird, die Chance vergrößern, bald wieder in eigenen vier Wänden zu leben, o wie danken wir dem Schicksal, das es so gnädig mit uns verfuhr.
Da war es also raus. Max wurde Opa und hatte genug Zeit sich ins Unvermeidliche zu schicken, danach sich auf`s Unaufschiebbare zu freuen.
Sie interessiert, wie das geschehen konnte, Wolf?“
„Ja das wüsste ich gern,“ sagte ich, „ich erinnere noch genau, wie Inge mir, nachdem unser ins Holz gehen entfallen war, aus dem Weg ging.“
„Dafür gibt es eine Erklärung. Als Inge nach eurem ebenso unschuldigen, wie hübschen Waldsee Abenteuer nach Haus kam, war sie in sich gekehrt, lief irgendwie verdreht herum. Ich ließ sie also auf meinen Zeigefinger hüpfen und mein süßes, kleines Blondkehlchen, piepste mir die Geschichte ins Ohr.
Ich hörte mir das an und tat, was Mütter in solchen Situationen tun: Ich unterband. Ich machte ihr einfach klar, was sie getan hatte war unmöglich. Der Wolf ist im Vergleich zu dir noch ein Kind, erklärte ich ihr. Das genügte schon. Inge schämte sich schrecklich.
Leider nicht genug. Inge hatte ein starkes sinnliches Temperament, gelinde ausgedrückt. Ich habe das nicht erkannt. Hatte auch mit dem Waldsee Idyll nichts zu tun.
Mädchen werden in dem Alter, in unvoraussehbaren Schüben erwachsen. Abends geht ein Schulmädchen zu Bett, morgens steht eine junge Frau auf. Solange der obligate Märchenprinz nicht auftaucht, passiert nichts. Aber wehe!
Dies Wehe brach eines Tages in Gestalt eines schmucken amerikanischen Captains vom CIC, der unseren Hauswirt, einen ehemaligen Parteigenossen vernehmen wollte, über uns herein.
Herr Kaup, der Hauswirt, klopfte an unserer Stubentür, kam zusammen mit dem Ami herein und stotterte völlig verstört und vor Angst bebend:
„Frau Schmid, ich versteh nicht was der von mir will. Ihr versteht doch Englisch. Sagt dem doch, ich hätt niemand was getan, keinem Jud und nix, war nur PG.“
Mein Schulenglisch half da nichts, ich stand radebrechend vor dem Riesenkerl, der mich ignorierend, gleichmütig auf seinem Gummi kauend, dem Kaup bedeutete mitzukommen. Da schaltete sich Inge ein, die in diesem Moment mit einer Schürze voll Grünzeug, aus dem Garten hereinkam.
„Good morning, Sir!“ grüßte sie, und schaute furchtlos zu dem langen Kerl auf. „What can I do for you?“
Der Ami lachte, „help me arrest this old Nazi.“
„No, no! Mr. Kaup is no Nazi! He did not harm anyone! He is a very old member of the Nazi Party, yes. But without any activities.“
„Thats all over the same with you Germans,“ brummte der Ami, „throats cut, but no knifes. Come on, Kaup, into jail with you!“
Da hätten Sie mal meine Inge erleben sollen. Die stellte sich zwischen den Ami und Herrn Kaup, schob den Ami mit ausgestreckten Armen von Kaup weg und schrie: „No, no, no!“
Dem Riesenkerl stand vor Verblüffung das Maul offen, doch dann packte er die Inge um die Taille, schwenkte sie in leichtem Halbkreis und stellte sie mitten auf den Küchentisch, zwischen das vom Mittagessen noch nicht abgeräumte Geschirr.
Da stand sie mit zornblitzenden Augen, musste dem Captain nachschauen, der Herrn Kaup bedeutete:
„Come on!“ Zu ihr auf dem Tisch sagte er artig, mit einer kleinen Verbeugung: „Auf Wiedersehen, Fräulein!“
Er kam wieder, am gleichen Abend. Wir hörten einen Jeep vor unserer Tür bremsen. Wie der Blitz rannte Inge zur Gartentür raus und rief : „Wenn das der unverschämte Ami ist, wirf ihn raus!“
Es war der Ami und mit ihm, Herr Kaup. Herr Kaup nahm mich in den Arm, drückte mich dankbar und fragte, wo ist die Inge, die hat mich gerettet.
Der Captain hat ein gutes Wort für mich eingelegt, so habe ihm die Dolmetscherin, eine freundliche amerikanische Dame, nach dem das Verhör überstanden war, berichtet: Der Captain habe dem Vernehmungsoffizier von der Parteinahme der Inge für ihn erzählt:
Jemand der von einem jungen Fräulein so verteidigt würde, könne kein Nazitier sein. Jedenfalls nicht eins, wie die auf unserer Fahndungsliste.
Der Vernehmer habe ihn, den Kaup, dann über drei Stunden vernommen, ihn kreuz und quer nach den Rothenburger Verhältnissen ausgefragt. Insbesondere wollte er die näheren Umstände, von der Erschießung des Gärtners Rössler erläutert haben.
