Introvertiert

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rubber sole

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Auf dem langen Fußmarsch von der schleswig-holsteinischen Nordseeküste in die Überflutungsauen an der mittleren Elbe hatte ich ausreichend Gelegenheit zur Selbstreflexion. Meine Erkenntnis dieser Rückbesinnung: Ich befand mich auf der Flucht. Dies lag aus meiner Sichtweise betrachtet auf der Hand, war jedoch objektiv gesehen nicht unbedingt sofort zu verstehen. Aus einer flachen, menschenleeren Ebene mit unendlichem Horizont zog es mich in eine ähnliche strukturierte Gegend mit begrenztem Horizont. Dort am Ziel erwartete mich eine Umgebung mit geringfügig mehr Bäumen, Buschreihen oder Dörfern, die die Himmelslinie in diesem Landstrich unterbrechen – soviel zum Unterschied. Und hier wollte ich Balsam für meine Seele finden.

In der weiten Einöde der Küste hatte ich einige Jahre nach einem Zusammenbruch verbracht, in einer seinerzeit als geeignet erscheinenden Umgebung für meine Rekonvaleszenz - ich sehnte mich damals nach Einsamkeit. Und das alles vor dem Hintergrund, ein stark introvertierter Mensch zu sein, der nur wenige, streng selektierte Sozialkontakte pflegt. Einer dieser Kontakte war in eine Ehe gemündet, die im weiteren Verlauf in ein erfolgreiches Unternehmen geführt hatte. Meine Ehefrau und ich gründeten eine Agentur für mentales Coaching: Sie performte nach außen, ich entwarf und steuerte als Spiritus rector aus dem Hintergrund die Konzepte, mit all meiner Befähigung zur Kontemplation - bis ich nicht mehr konnte. Das Geschäft mit dem verkorksten Gemütsleben anderer Menschen überforderte mich, ich schwächelte, stürzte in eine Krise und verließ mein Umfeld ohne nähere Erklärung. Eine Neurose, sogar Autismus wurde mir daraufhin nachgesagt. Es folgte die Zeit an der fast menschenleeren Nordseeküste, bis meine Psychotherapeutin eine Änderung empfahl, welche ihrer Meinung nach die ultimative Lösung meiner Probleme werden könnte: Das Leben in einem Schweigekloster. Die für den Anfang in solch einer Umgebung angebotenen drei Tage des Schweigens erschienen mir jedoch zu kurz, und so suchte und fand ich eine klösterliche Einrichtung, geeignet für einen längeren Aufenthalt.

Nun, nach der letzten Elbquerung in der Altmark, sah ich das Ziel meines Marsches: Ein mächtiges Backsteinkloster, das weithin sichtbar aus den Niederungen der Jerichower Auen aufragt. Im öffentlichen Bereich werden hier normale klösterliche Belange wahrgenommen, aber ich konnte dort meine spezielles Vorstellungen in einer separierten Einrichtung umsetzen. Dazu legte ich ein Schweigegelübde ab. Es tat mir unendlich gut, wochenlang gar nicht zu reden. So fand ich bald zu meiner ursprünglichen Fähigkeit zur Tiefenentspannung zurück. Daraus entsprang letztlich der Wunsch nach permanenter Askese, ich trat als festes Mitglied in die Klostergemeinschaft ein. Und schon hatte ich ein Problem, ich beherrschte nichts beruflich Relevantes, rein gar nichts hier Verwertbares. Dennoch, ich durfte bleiben, als Mitarbeiter des großen Gartenbaubetriebs. Durch mein fehlendes Geschick für Hege und Pflege von Nutzpflanzen fand ich in der Unkrautvernichtung meine Erfüllung. Auf diesem Gebiet war ich richtig gut. Besonders bei der Beseitigung der lästigen und hartnäckigen Gierschpflanze leistete ich Bemerkenswertes. Man sah mich tagtäglich viele Stunden in kniender Haltung den Boden aufbrechen und die feinen Verwurzelungen daraus akribisch entfernen; ich hatte der Nacktschnecke unter den Kräutern den Kampf angesagt. Unzählige, hoch aufgeworfene Hügel und Wälle mit von mir durchwühlter Muttererde bestimmten bald das Bild der klösterlichen Gartenlandschaft; eindrucksvoll belegt auf einer Animation bei Google Earth.

Im Nahkampf gegen dieses extrem widerstandsfähige Wildkraut hielt ich mich streng an biologisch korrekte Beseitigungsmaßnahmen; der Einsatz von Herbiziden war ein absolutes Tabu. Alternative Methoden, wie angeblich gierschophobe Beipflanzungen, zeigten keinerlei Effekt. Ebenso wenig führte das Abdecken der von mir freigelegten Erdflächen zu einem dauerhaften Erfolg, den ich mir so sehr wünschte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mehrmals jährlich die unaufhaltsam nachwachsenden Rhizomgeflechte der Gierschpflanzen wieder und wieder auszubuddeln, dabei Quadratdezimeter um Quadratdezimeter Erde umzugraben – eine brutal eintönige Tätigkeit. Daraus entwickelte ich im Laufe der Jahre eine äußerst effektive Methode der Meditation. Im Kreise meiner Ordensbrüder wurde ich auf diese Art derjenige mit der höchstentwickelten Fähigkeit zur inneren Einkehr.

 

Ubertas

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Hallo @rubber sole,
das gefällt mir sehr. Die eigene Gesinnung und Bestimmung läßt sich weder einpflanzen noch ausreißen. Ein zutiefst das Nachdenken anregender Text, der Oberflächlichkeit verbannt.
Ein Diamant. Egal aus welchem Blickwinkel man deine Worte betrachtet - sie haben Sinn.
Lieben Gruß, ubertas.
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Ubertas,
herzlichen Dank für deinen zustimmenden Kommentar und die Bewertung. Es freut mich sehr, dass mein Text für dich einen Sinn ergibt. In der Tat, das 'Umpflanzen' von eingewachsener Gesinnung und Bestimmung ist ein schwieriges Unterfangen.
Gruß von rubber sole
 

rubber sole

Mitglied
Hallo Bo-ehd,
danke dir für die Wertung und deine Einschätzung meiner 'Schreibe'. Es ist wohl so, dass der zeitweilig von mir benutzte Telegramstil nicht von jedem gemocht wird - ich bin immer wieder mal gerne auf diese Art unterwegs, allein schon, um genügend Fahrt für brauchbare Texte in ganzen Sätzen aufzunehmen.
Gruß von rubber sole
 

wiesner

Mitglied
Auch halbe Sätze sind Sätze!

Sehr schön erzählt, gut geschrieben, in sich schlüssig und strukturiert.
Danke, rubber sole, ich habe Deine short story sehr gerne gelesen!

Gruß
Béla
 



 
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