Internet-Kaschemme

Marcus Soike

Mitglied
Die Kneipe war ein Hotspot inmitten der Funkstille von Schrebergartensiedlung, die in Trabantenstadt ausläuft; Brombeersträucher, Kläranlage, Grafittiwände, ein kanalisierter Bach, auf dem der Schaum ab- stand, vollendeten das Bild.
Ein Zug dröhnte durch die Trostlosigkeit. Kurz war die Fernsehverbindung weg. Die Kneipen-Community machte das Beste daraus: Dornkaat wurde bestellt, Zigaretten gedreht, eine Bierblähung ins Zwerchfell geblasen, aufs Smartphone geglotzt.
Die Strumpfband-Bertha hustete einen Rotz ins Bierglas. Die Dislikes daraufhin brachten ihr eine Menge Follower. Durch sie wurde diese Internet-Kaschemme, dieser Internet-Bums, zu einem regelrechten Internet-Café.
Erwin nun, einer ihrer Follower (seine Glubschaugen folgten dem filligranen Faltenwurf ihrer Fettwülste) war hoch geladen, disliked von der Community, problembeladen, psychisch heruntergefahren, ein Suffkrüppel, eine Barfliege, die im Netz klebt…
So saßen sie an der Theke, jeder von ihnen ein Terminal.
„Phhhh!“, sagte Erwin.
„Ja nun, ne?“, postete die Strumpfband-Bertha.
„Nhhhh!“, verfiel Erwin in Hate Speech.
„Tja!“, cybermobbte die Strumpfband-Bertha.
„Prost!“, postete jemand.
In einer dunklen Ecke stand ein Dartautomat – quasi ein Terminal zum Mattscheiben bestarren. Die blinkende Dattelkiste sollte die Pennerkneipe für Skinheads attraktiv machen. White Pride trifft ins Schwarze. Der Automat macht den Countdown zum Amoklauf. Eine Zielscheibe, an der sich auch Schwarz-Weiss-Fotos festpinnen ließen.
Der Skinhead rülpste ungedämpft.
-Feinripp-Unterhemd, Cordhose.
-Hosenträger, die der Strumpfband-Bertha gefielen.
-Knobelbecher in Stinkstiefel-Optik, mit Stahlkappen.
-Auf der Suche nach einem Großvater, der mindestens zwei Weltkriege mitgemacht haben musste.
Allgemeine Missbilligung, Dislike, Dissen, Riss des Geduldsfadens (netzweit) angesichts dieser Dissozialität, is hier doch keine Disse für Skins.
Erwin fuhr auf Bertha ab, likete sie, nahm sie in seine Favoritenliste auf, klar abgegrenzt von seiner Abschussliste. Er fuhr auf sie ab, trotz mancher Abfuhr, die ihn manchmal runterfuhr, er mit seinem Problemdowngeloade.
In der trüben Internet-Kaschemme verloren sich die Chats in Selbstgespräche oder Selbstgechatte oder ähnliches. Sie alle laberten gegen Firewalls. Hangover, Gameover, Overkill der Shitstorm-Blower. Die fortschreitende digitale Suffdemenz killte die Bits und Bytes. Die fortschreitende analoge Computer-Verblödung killte die Gehirnzellen… Es war leicht, denn diese waren längst nicht mehr vernetzt.
-Ein schwachsinniger Süffel (er hat seine Qualitäten, aber nur analog) wird zum hippen Intel-Outsider. Er hat eine Idee: .come.at.org.asmus.you.porn
-Zwei trollige Weibchen betreten die Kneipe. Ein Pop up- Fenster tut sich auf: Zwei Bitches bieten sich zum Poppen an. Oder sind es nur Fake-Schlampen? Lieber das Window minimieren und später bei der Strumpfband-Bertha fensterln.
-Die Strumpfband-Bertha wird zur Breitband-Bertha, zur Wireless-Strumpf-Bertha.