Ich konnte ihm nur sagen, diese wüste Tat gehe ganz allein auf das Konto der Wehrmacht, insbesondere das Konto eines Oberstleutnants Rosenau, der aber auf der Flucht vor euren Truppen, so sagte ich zu dem Vernehmer, auf eine Mine fuhr, oder trat und tot sei.
Wie stehen sie zu ihrem Führer, wurde ich dann gefragt. Grenzenlos entsetzt, sagte ich. Zugeben muss ich, zuerst bis 1941, also bis zu Beginn des Rußlandfeldzuges, war ich überzeugter Nazi.
In Rothenburg lebten 1933 neun jüdische Familien, Herr Kaup?
Ja, ich glaube wohl. Glauben sie, oder wissen sie? Um ehrlich zu sein, ich glaube. Die Juden sind hier nicht als Juden aufgefallen. Das waren Mitbürger, ohne dass jemand sich an ihnen gestoßen hätte.
Aber ihre Parteigenossen, haben sich doch ganz erheblich an den Juden gestoßen, das werden sie doch nicht leugnen wollen?
Nein, das will ich nicht leugnen, es bringt mich um den Schlaf, dass ich da, wenn auch indirekt, mitgemacht habe. Ich war kein Judenfeind, ich habe den Klaus Sternenfeld 1939 kurz vor Kriegsausbruch, mit meinem Auto in die Nähe der Schweizergrenze gebracht, damit der raus kam. Ich will mich dessen nicht berühmen, es ist wenig genug, aber in meiner Lage könnte es erlaubt sein, darauf hinzuweisen.
O.K. Herr Kaup, befand der Vernehmer. Sie können gehen. Ihre Aussagen decken sich mit unseren anderen Recherchen, und der Aussage von Herrn Sternenfeld. Sie sind ein Mitläufer, kein Ehrentitel, mehr so die Bezeichnung für die noch mal Davongekommenen.
Während Kaup berichtete, hatte der Captain seine Länge auf einen winzigen Gartenstuhl geklappt, interessiert zuhörend von einem Gesicht zum anderen schauend.
Als Kaup fertig war, sah er mich gerade aus an und fragte:
„Gut Arbeit, Frau Schmid? Now Inge, must excuse herself!“
Inge die die Szene hinter der Gartentür verborgen beobachtet hatte, kam rein, ging auf den Captain zu, gab ihm einen Kuss auf die Wange und schmetterte: „Excuse me, Sir! And now it is your term, to beg my pardon, for putting me on the table.“
„This I will do, little Miss,“ antwortete der Captain, faltete sich aus dem Stühlchen auf, stand nun hoch über der Inge, ging in die Knie, nahm ihre Hand und applizierte einen Hauch von einem Kuss.
Inge stieg ein zartes Rot in die Wangen, dann deutete sie einen kleinen Knicks an. Ich ging dazwischen und fragte unseren neuen Bekannten:
„Your Name?“ Der sah mich an und ich bemerkte jetzt erst, seine dunkelblauen Augen. Er hätte mit diesen Augen ein Bruder von Inge sein können.
„I am Allain Proust, I am a Cayoun from Lousiana, were we Cayouns live since the times of Louis Quatorze.“
Ich hörte nur Lousiana und Ludwig der Vierzehnte, sofort schoss es aus mir heraus: Parlez vous francaise?
Qui, qui, antwortete Allain, das ist meine Muttersprache. Hört sich etwas veraltet an, hab ich, als wir durch Frankreich zogen, festgestellt, aber verstanden hat es ein jeder.
Ich verstand es auch und fand, es hörte sich hübsch an. So werden die Franzosen im 17ten und 18ten Jahrhundert gesprochen haben.
Captain Proust oder Allain, er bestand darauf Allain genannt zu werden, ging zu seinem Jeep und kam zurück, beide Arme voll herrlichster Dinge. Zu Kaup sagte er, you old Nazi come and help me get the rest.
Als ich all die Schätze auf dem Tisch sortiert hatte, standen wir schweigend, mit großen andächtigen Augen um die Bescherung herum.
Kaup flüsterte, eine ganze Stange Aktive. Inge staunte, eine große Büchse Erdnußbutter, echter Bohnenkaffee, gute Butter und Weißbrot!
Allain, unsere Andacht durchbrechend: Und ein groß Flasch Schnaps.
Dann fiel er, zu mir gewandt in Cayoun, Mere Schmid, lass uns ein Festmahl haben.
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, an diesem Abend der satt und harmonisch endete, glaubte ich mich vorerst aller Sorgen ledig. Dazu hatte der Bourbon, den Allain Schnaps nannte, seinen Teil beigetragen.
Zum erstenmal seit Jahren, fühlte ich wieder die Leichtigkeit des Seins. Ein Buch mit diesem Titel habe ich Jahrzehnte später gelesen, aber treffender kann ich mein Gefühl nicht beschreiben. Ich fiel in mein, sich langsam um seine Längsachse drehendes Bett, von nur einem Gedanken beherrscht: O Gott, wir leben wieder!“

Soweit dieser Nachmittag bei Frau Schmid, der, als der Scotch zur Hälfte getrunken, der Kopf für ein Nickerchen auf die Brust sank. Ich kam aus meinem knisternden Korbsessel hoch und sie schlug die Augen auf.
