Ins Hier und Jetzt

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Schreibhals

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Im Hier und Jetzt

„Achtung, sie kommt zu sich.“
Blinzeln. Flackerndes Licht.
„Wir dürfen sie nicht verlieren, nicht wieder!“
Was sind das für Stimmen?
„Hörst du mich? Sarah, kannst du mich hören?“
Wer zur Hölle spricht da? Wo bin ich?
„Sarah, schau mich an, bleib bei uns. Erkennst du uns?“ Bleiben? Wo soll ich denn hingehen? Wieso stehen Mama und Papa da? Sie sehen so anders aus. Mama weint. Eben waren sie doch noch fröhlich. Was ist das hier?
„Sarah Schatz! Erkennst du mich? Deine Mutter?“
Nein, das ist nicht meine Mutter. Sie sieht ganz anders aus. Ihre Haare sind anders. Ich mag es hier nicht. Ich will hier weg. Lasst mich gehen. Lasst mich!
„Wir verlieren sie wieder. Sarah! Sarah bleib bei uns. Du musst hierbleiben!“


„Schatz, geht es dir gut?“ Sarah öffnete die Augen. Sie saß am Esstisch mit ihren Eltern. Alles wie immer. Alles vertraut. Ihre Mutter hatte sich zu ihr herübergebeugt, dichtes, braunes Haar fiel ihr in die Stirn. Ihr Vater sah sie von der anderen Seite des Tisches mit gerunzelter Stirn an.
„Schatz? Sarah?“
„Ja, mir geht es gut. Ich war nur kurz…ich hatte kurz…“ „Wieder einen Anfall?“ , fragte ihre Mutter. Sarah nickte.
Sie konnte die Sorgen in der Stimme ihrer Mutter hören. Seit ihrem Unfall damals war nichts wie vorher. Sarah war mit ein paar Freunden unterwegs, nichts Wildes, ein paar Bier, ein paar Gramm Hasch, sie fühlte sich gut. Sehr gut sogar. Thomas, die Liebe ihres Lebens, hatte gefragt ob sie noch fahren kann. Klar, hatte sie gesagt. Es war ja schließlich auch ihr Auto, damit würde sie sowieso niemanden anderen fahren lassen. Überhaupt, es waren auch nur zwei Kilometer bis zum Haus ihrer Eltern. Da kann nichts passieren. Nicht hier, mitten im nirgendwo. Sie nahm also auf dem Fahrersitz Platz, Thomas neben ihr, die anderen beiden hinten. Ein paar Minuten waren sie unterwegs, sie war nur kurz von etwas ablenkt, dann waren da nur noch Lichter, Schreie und großer Schmerz. An mehr erinnerte sie sich nicht. Sie lag drei Monate im Koma. Thomas und die beiden anderen haben fast unverletzt überlebt. Ein paar Schrammen und blaue Flecken, das war alles. Selbst die Ärzte sprachen von einem Wunder. Nachdem Sarah Fotos des Unfalls gesehen hatte wusste sie auch, warum. Da war kein Auto mehr zu erkennen. Nur noch Metall und Gestrüpp das sich ineinander verwoben hatte.
Als aus dem Koma wieder erwachte hatte man sie langsam wieder an das Leben herangeführt. Bleibende Schäden seien nicht festzustellen, sagten die Ärzte. Drei Jahre ist das jetzt her. Seitdem hatte sie immer wieder diese Anfälle. Momente, in denen sie nicht mehr hier war, sondern woanders. Momente, in denen sie sich klarer fühlte, aber auch ängstlich. Nein, nicht ängstlich, voller Furcht. Niemand konnte ihr sagen, was es damit auf sich hatte. Ihr Psychiater sprach immer von „Unterdrückten Schuldgefühlen ihren Freunden und Eltern gegenüber“ und empfahl ihr zehn weitere Sitzungen. Gebracht hat das auch nichts.
Ihre Mutter schaute sie noch lange an, setzte sich dann wieder.
„Du hast noch gar nichts gegessen. Möchtest du denn nicht?“ „Doch Mutter“, sagte Sarah. Sie stocherte im Brei auf ihrem Teller herum und schob die Bohnen von links nach rechts.
Sie hatte ihren Eltern nie erzählt, was genau sie sah während ihrer Anfälle. Da waren Ärzte, weiße Kittel, Monitore, aber auch ihre Eltern waren da. Sie sahen traurig aus und schauten auf sie herab. Sie flehten Sarah an, doch bei ihnen zu bleiben.
„Weißt du“, sagte ihr Vater, „heute hatten wir einen sehr guten Tag im Büro. Meine Firma hat den größten Auftrag ihrer Geschichte bekommen. Wenn es so weiter geht, dann muss dein alter Herr bald nicht mehr arbeiten und kann mit deiner Mutter in ein Haus am Strand ziehen.“ Ihre Mutter lächelte und nahm seine Hand. „Das wäre ja wundervoll! In den letzten Jahren hatten wir so viel Glück, oder Schätzchen?“
Ja, das hatten sie wirklich. Ihr Vater verdiente mehr Geld als zuvor. Ihre Mutter brauchte daher nicht mehr arbeiten und widmete sich ganz ihren Büchern. Und Sarah? Nun, sie selber wurde an der besten Universität des Landes aufgenommen und gilt als eine der herausragendsten Studentinnen ihres Jahrgangs. Auch mit Thomas, ihrer großen Liebe, lief alles wunderbar. Sie überlegten sogar zu heiraten. Alles bestens. Sie konnten glücklicher nicht sein.
„Sarah, möchtest du noch etwas Nachtisch?“, fragte ihre Mutter. Sie hatte inzwischen den Tisch abgeräumt und Eis in einer großen Schüssel hingestellt. Eis war immer drin. Es vertrieb die Sorgen. Sarah löffelte gedankenverloren, dachte an Thomas, an ihr zukünftiges Leben und lächelte. „Na, geht’s dir schon wieder besser?“, fragte ihr Vater wissend. Sarah grinste und nickte. „Wie früher. Eis hat bei dir schon immer geholfen.“ Auch ihre Mutter lachte: „Es vertreibt die trübsinnigen Gedanken und bringt einen zurück ins hier und jetzt.“
Recht haben sie.

„Ich fürchte, wir haben sie schon wieder verloren. Sie war so dicht dran wie lange nicht mehr. Es tut mir leid. Ich fürchte…“ Den letzten Satz beendete der Doktor nicht mehr. Sarah saß wieder auf dem Boden. Den Blick nach oben ins Leere gerichtet.
„Schatz, dein Vater und ich kommen morgen wieder. Wir lieben dich!“ Sie tupfte ihrer Tochter noch einmal Schweiß von der Stirn und erhob sich. Ihr Mann nahm sie unter den Arm. „Wir grüßen Thomas Eltern von dir. Wir treffen sie am Friedhof. Wie jedes Jahr. Sie sind dir nicht mehr böse. Du brauchst keine Angst haben“, sagte ihre Mutter beim Herausgehen. Dann wischte sie sich eine Träne aus dem Auge und verließ mit ihrem Mann das Zimmer.
Zurück in ihr Hier und Jetzt.
 



 
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