Der Fisch stinkt vom Kopf her, wird gesagt. Man denke an einen stinkstiefeligen Kopf in den Wolken – die Cloud. Über dem Kneipen-Sumpf hing ein Fischernetz an der Decke. Es war nikotinverklebt und in einer Kruste aus Staub, hochgewirbeltem Kneipendreck, Spinnweben und verwickelten Kokons verschlossen. Wohl nur deswegen wahrte es seinen Zusammenhang als Netz. Höhenluft. Atmosphärisches Rauschen. Azurblau. Spannung-Entladung. Nordlicht.
Profaner: Verdichtetes Kneipen-Gestank-Gemisch. Blähungsgeplatz, dass die Decke zittert. Blauer Dunst. Hochgerubbel-Abgewichse. Schmierige Neonröhre, die Motten, Mücken und Schmeißfliegen anbalzt.
So manche Schmeißfliege war hier oben im Netz klebengeblieben… weiter unten waren die Schmeißfliegen an der Theke klebengeblieben. Die Verbindung war gut…
Wieder waberte geistiger Dünnschiss in die Cloud: Ein eloquenter Süffel faselte was von rechtem Darknet, einem „Cloud-Ku-Klux-Heim“ und „Seitenscheitel in den Wolken“ und dies und das.
Eine Ebene weiter oben, in einem Putzriss unterhalb der Decke, schufen Kondenswassertropfen, Nikotinschmiere und das seichteste Kneipengebabbel, das bodenlos war und sich eben darum unter der Decke befand, einen Nährboden für Schimmelpilz. Dieser wuchs und wucherte allmählich aus dem Riss. Er könnte mal wie ein Damoklesschwert fallen und ein Hefeweizen vergiften.

Erwin bestellte sich noch ein Hefeweizen. Der eloquente Süffel neben ihm, wir nennen ihn Manni, fabulierte gerade über eine Tropfsteinhöhle, in der sich – in Form von Stalagmiten und Stalagtiten – Aufsteiger und Absteiger ihren Glibber entgegenrotzten. In der Mitte treffe man sich: im Durchschnittssumpf.
Erwin, der beschäftigt wirken wollte, googlete „Einsamkeit“. Bei Youtube wurde er fündig. Ein Filmchen zeigte die Strumpfband-Bertha beim Kippen eines Wodkas. Oder spielte sich das analog ab? Es spielte keine Rolle mehr. Im Filmchen. Erwin googlete „Skinhead“ – ein Wikipedia-Eintrag wurde angeboten, mit Querverweis auf die Strumpfband-Bertha. Von Bertha ging ein Querverweis zu „Deutschlands schönste Tropfsteinhöhlen.
Erwin schmiss eine Runde: Jeder an der Theke bekam ein Hefeweizen (oder einen Pilz). Sie alle hier waren in einer analogen Videokonferenz und in einer digitalen Stinkwolke. Sie waren leere Hüllen in einer 3-D-Fratzensammlung. Man hatte ihnen analog und digital den Strom abgeschaltet. Sie waren analog und digital vom Netz genommen. Sie waren in der digitalen Mülltonne und in der analogen Kneipe gelandet.
Für Erwin verschwamm alles. Die Strumpfband-Bertha wurde zur Netzstrumpf-Bertha. Sie lächelte. Ihre schlechten Zähne, oben und unten, umspielte der Sabber. Die Kneipe – eine Tropfsteinhöhle. Wie aber den Gestank digitalisieren? Erwins instabile Suff-Laune wandelte sich zu Ekel. Die Strumpfband-Bertha spiegelte das: teigiges, wurmzerfressenes Fleisch, bäh, Suffvisage, Tränensäcke, Augen wie halbfeuchter Vogelschiss, feuchte und wunde Hautwülste… Das Leben. Wie es digitalisierte gehörte. Erwin griff zum Smartphone. Er musste nur erst von der Selfie- zur Frontkamera wechseln.
 



 
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