Intensivstation

ankepee

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Intensivstation

„Bitte klingeln. Zutritt nur nach Aufforderung durch das Pflegepersonal“ steht auf dem Schild an der Tür. Was dahinter passiert, könnte man nur sehen, wenn man sich flach auf den Boden legen würde. Nur im untersten Teil ist die Eingangstür zur Intensivstation durchsichtig, der Rest bleibt Außenstehenden verborgen.

Jetzt allen Mut zusammennehmen und klingeln. Dahinter liegt die Mutter in einem hoffentlich besseren Zustand als man sie am Abend zuvor mit dem Notarztwagen hat abfahren sehen. Die Operation sei gut verlaufen, hatte der Neurochirurg noch nachts telefonisch mitgeteilt. Aber dass das noch nichts bedeuten muss, sondern nur ein erster kleiner Mosaikstein ist, hatte er auch gesagt.

Die Angst klammert sich ums Herz, jeden Tag, wenn man vor dieser Tür steht und den Klingelknopf drückt. Sie nimmt einfach so Besitz von einem, auch wenn der Verstand einem rund um die Uhr signalisiert, dass ziemlich wahrscheinlich nichts mehr so sein wird, wie es vor wenigen Tagen noch war. Am schlimmsten ist die Ungewissheit. Nicht zu wissen, worauf man sich vorbereiten soll - Beerdigung? Pflegefall?

All die Tage in der Warteschleife. Wie soll man den Kopf anhalten, der schon loslaufen will, der etwas zu tun braucht, der die Situation abarbeiten will, sortieren, wo es noch nichts zu sortieren gibt. Weil man zum Abwarten verdammt ist, weil dies die Tage der kleinen Fortschritte sind. Die Tage, in denen ein bewegter Finger schon zu den Highlights zählt. Von Augenaufschlag oder gar zielgerichteten Bewegungen ist man noch meilenweit entfernt.

Nachts kommen die Bilder zurück. Wie sie da lag, verkrampft und stöhnend, in ihrem Erbrochenen, so als ob sie auf keinen Fall kampflos aufgeben wollte. Die Zähne hielt sie fest zusammengebissen, als müsste sie von dort ihr Durchhaltevermögen beziehen.

Nun liegt sie hilflos da, zusammengeschrumpft in diesem viel zu großen Bett. Überall kommen Schläuche aus ihr heraus, die unappetitliche Flüssigkeiten führen. Hirnwasser mit Blut kommt aus dem Kopf, Resterbrochenes aus der Lunge.
Sie liegt da mit kahl geschorenem Vorderschädel. Die Narbe über der Stirn führt über den halben Schädel – sieht aus wie getackert.

Am Kopfende gruppieren sich mehrere Monitore und eine Art Regal für all die Medikamente, die in flüssiger Form durch andere Schläuche in sie hineingepumpt werden.
Mehrere farbige Kurven laufen über den Monitor: der Puls ist grün, die Sauerstoffversorgung gelb, Blutdruck violett, Hirndruck ist blau. Wenn etwas davon aus dem Takt gerät, fängt es an zu piepen. Jedes Piepen lässt einen zusammenfahren. Was bedeutet das jetzt? Warum kommt nicht sofort ein Pfleger? Erst im Laufe der Wochen auf der Intensivstation lernt man auch als Angehöriger, dass nicht jedes Piepen gleich etwas Bedrohliches zu bedeuten hat.
Solange nicht ganz plötzlich mehrere Leute hektisch reinkämen, sei alles in Ordnung, hatte der Pfleger uns erklärt. Das ist ja beruhigend. Angenehmer macht es die Geräuschkulisse trotzdem nicht.

Der Tag, an dem sie das erste Mal die Augen aufmacht, treibt mir die Tränen in die Augen. Dabei ist es nicht mehr als ein winzigkleiner Hoffnungsschimmer. Nichts, an das man sich klammern könnte.

Im Wartesaal des Grauens

Heute wieder im Wartesaal des Grauens und der Hoffnung – hier treffen sich über mehrere Tage dieselben Menschen. Die ältere Frau mit dem Rollator, die ihren Mann besuchen kommt. Die holländische Familie, die am ersten Tag noch weinend den Flur bevölkerte. Sie haben nach einem Unfall gleich zwei Angehörige zu besuchen – zum Glück nur einen auf der Intensivstation. Seit zwei Tagen können sie schon wieder lachen.
Manche kommen dann auch einfach nicht mehr wieder in den Wartesaal des Grauens und der Hoffnung. Was man sich zu verbieten fragt ist, warum sie nicht wiederkommen. In welche Richtung hat ihr Angehöriger die Intensivstation verlassen – Richtung Leben oder Richtung Friedhof?

Völlig hilflos und ausgeliefert steht man am Bett, darin liegt wie ein sehr kleines Häufchen Elend die Mutter. Fassungslos schaut man auf die ganzen Kabel und Schläuche, die ihr aus Mund, Nase, Kopf und wer weiß wo noch rauskommen. Der Anblick nimmt den Atem, zerreißt das Herz. Meine Hände streichen verloren über die Bettdecke, trauen sich nicht, die Hände der Mutter zu berühren, die kraftlos daliegen. Manchmal öffnet sie die Augen, doch ihr Blick bleibt leer.