„Ach, Wolf,“ sagte sie, „soweit ist das wohl alles, was Sie an der Inge interessieren könnte. Aber warten Sie!“ Sie richtete sich in Ihrem Rollstuhl auf, „gehen Sie bitte mal dort an die linke Schublade. Die Hefte und Blocks sind Inges Hinterlassenschaft. Die interessieren jetzt niemanden mehr, wenn ich tot bin, fliegen die in den Müll, das wär mir arg. Wenn Sie wollen, nehmen Sie die mit.“
„Aber ich bitte Sie, Frau Schmid,“ protestierte ich, „was wird die Inge dazu sagen, wenn Sie ihre Aufzeichnungen weggeben.“
„Die Inge? Die Inge kann nichts mehr sagen. Die Inge ist seit fünfzehn Jahren tot. Verunglückt, mit dem Auto. Sie lieber Wolf, fuhr sie fort, lassen mich jetzt mit dem Schnaps und meinem Kummer allein. Es war sehr lieb von Ihnen, mich zu besuchen. Inges Zeichnungen und Schriften sind ein Schatz, lesen Sie sie mit Muße, es wird Sie garantiert amüsieren.“

Zurück im Hotel, setzte ich mich erst mal an die Bar. War viel für einen Nachmittag, das Stückchen eigene Vergangenheit, die der Schmids und dann Inges Tod.
Ich legte ihren Nachlass auf den Tresen, und orderte einen Glennfiddish, mit bitte viel Wasser.
Nachdem ich mein Inneres ein wenig sortiert hatte, klappte ich einen der Blocks auf. Das erste Blatt war eine locker und gekonnt hingehauene Zeichnung; eine angedeutete Figur mit großem Hut, in einem schicken Complet.
Der Barkeeper stand nicht weit von mir, hatte schon als ich die Blocks auf den Tresen legte, interessiert hingesehen. Als ich nun die Zeichnung betrachtete, kam er näher und bemerkte: „Unverkennbar, Inge Schmid.“ Ich sah ihn erstaunt an und fragte ihn, „kannten Sie sie?“ „Und ob,“ sagte er. „Zehn Jahre lang, haben alle ihre Modenschauen, hier in unserem Hause stattgefunden. Unsere Bar hier, war ihr Studio, Büro und Wohnzimmer in einem. Außerdem hatte sie unsere Suite auf Dauer gemietet. Wenn sie alles Dicke hatte, verbarrikadierte sie sich bei uns, und wir hielten ihr die Lästlinge vom Leib.“
„Da muß sie ja ein tolles Geschäft gehabt haben, um sich das leisten zu können?“ staunte ich.
„Ja hatte sie“ bestätigte der Keeper, „die hatte eine Warteliste, in die ihre Kunden sich eintragen mussten. Wenn eine Dame dann ihr Ziel erreicht hatte, kümmerte sich Inge intensiv einen Tag, oder eine ganze Woche um deren Wünsche. Inge machte nur Entwürfe. Die Kundin ging dann, mit den Zeichnungen und Skizzen zu den mit Inge kooperierenden Schneidern. Die fertigten, ohne auch nur einmal Rückfragen zu müssen, nach ihren Anweisungen die bestellte Garderobe. Das war schon fabelhaft organisiert. Wenn sie nicht so früh gestorben wäre, hätte sie noch eine ganz große Karriere vor sich gehabt.“
„Wie ist es zu dem Unfall gekommen?“
„Ach wissen Sie, sagte der Mann, nun sichtlich von der Erinnerung überwältigt. Völlig banal. Ein Fahrfehler. Irgend wem wollte sie ausweichen, hat dabei die Kontrolle über den Wagen verloren. Dabei ist sie mit mäßiger Geschwindigkeit in eine Mauer gefahren und hat sich das Genick gebrochen.“
Der Arme rang nun sichtbar um Fassung. Ich packte meine Blocks, rief ihm im gehen zu, mach mich eben frisch, komm gleich noch mal vorbei und ging auf mein Zimmer.

Inges Zeichenblocks, Hefte, Ringbücher legte ich erst mal weg, um zu duschen. Soviel Alkohol am hellen Nachmittag, war ich nicht gewohnt. Ich fühlte seine Schwere in Zunge und Gliedern und legte mich aufs Bett. Als ich wach wurde, war es draußen still und stockfinster. Wie spät war es? Kurz nach zwei. Hatte mich ganz schön erwischt, der Nachmittag mit der alten Dame. Ausziehen und weiter schlafen, was sollte ich sonst tun.
Aber da lagen Inges Aufzeichnungen. Die Neugier packte mich. An sich war Inge Schmid eine Fremde für mich. Das Jugenderlebnis nicht so tief gehend, als dass es bleibende Spuren hinterlassen hätte, und schon so lange her.
Aber etwas lockte mich zu lesen.
