Insekt der Nacht

Kyra

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Insekt der Nacht

Als ich die neue Wohnung betrat, war es plötzlich da. Es saß leise zirpend auf dem rauhen Holzboden vor meinen Füßen. Ich hob es auf – wie eine fette Grille sah es aus – grünlich, mit prallem runden Leib.
Es saß ruhig auf meiner Handfläche und ich wußte, dies ist mein Glück. Ich mußte dieses kleine Geschöpf behüten. So schloß ich es in die Höhlung meiner Hände und begann die Räume zu durchstreifen.
Draußen wurde es bereits dunkel, bleigraues Zwielicht fiel durch die hohen Fenster. Ich würde bald hier wohnen. Mein Blick fiel auf den großen viereckigen Hof, die Häuser des Quadrats sahen aus wie ein Gefängnis. Auf dem Hofplatz standen kahle Bäume, aber ihre Zweige und Äste waren schon schwanger von Frühling. Die langen düsteren Flure der Wohnung machten mich traurig. Ich sah auf die Straße hinunter, eine enge Sackgasse die mit einem Bahnwall endete. Aus einer offenen Kneipentür drang Musik zu mir nach oben. Einige Männer standen an die Hauswände gelehnt müßig in der Dunkelheit. Nur ihre Bewegungen verrieten sie oder das Aufglimmen einer Zigarette. Voller Schrecken bemerkte ich, meine Hände waren leer. Das Insekt war verschwunden. Sofort machte ich mich auf die Suche. Es war weitergezogen, ich mußte es schnell wieder finden, bevor es endgültig verloren war.
Stundenlang irrte ich durch die Straßen, den Blick zu Boden gesenkt, meinte ich, seiner Spur zu folgen. Auf einer Landstraße, schon weit ab der Stadt, sah ich es vor mir. Grünschimmernd kroch es über das verzehrende Grau der Straße. Glücklich nahm ich es auf, legte es zärtlich in meine Handfläche und streichelte es mit meinem warmen Atem. Der Weg zurück führte mich über eine Kohlehalde. Hier standen Männer die auf eine Frauen warteten - immer wieder mußte ich tastende Hände abwehren, flüsternden Fragen ausweichen. Endlich kam ich zu den Gleisen, zu meiner Straße. Das Lokal war noch geöffnet, ein junger Bursche bot mir seine Dienste an. Atemlos erreichte ich meine Haustür und hastete die dunklen Stiegen hinauf. Hier erst wagte ich die Muschel meiner Hände zu öffnen. Das Insekt war verschwunden, aber eben hatte ich das zarte Klopfen seiner Fühler noch in meiner Handfläche gefühlt. Es mußte noch hier auf der Treppe sein. Vorsichtig trat ich eine Stufe in die Dunkelheit hinunter. So sachte ich auch den Fuß aufsetzte, ich fühlte, wie das zarte Wesen unter ihm zerbrach. Ich hob es auf. Sein Rückenpanzer klaffte weit auf, eine klare Flüssigkeit, wie eine sämige Träne trat heraus. Im nächsten Augenblick vertrocknete es zu einer leeren Hülle, bräunlich und durchscheinend, die Erinnerung an eine Möglichkeit.
Achtlos warf ich es beim Betreten der Wohnung in den Mülleimer.
 



 
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