Irene

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Akiiiii

Mitglied
Irene las mit angefeuchtetem Finger einzelne Toastkrümel von der Wachstuchtischdecke in den Mund. Ihr Kaffeebecher stand kalt und leer neben dem Frühstücksbrett. Ein Tropfen war an ihm heruntergelaufen und festgetrocknet. Sie nahm den bedruckten Becher hoch, feuchtete den Daumen an und rieb Karl den Kaffeefleck aus dem lachenden Gesicht. Dann strich sie noch einmal extra über das Bild welches sie und ihn beim Urlaub in Griechenland zeigte, bevor sie die Tasse zurück auf den Tisch stellte.
Mutter wäre er ein Graus gewesen, dieser bedruckte Becher. Mutter waren eine Menge Sachen ein Graus gewesen. Selbst als sie vergessen hatte, wie man die Toilette benutzte oder sich die Zähne putzte, hatte sie es noch fertig gebracht sich über Irenes Kinkerlitzchen, ihre Steh-Rümmchen, ihre Erinnerungsstücke aufzuregen.
Im Hause von Mutter Mayerhofer war stets alles makellos aufgeräumt gewesen. Das Besteck passte zu den Tellern, die Teller zur Terrine, die Terrine zu den Vorhängen und jedes Anzeichen von Leben musste sofort und gründlich beseitigt werden. So hatte Mutter zuerst Vaters Spuren und letztlich auch Vater selbst aus ihrer beider Leben getilgt.
Fortan waren es nur Mutter und sie gewesen und es hatte Jahre voll Vorschriften, Zwänge, Demütigungen und Erniedrigungen gebraucht, bis Irene sich hatte von ihr befreien können. Ihre ersten eigenen Möbel hatte sie - mit 53 Jahren - liebevoll vom Sperrmüll gerettet, auf dem Flohmarkt zusammengesucht, geschenkt bekommen. Jedes Ding, jeder Teller, jeder Tasse - alles hatte eine Geschichte; manche bekannt, manche erdacht. Sie hatte sich befreit, Mutter aus ihrem Leben geschnitten wie die faulige Stelle in einem rosigen Apfel.
Doch dann kam der Tag an dem die Haushälterin bei ihr anrief. Mutter hätte das Haus beinahe in Brand gesteckt. Man könne gewisse Tatsachen nicht mehr leugnen. Man müsse etwas TUN. Und die alten Programmierungen waren angesprungen. Sie hatte getan, was man tut und Mutter war zu ihr gezogen. In ihren Rückzugsort, ihre Höhle, ihr Heim. Der Schimmel, der Moder - er kam zurück. Schimpftiraden, Wutanfälle, Vorwürfe. Irrational. Zu jeder Tageszeit. Unvorhersehbar. Sie spürte wie es an ihr nagte, an ihr fraß. Und doch war da immer die Hoffnung - die schreckliche, wunderbare Hoffnung, dass sie Mutter eines Morgens kalt und steif vorfinden und ihr Leben zurückbekommen würde. Das was davon noch übrig war - solange noch etwas übrig war.
Und dann hatte sie Karl getroffen. In der Bäckerei.
Sie wusste, dass er ihre letzte Chance auf Glück sein würde, ihre letzte Chance auf ein Leben. So war der Entschluss gereift. Still. Leise. Und die Hoffnung hatte Krallen bekommen.
Sie hatte gelesen wie Frischhaltefolie gesunde Säuglinge in Opfer von plötzlichem Kindstod verwandelte. Still. Leise. Unauffällig. So leise und still war es dann nicht gewesen und sie hatte einige Nächte mit schlimmen Träumen verbracht. Aber niemand hatte Fragen gestellt. Niemand hatte Mutter untersucht. So lächerlich einfach war es am Ende gewesen, dass sie sich beim Absenken des Sarges zusammennehmen musste, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

Eine Windbö stieß das Küchenfenster einen Spalt weiter auf und blies warme Frühlingsluft in den Raum. Vogelgesang und der ferne Lärm der Straße drangen herein und rissen Irene aus ihren Gedanken. Sie sah zu Karl hinüber, der wie jeden Morgen die Tageszeitung studierte. Sein Kaffee stand noch unberührt und kalt auf dem Tisch, die Semmel war nur halb gegessen. Erdbeermarmelade. Damit war er seit kurzem immer pingeliger geworden. Es musste Erdbeere sein. Nicht Aprikose, kein Pflaumenmus. Nur Erdbeermarmelade. Doch mit Appetit aß er trotzdem selten. Seine Hosen begannen an den Oberschenkeln locker zu sitzen, er schnallte den Gürtel schon länger ein Loch enger. Sie hatte es bemerkt. Draußen rasselte der Müllwagen vorbei. Es war Mittwoch. Sie sah wiederstrebend hinüber auf den oberen Rand seiner Zeitung. Dienstag, der 15. März.
„Karl?“ Er ließ die Zeitung sinken und sah sie an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht als sähe er sie heute morgen zum ersten Mal. „Lass uns nachher etwas spazieren gehen. Es ist so ein schöner Tag.“ Mit diesen Worten stand sie auf und räumte beide Kaffeebecher in die Spüle. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah noch lange hinaus.
 