Halt, da war noch Inges Foto in unserer Familienfotokiste. Sie diagonal aufgenommen, das Bild füllend. Elegant und deutlich sichtbar, ihre zerbrechliche Schönheit. Wie hatte der Barkeeper gesagt? Ein Kristall, ein gläsernes Schwebegeschöpf mit tausend Facetten, sei sie gewesen.
Ich hatte ihr Bild nun deutlich vor Augen, gemixt aus Erinnerung, Fotografie und Vorstellung. So vorbereitet, machte ich mich über ihre Aufzeichnungen her.
Auf dem Karton der Kladde, ein Aufkleber für Name und Klasse, sofern die für Schulzwecke verwandt worden wäre. Jetzt stand nur eine Jahreszahl da. 1960.
Die flüssige, mit grüner Tinte und unverkennbar mit Füllfederhalter geschriebene, gut lesbare Schrift, machte mir das Vordringen in Inges, ganz und gar vergangene Vergangenheit leicht. Zuerst musste ich noch die befremdliche Wirklichkeit, ihres Todes verdrängen, aber dann, je tiefer ich eindrang in Ihren Alltag, ihre Gedanken und Vorstellungen, vergaß ich mich und meine Einmischung.




10.4.1949
Frau Bichler hat mich angesprochen, ich könne doch nähen, ob ich nicht mal vorbeischauen wolle?
War da. Die Bichler hat ein Riesenstofflager. Herr Schmitz, Schneidermeister, macht daraus nach Vorkriegs-Schnittmusterbögen Damenkleider. Die gehen weg wie nix, strunzt Frau Bichler. Ich könne bei Ihr anfangen, dem Schmitz helfen beim zusammennähen.
Herr Schmitz ist sehr nett, meinte aber, er müsse erst einmal prüfen, was die junge Dame könne. Hab mich also an die Maschine gesetzt, die zugeschnittenen Teile zusammengenäht.
Das geht aber flott, lobte er mich, jetzt sehen wir mal nach ob das alles sauber verarbeitet ist. Der guckt sich das alles genau an, prüft die Nähte, hängt das Kleid auf die Büste und staunt, perfekt. Wo haben sie das denn her?
Was? frag ich zurück.
Na, das handwerkliche Können.
Hab ich mir selbst beigebracht. Musste immer schon, für die Mama, die Tanten, meine Schwester, eben alles weibliche in der Umgebung Kleider verändern, aus Betttüchern welche zaubern, aus drei alten Röcken, zwei neue und eine Jacke machen, und, und, und.
Ja, ja nickte der Schmitz, Praxis ist die beste Ausbildung, kann man an Ihrem Exempel mal wieder sehen. Meine Mutter hat früher immer gesagt, wir armen Leut müssen aus Dreck Rosinen machen.
Zur Bichler meinte er, die Inge kann das besser als ich. Das trifft sich ja, sagt die, wenn du willst Inge, kannste sofort anfangen.
Als was denn, Frau Bichler? frag ich zurück.
Wie meinste das? Als Näherin natürlich. Zahl dir die Stund zwei Mark fuffzig.
Nö, Frau Bichler, als Näherin mag ich nicht. Nur da sitzen und zugeschnittenes zusammenhauen, ist nicht meins.
Meinste man kann sich aussuchen, was man heutzutag tut? Weißt du wieviel Frauen arbeitslos sind, sich nach solchner Arbeit die Finger lecken?
Will ich garnicht bestreiten, Frau Bichler, nur ich möchte nicht Näherin werden.
Und was stellt die junge Dame sich vor? die Bichler, mit ein wenig süßer Schärfe in der Stimme.
Was ich mir vorstelle? Ja wenn ich ehrlich sein soll, Sie das wirklich interessiert, ich hätte ein paar gute Vorschläge.
Da schaltet sich Herr Schmitz ein und sagt:
Frau Bichler, Sie haben ja Recht, wenn Sie meinen es gäb genügend Frauen, die liebend gern Näherin würden. Wenn die nur einiges Geschick und guten Willen mitbringen, lern ich die binnen 14 Tagen an.
Was ich aber in der kurzen Zeit von der Inge gesehen habe, wär es Perlen vor die Säue geworfen, die als Näherin zu verschleißen. Außerdem will die auch gar nicht.
Ja, sagt die Bichler zu mir: Dann überleg dir mal deine Vorschläge. Wenn du was Gutes bringst, sehen wir weiter.
Darf ich mir die Stoffvorräte ansehen?
Wozu denn das? Was haben denn meine Vorräte, mit deinen Vorschlägen zu tun?
Alles, Frau Bichler, sagte ich. Alles. Wenn wir was bringen sollen, ist Material und was man daraus macht, das Wichtigste.
Dem stimme ich zu, sekundierte Herr Schmitz. Ich ahne schon was das Mädchen vor hat.
Und das wäre? die Bichler. Den Vorkriegsmuff aus unserem Angebot treiben, lieg ich da richtig? fragt der Schmitz.
So ungefähr, Herr Schmitz, stimmt das schon. Auf jeden Fall, die Frauen schön machen. Nicht nur anziehen.