Jeden Tag aufs Neue allen Mut zusammenkratzen. Wird es heute mal ein Zeichen der Besserung geben? Dies sind die Tage der ganz kleinen Erfolge, Fortschritte gibt es nur im Minimalstbereich. Erste Stufe Erleichterung: Am Tag vier nach der OP macht sie das erste Mal wieder die Augen auf – für mehr als einen Wimpernschlag. Wer hätte gedacht, dass ein simpler Augenaufschlag so viel Erleichterung mit sich bringen kann.
Nächste Stufe Erleichterung: Am Tag 13 scheint sie mich das erste Mal anzuschauen, dreht den Kopf in meine Richtung, nickt ab und zu auf Fragen, drückt mir zum Abschied die Hand. Für Hoffnung reicht das allerdings noch nicht. Noch gestern lag sie total schlapp und müde in ihrem Bett, konnte kaum die Augen öffnen, hatte abends wieder Fieber. So sehen die Meilensteine dieser Tage aus.

Was tun mit der Hoffnung? Am Tag zwei der leichten Verbesserung will sie schon unbedingt vorpreschen. Doch der Verstand funkt dazwischen. Wie wird es morgen sein? Lieber noch nicht zu viel hoffen, dann wird die Enttäuschung nicht so groß, falls es doch wieder schlechter wird. Also weiter mit angezogener Handbremse.

Es geht in Wellenbewegungen auf und ab – stabil ist sie noch lange nicht, auch wenn schon alles vorbereitet wird für die Zeit nach der Intensiv. Vorher steht noch eine weitere OP am Kopf an. Ein sogen. Shunt muss gelegt werden, mit dem überschüssiges Hirnwasser innerhalb des Körpers abgeleitet wird.

Die Gerüche verfolgen mich. Wenn sich die Türautomatik in Bewegung setzt, um einen hineinzulassen, und man am Eingang die Hände mit Desinfektionsmittel einsprüht, erschlägt einen der Duft von Desinfektionsmittel und Medikamenten zunächst. Aus einem Geschäft mit Dekoartikeln musste ich dieser Tage wieder rausgehen. Sie nutzen offenbar zur Reinigung dasselbe Mittel wie auf der Intensivstation. Da war das Shoppingerlebnis gleich am Eingang gestorben.

Nicht nur die Haut wird dünn vom Desinfektionsmittel. Das Nervenkostüm ist ebenfalls sehr wechselnd robust. Es gibt Tage, da fühlt sich der Besuch an wie ein ganz alltägliches Vorgehen – als hätte man nie etwas anderes gemacht. An anderen Tagen würde man am liebsten vor der Tür kneifen, wegrennen aus dem Wartesaal des Grauens, einfach abhauen, zurück in sein altes Leben! Ganz schlimm sind die Tage, an denen die Hoffnung, diese dumme naive Gans, schon wieder zu weit vorgeprescht war und sich hinter der Schiebetür nur Verschlechterung offenbart oder – am schwersten auszuhalten – eine verzweifelte Mutter, tieftraurig, womöglich gar weinend. Woher nimmt man bloß die Energie, um die Stimmung nicht total kippen zu lassen?

Geschafft! Wieder einmal. Die Tür hinter der Intensivstation surrt zurück. Jetzt fällt die Anspannung ab, die einen da drin aufrecht gehalten hat, die dafür gesorgt hat, dass man nicht schluchzend ob des Elends am Bett gesessen hat. Sondern versucht hat, der Mutter Zuversicht zu vermitteln, ihr berichtet hat von den kleinen Erlebnissen des vorigen Tages, davon, wen man getroffen hat, was man gegessen hat oder wo man spazieren gegangen ist. Lauter nichtssagende Tätigkeiten, über die man bis vor ein paar Wochen kein Wort verloren hätte.

Auf dem Nachhauseweg kommen immer die Tränen – hemmungslos lasse ich meine ganze Traurigkeit abfließen. Wie gut, dass ich meist alleine unterwegs bin, dann stört es niemanden und keiner muss sich genötigt fühlen, mich zu trösten. Ich will keinen Trost für etwas, für das es keinen Trost gibt!
Zu Hause angekommen ist mein Akku dann alle. Schlapp wie eine Luftmatratze, bei der man den Stöpsel gezogen hat. Dann braucht es erst wieder einige Stunden, ehe sich die Energiereserven wieder zusammengesetzt haben.

Die verbotenen Gedanken

Immer wieder tauchen auch die verbotenen Gedanken auf. Wäre es nicht für alle Beteiligten besser, wenn es schnell zu Ende wäre? Und das nicht nur, weil die Hilf- und Hoffnungslosigkeit dann vorbei wäre, die einem täglich aufs Neue die Energie entzieht? Im Auto, als wir dem Notarztwagen hinterherfuhren, ein erstes Zwiegespräch: „Lieber Gott, bitte entscheide Du!“. Am zweiten oder dritten Tag stehe ich an dem Bett, in dem die Mutter wie eine total erschöpfte, unbewegliche, tonlose Person liegt: „Wenn du lieber zu deinem Fränzchen willst, dann kannst du gehen. Du wirst uns sehr fehlen, aber wir halten dich nicht gegen deinen Willen hier fest.“
Dann wieder Hoffnung. Sieht so aus, als wolle sie doch bleiben, sich ins Leben zurückkämpfen. Einige Tage später die nächste Hiobsbotschaft. Wie viele denn noch? Und schon sind die verbotenen Gedanken wieder da.

Epilog
Mittlerweile ist Dezember, kurz vor Weihnachten.Nur noch wenige Tage, bis die Mutter nach fünf Monaten aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wenn ich die Zeilen aus dem vergangenen Sommer lese, kommen mir die Empfindungen von damals, die Sorgen und Nöte so weit weg vor. Denn meine Mutter hat sich tatsächlich ins Leben zurückgekämpft, kann sogar wieder in ihr Zuhause zurück. Mit jedem Schritt, den sie in den vergangenen Monaten voran gekommen ist, fiel die Anspannung ab. Jetzt ist nur noch Hoffnung auf ein wieder (fast) normales Leben!
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo ankepee, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von ENachtigall

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