Am nächsten Tag saßen Frau Bichler, Herr Schmitz und ich fast den ganzen Tag zusammen. Nachdem ich erklärt und erläutert hatte, was ich, sollten wir zusammenkommen, vor hatte, wuchs bei Frau Bichler langsam aber sicher die Begeisterung.
Am Ende stand die Gründung des Ateliers Schmitz und Schmid, im Hause Bichler. Exclusive Damenmoden in handwerklicher Solidität.
Ich war für Entwurf und modische Gestaltung, Herr Schmitz für die handwerkliche Ausführung zuständig.
Frau Bichler gewährte für den Anfang einen Kredit, in Höhe der wöchentlich anfallenden Lohnkosten. Wir verkauften exclusiv an Bichler, für das Atelier war eine Miete von hundert Mark monatlich fällig. Stoffe wurden solange noch Vorräte auf Lager waren, von Bichler gekauft. Später konnten wir kaufen, wo wir wollten.
Dann legten wir los. Es wurde ein Bombenerfolg, ist es immer noch.
Ich bin selbstständig!!! Noch zu anderem gut, als uneheliche Kinder in die Welt zu setzen!!!

Geschehen im Juli 1946
Proust, Allain Proust, der Cayoun, Vater meines Kindes, der sollte mich jetzt sehen.
Seine hochmütige CIC Fresse. Ob der immer noch seine schönen Lefzen so blödsinnig hochzieht?
Wie einfach für ihn, mir kleinem Mädchen, hungrig und in jeder Beziehung unbeleckt, zu imponieren. Mich in das stinknoble Eisenhut Hotel zu schleppen, mein großäugiges Staunen zu nutzen, um mich flachzulegen.
Wenn er wenigstens aufgepasst, ein Gummi über seine blöde Stange gezogen hätte. Wenigstens das. Aber da hätte sein Opfer ja Lunte riechen können. Hätte ja einer Manipulation bedurft. Warte mal, ich muss da mal eben was machen. Hätte ja ablassen müssen, von seiner Puppe. Puppe, ja Puppe!
Hing doch, ist mir noch ganz und gar gegenwärtig, wehrlos in seinen Armen, betäubt vom einlullenden Duft seines Rasierwassers und den reichlich vollen, zwei Gläsern Drambuie, die er mir eingeflößt hatte.
Es war Hochsommer, die Luft stand vor Hitze. Außer dem dünnen Sommerfähnchen und dem Slip, war nichts zwischen Prousts Männlichkeit und mir. Er ließ sie mich fühlen, seine Männlichkeit und ich erbebte. Spürte nie erlebt Fremdes, sich meinen Rücken hinauf tasten, die Haut mit Schauern überschütten, den Kopf überschwemmen, Emotionen von nie gekannter Intensität auslösend.
Ich kann nicht sagen wie lang das dauerte, erinnere nur einen besorgt dreinschauenden Proust, der mich schüttelte, mein Gesicht mit leichten Schlägen traktierte, come on baby, that was it, wake up! flüsterte, zischte, beschwor.
Ich rappelte mich zusammen. Mein Kleid, Slip und Schuhe vor dem Bett. Ich nackt, und über mir, halb auf mir, der nackte Proust, haarig wie ein Affe.
Begriff ich die Situation sofort, oder dauerte das eine Zeit? Aus dem Bett war ich jedenfalls im Bruchteil einer Sekunde.
What did you do to me? schrie ich.
Well, I made love to you, kam es von dem Affen auf dem Bett.
Made love to me? You call that love?
No, not really, really we fucked, we both fucked. And baby, you enjoyed it.
So what! Schrie ich ihn an. So I enjoyed it!
Don’t be so outraged, versuchte er mich zu beruhigen, it is nothing bad, to like a good fuck. Most people go nuts about it.
Ich warf mein Kleid über, rannte ins Bad, ein Blick in den Spiegel. Da hatte sich nichts verändert. Inge guckte auf Inge. Also nichts wie weg, raus hier. Ehe sich Proust in seiner ganzen Länge auf dem Bett liegend, sicher die Fortsetzung der Vorstellung erwartend, aufrappeln konnte, stürmte ich aus dem Zimmer.
Keine Ahnung hatte ich, dass er mir ein Kind gemacht hatte. War ja auch im höchsten Grade unwahrscheinlich, bei einer Entjungferung schwanger zu werden. Nur mich hatte es getroffen! Gewiss wurde das, als meine Regel ausblieb. Was heißt gewiß, zuerst ignorierte ich dieses unmissverständliche Signal, betete sie würde schon noch kommen, die Regel. Betete vier Wochen, bis ich entgültig einsehen musste, nachdem die zweite Regel auch ausblieb, es hatte mich getroffen. Ich war schwanger. Mit sechzehn Jahren schwanger. Jetzt gab‘s nur noch beichten, der Mama alles erzählen, nur die konnte helfen.
Als ich spät abends zu ihr ans Bett schlich, dass unvermeidliche Geständnis abzulegen, konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, so dunkel war es. Ich beichtete also in die Dunkelheit hinein. Sagte auch nicht viel. Nur eben:
Zum zweiten Mal, keine Regel.
Sie darauf: und? wieso?
Ich: wie, wieso? Wieso ich nicht blute?
Sie: Natürlich, muss doch einen Grund haben. Deine Tage bleiben doch nicht einfach so aus. Ich möchte wissen warum, Fräulein. Da genügt nicht die einfache Mitteilung der Tatsache.
Ich, der Proust, der Proust hat, hat..
Die Mama unterbrach, nicht der Proust hat, ihr, du und der Proust habt. Weiter, wo habt ihr? Er hat mich mitgenommen, in sein Quartier, den Eisenhut. Wir haben richtig lecker gegessen, mit Kellner Bedienung und so. Zum Schluss hab ich zwei süße Schnäpse zu trinken bekommen.
Getrunken, die Mama, nicht zu trinken bekommen. Keine Beschönigungen bitte. Weiter?
Ich, ja es ist passiert. Er hat mich an sich gedrückt und die Welt verschwamm vor meinen Augen. Als ich wieder wach wurde, lag ich in seinem Bett, nackt. War kein Kunststück mich auszuziehen, hatte ja fast nichts an.
Aber ausgezogen, hast doch du dich? Er hat dir doch nicht das Kleid vom Leib gerissen, oder sollt ich mich da irren?
Nein, nein. Es ist schon so, ich hab es auch gemocht, was er mit mir gemacht hat.
Aha, die Mama wieder. So sind wir also ein wesentliches Stück weiter. Proust hat dir ein Kind gemacht, und wir müssen es großziehen. Du bist nicht die Erste und nicht die Letzte, der das passiert. Nur ein wenig arg früh ist das schon. Geh bitte jetzt zu Bett, morgenfrüh sehen wir weiter, müssen das Beste aus der Situation machen. Nur eins kannst du dir schon mal zu Gemüte führen, der Vater deines Kindes wird sich einen Dreck um euch kümmern.
Also ging ich schlafen. Das verrückte, ich schlief tief und sorglos. Nachdem ich meine Sorgen an die Mama weitergereicht hatte, ging‘s mir wieder gut.
Proust hatte schon ein paarmal in den letzten Wochen versucht mich zu sprechen. Aber ich bin immer davongelaufen. Sobald ich seinen Jeep hörte, ab durch die Gartentür und weg. Der hat sich dann noch eine halbe Stunde oder so, bei der noch ahnungslosen Mama rumgedrückt, hat sie mit seinem Cayoun-Speech beflirtet und zischte wieder ab.
Geschwiegen sollte werden. Mama hat noch am morgen nach meinem Geständnis, einen Brief an ihre Schwester in Ellwangen geschickt und angefragt, ob ich bei ihr mein Kind austragen, und zur Welt bringen könne.
Das war ihr Plan. Eisern schweigen. Niemand wusste von der Schwangerschaft, außer nun Tante Gerti. Da war aber nichts zu befürchten. Mama und Tante Gerti hingen aneinander wie die Kletten.
Ich sollte nicht wieder in Rothenburg auftauchen. Vielleicht gelingt es uns bis dahin, zurück nach Saarbrücken zu kommen, dann war das ihr Kind, fertig!
So einfach war das. Jedenfalls sah es so einfach aus. Ich bekam ein Kind, das war mein kleiner Bruder, oder meine kleine Schwester. Wichtig, zu keinem ein Wort, wenn der Plan gelingen sollte. Du brütest und hälst dich raus, war ihre Anweisung.
Was sollte ich tun, bis alles arrangiert war, würde eine Woche oder zwei vergehen. Zur Schule brauchte ich nicht mehr. Mamas erste Handlung war, mich abzumelden. Ging ich also spazieren.
Die Schwangerschaft bekam mir gut. Nie hatte ich mich so wohl gefühlt.
Bist mir schon eine blöde Kuh, lachte Mama. Keine Ahnung von tuten und blasen, jetzt ist sie schwanger und es geht ihr auch noch gut.
Auf einem meiner langen Spaziergänge, durch das in voller Sommerpracht blühende Taubertal, stand ich plötzlich Proust gegenüber.
Bis heute ist mir nicht klar, ob er mir gefolgt war, oder der Zufall unsere Begegnung provozierte. Ich weiß nur, mir wurden die Knie weich, als er vor mir stand, der Duft seines Rasierwassers zu mir herüber wehte.
„Hello Inge,“ kam es gar nicht forsch von ihm. Er stand da als ob er nicht wüsste, was tun, mit seinen langen Armen und Beinen.
„I apologize, for saying such nasty things to you. I forgot you are still a kid.“
„No Proust, ich bin kein Kind mehr. Jedenfalls seit diesem Nachmittag im Eisenhut nicht mehr.“
Er zerknirscht: „I apologize, for what I have done to you.“
„No, Proust, du irrst. Es hat gut getan, Frau zu werden. Du hast die Wahrheit gesagt. Wie war das noch: Most people go nuts for a good fuck. I go nuts for a good fuck, too.“
Proust sackte ganz langsam die Kinnlade runter. Ich konnte sehen, wie sich hinter seiner Stirn die Gedanken formierten. Seine Augen die mich voll Mitleid angesehen, deren Blau ohne Tiefe, ganz banal, einfach blau war, blau wie eine Kittelschürze, strahlten auf wie zwei Wunderkerzen.
Inge fragte er, Inge is that true? You liked it? It or me?
Beides antwortete ich. Beides. It and you. Für mich ist, it and you, eins. It‘s you, Proust.
Diesmal kam seine Antwort spontan.
Eh ich mich versah, hatte er mich an sich gerissen, sein Mund und meiner verschmolzen, zu einem saugenden, suchenden, zärtlich beißenden eins.
Nur nicht aufhören, nur immer weiter machen, diese endlose Umarmung in Ewigkeit verwandeln, hoffte, zitterte, bangte ich.
Die Wirklichkeit, das Ende der Ewigkeit war der Weg. Wir waren plötzlich nicht mehr allein. Proust packte meinen Arm, gemeinsam sprangen wir die sicher hier zwei Meter hohe Böschung hinunter. Nach einigem Rutschen und Gleiten, fanden wir uns über einem Gartenhäuschen wieder, wie die Leute sie in die Hänge des Taubertals bauen. Ein geschütztes, kleines, abschüsssiges Fleckchen Erde, für uns ein herrlich, ungestörtes bon retiro.
Über mir der blaue Himmel und Prousts strahlende Augen, unter mir seine Uniform, Hose, Jacke und Hemd, woraus er auf weichem Moos ein Lager gebaut hatte.
Und in mir Proust. Nicht wie beim erstenmal, ein betäubender Zusammenprall in dessen Hintergrund, trotz aller Ekstase Angst hockte. Nein eine einzige, lang anhaltende Liebkosung, die ich mit angehaltenem Atem und rasendem Herzen genoss, als seine dicke Stange meine zarten Häute auseinanderschob, in einen nicht enden wollenden, schiebenden und ziehenden Rhythmus verfiel, mich zwingend meinen Leib wie einen Bogen gespannt ihm entgegen zu drücken, um ja nicht, auch nicht einen einzigen dieser meine Sinne peitschenden Stöße zu verpassen.
Stöße die tief vordrangen in mein innerstes Sein. An Pforten klopften, die Räume verbargen, von deren Dasein ich erst jetzt erfuhr. Der rhythmischen Tanz des rein und raus, riss mich hinein, in diese Kemenaten äußerster, besinnungsloser Lust.
Delirium? War Delirium so? So unsagbar gewaltig, so furios den Baum schüttelnd, der ich war, die Früchte dieses Tuns wie Fieberschauern über mich vergießend.
Wir lagen verknäult, verknotet, nur wir, bis uns fröstelte. Proust sah mich an und sagte:
I love you. I never loved any human being, man or woman, mother or father, as much as I love you. I don’t want you to answer, Inge, please no comment. This moment is sacred to me, if you want, to us. But sure as I live, to me.
Ich wollte und konnte nichts sagen, antworten, sprechen. Ich war gewesen wo es mich nicht gab. Da wo die Sonne auf und unterging, Zenith und Nadir, alles zur selben Stunde. Mein Körper war erschöpft, doch mein Geist Quellwasser klar.


19.Juni 1961
Wenn ich lese was ich da geschrieben habe, spontan, einfach wie es mir in den Sinn kam, ohne Prüfung, nachdenken.
Eins steht jedenfalls fest. Die Jugend stand mir nicht im Weg, um Sex als ein Fest der Sinne zu feiern. In soweit war ich den Frauen von damals weit voraus. Musste ja nicht mehr fürchten, schwanger zu werden.
In den Wochen bis ich nach Ellwangen abreiste, feierten Proust und ich orgiastische Liebesfeste.
Als der Tag der Trennung kam, verbot ich Proust am Zuge zu erscheinen. Verabschiedete mich von ihm, ohne eine Träne. Das heißt Tränen flossen genug, der sie weinte war Proust.
Wir hatten unsere letzte Nacht in der Traube in Schillingsfürst verbracht. Proust beglückte den Wirt, mit aus der Küche seiner Einheit organisiertem, wovon der ein Liebes und Abschiedsmahl bereiten sollte.
Der Wirt gab sich alle Mühe, spendierte dem so gebefreudigen Gast einige Flaschen Frankenwein, aus seinen Geheimbeständen. Proust sprach dem Wein reichlich zu, ermunterte mich, doch bitte, von diesem köstlichen Tropfen zu kosten. Ich ließ mich nicht lange bitten, mit dem Ergebnis Proust und der Wirt, mussten mich fast bewusstlos betrunken, ins Bett transportieren. Am nächsten Morgen war große Katerstimmung. Ich beschimpfte Proust, machte ihn für das Desaster der verpatzten Liebesnacht verantwortlich.
Bring mich nach Haus aber schnell, herrschte ich ihn an, untersteh dich am Bahnhof zu erscheinen.
Das war‘s, tatsächlich strich ich Proust als Mensch ganz aus meinem Leben.
Jedoch blieb er stets präsent, wenn ich mich meinem Begehren hingab. Immer lugte Proust, dem mich mehr oder weniger gut Betreuenden, über die Schulter. Manchmal war es mir, als ob er den Kopf schüttelnd murmelte : „Not good enough for you, Inge.“
Das er Vater werden würde, hat er nie erfahren.



1959 Sylvester, noch vier Stunden und das neue Jahrzehnt beginnt.
So wie ich mich fühle, voll Hoffnung und Zuversicht, kann es nur gut werden. Wird Zeit das ich die Kladde zuklappe, und mit dem Verkleidungs Ritual beginne.
Was heißt Verkleidung, an sich sollt man Entkleidung sagen. Die Hauptarbeit wird die Frisur machen. Was der Friseur da gebastelt hat, kann so nicht bleiben.
Die Crux bei denen ist das Handwerk. Wenn die drei Jahre sogenannter Ausbildung hinter sich haben, sind die für Einfühlsamkeit, Geschmack und eignen Stil versaut. Als ob den Typ einer Frau zu erfassen, zu unterstützen oder abzumildern, nach dem gleichen Schema erlernt werden kann, wie die Vergaser Reparatur eines Lastwagens.
Jedenfalls muss ich diese blöden Betonlocken sprengen und lustig, luftige Kringel hinkriegen. Wenn ich dran denke, fallen mir jetzt schon die Arme ab.
Was soll‘s. Dieses Sylvester feiere ich mit Basta, meinem so entzückend bemühten Tollpatsch, Sebastian. Der hat keine Ahnung wie sehr er mir gefällt. Meint wenn ich ihn Basta nenne, wär‘s eine Veräppelung. Das muss aufhören. Muss ihn dringend erhören. Geht nicht so weiter, kribbelig wie ich werde in seiner Nähe.
Das Kleid, das Kleid wird ihn umwerfen. Das Decollete so herrlich gewagt und ich kann‘s so ganz einzig tragen. Man sieht fast alles oder auch nichts. Wie war der Wahlspruch des Hosenbandordens, gleich wieder? Ein Schelm der Böses dabei denkt. Aber jetzt Schluss, unter die Dusche und dann zum Siege hin schmücken, schmücken, schmücken.

2 Januar 60.
Na endlich geht es mir wieder besser. War ein schlimmer Kater, den ich mir in der Sylvesternacht fast ins Bett geholt hatte.
Dabei hat er sich so gut angefühlt, am Anfang. So wenig aufdringlich wie der war, dann so was. Völlig verkorkst der Typ. Dabei hat der drei Schwestern. Zwei älter als er, und eine jünger. Altersmäßig dicht beieinander. Müssen ihre Pubertät zusammen durchlebt haben. Sollte man meinen, der wüsste wie Frauen ticken.
Aber nichts davon. Völlig blöd und borniert der Kerl.
Hätte es ja als Eroberung sehen können. Für eine Nacht voll der Seligkeit, den Schlager müsst der doch noch gehört haben. Da macht der sonn Gewese.
Steht da in der Ecke und druckst rum, anstatt mir das Kleid auszuziehen. Ich sag noch, zieh mir mal den Reißverschluss auf, danach hätt ich total im Freien gestanden. Wär doch gut gewesen und absehbar.
Da geht der hin, greift mir ins Decoletee, reißt das Kleid auf, danach seine Hose, wirft mich rücklings auf`s Bett.
Gut das ich meine Stimme habe. Tief einatmen, und mit aller Kraft brüllen was die Stimmbänder hergaben: Raaauuus! Sofort raaauuus!!
Der lässt ab von mir, steht einen Moment verdutzt, starrt, zieht seine Hose hoch, schnappt seine Jacke, weg ist er.
Frau erlebt viel, bevor sie sechzig ist, sagt die Mama immer. Wie Recht die hat. In den blöden Kerl, hab ich nun mehr als zwei Monate investiert.
Hat mir am nächsten Tag ein Billett mit roten Rosen geschickt, sich entschuldigt. Was soll das. Hätte er sich sparen können. Von Verliebtheit keine Spur mehr bei mir. Arschloch das.
Nur die Abende werden wieder lang. Seit ich erfolgreich bin, wird das mit den Männern immer schwieriger. Haben große Probleme mit Ihrem Selbstbewusstsein, die Herren. Einen aufbauen und anfüttern, wie ich das mit dem Sebastian getan habe, nie wieder nach der Pleite. Ich mach‘s wie die Mama, nehm mir einen Älteren.
Der Papa ist ja zwanzig Jahre älter als sie, uns Kindern ist das nicht aufgefallen. Wie die Mama damit zurecht gekommen ist?
Gefragt hab ich sie nie. Ist mir garnicht der Gedanke gekommen. Nun waren die durch Krieg und Nachkrieg oft getrennt. Fragen werd ich sie aber. Guter Rat ist bei dir nicht teuer, Mama.

Ich las nicht weiter, die Nacht war vergangen, der Tag brach an. Die noch verbleibenden Stunden bis zum Morgen, verschlief ich in Träume von Inges Leben verheddert.
 



 
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