Hi,
ein interessanter Ansatz. Sprachlich-stilistisch habe ich nichts zu meckern, aber es fehlt mir etwas an dieser Geschichte. Die schreckliche Mama wurde gemeuchelt, alles gut - das ist doch ein bisschen wenig.
Oder habe ich etwas übersehen?

Vielleicht, dass die schreckliche Mutter in Irene oder Karl wieder auftaucht, ihre Eigenschaften in der Geschichte fortleben?
Solch eine - zugegebenerweise naheliegende - Pointe oder auch nur klare Hinweise auf eine solche Entwicklung fehlen mir.

Gut, ist klar, irgend etwas passiert mit ihrem Kerl, dem Karl. Ist er krank? Er wird pingelig - ist er doch auf dem Weg, sie zu nerven, wie damals die Mutter vom Vater genervt war? Ist es das? Oder ist gerade die Erwartung, es könnte so sein, es könnte so werden, das schleichende Gift, das diese Geschichte dann doch recht gekonnt versprüht?

Gern gelesen!
Binsenbrecher
 

Akiiiii

Mitglied
Hey hey Binsenbrecher,

vielen Dank für das aufmerksame Lesen und die Kritik! Weiß ich sehr zu schätzen!
Anscheinend geht die Pointe der Geschichte verloren. Karl hat Altzheimer. Es war also ein kurzes Glück für das sie getötet hat.
Vielleicht war es das wert. Vielleicht nicht. Was wird sie tun? Das weiter zu spinnen bleibt dem Leser überlassen...

hätte man vielleicht noch deutlicher machen sollen?!
Better luck next time. :D
 

anbas

Mitglied
Moin,

gut geschrieben, wie ich finde.

Allerdings kommt tatsächlich nicht so rüber, dass Karl Alzheimer hat. Hier solltest Du, wie ich finde, noch etwas nachbessern.

Liebe Grüße

Andreas
 

Flex

Mitglied
Hallo Akiiiii,
irgendwie hat mich die Geschichte nicht losgelassen, habe sie jetzt mehrmals gelesen ;)

Zuerst: Ich habe mir schon gedacht, dass Karl Alzheimer haben könnte, hatte aber auch einen Fall in der Familie... Vielleicht für nicht betroffene noch ein, zwei Hinweise, falls dir die Krankheit wesentlich erscheint.

Ansonsten: Ich finde die Geschichte toll, würde allerdings 2 daraus machen. 1-ste Mutter mit Mord; 2-te mit Karl

Mutter: Würde die "Zwangsstörung" die sie hatte auf Irene übertragen, bspw. nach dem Mord, wie sie alles sauber und geordnet "hinterlässt" Denke da kann man auch daraus schließen, dass sie den Geist der Mutter nicht los wird.

Karl: Ggf. wie oben geschrieben noch ein, zwei kleine Hinweise, allerdings nicht offensichtliche, wobei für mich wäre das nicht notwendig, der letzte Absatz ist schon eine Geschichte für sich.

Also für mich sind das 2 tolle Geschichten ;)

lg
 

Akiiiii

Mitglied
@Flex :

Hey Flex,

danke für die Anregungen! Mir geht es eigentlich um den Konflikt. Auf der einen Seite ein Problem aus dem Weg geschafft und jetzt dasselbe nochmal. Oder doch anders? Kann sie für Karl leisten, was sie bei ihrer Mutter nicht konnte? Ihn begleiten ohne dem Drang sich von dieser schrecklichen Last zu befreien nachzugeben? Sein Zustand ist letztendlich die Strafe dafür was sie ihrer Mutter angetan hat. Ich denke deshalb ist es wichtig Karls Zustand noch besser rauszustellen. Der Grad ist da sehr schmal wie es aussieht.
Mit dem Holzhammer will man da auch nicht arbeiten.

Übung macht den Meister. :)
 

Akiiiii

Mitglied
Hier mal ein leicht verändertes Ende. Könnte vielleicht reichen?

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Eine Windbö stieß das Küchenfenster einen Spalt weiter auf und blies warme Frühlingsluft in den Raum. Vogelgesang und der ferne Lärm der Straße drangen herein und rissen Irene aus ihren Gedanken. Sie sah zu Karl hinüber, der wie jeden Morgen die Tageszeitung studierte. Sein Kaffee stand noch unberührt und kalt auf dem Tisch, die Semmel war nur halb gegessen. Erdbeermarmelade. Damit war er seit kurzem immer pingeliger geworden. Es musste Erdbeere sein. Nicht Aprikose, kein Pflaumenmus. Nur Erdbeermarmelade. Doch mit Appetit aß er trotzdem selten. Seine Hosen begannen an den Oberschenkeln locker zu sitzen, er schnallte den Gürtel schon länger ein Loch enger. Sie hatte es bemerkt. Draußen rasselte der Müllwagen vorbei wie jeden Mittwoch. Sie sah hinüber auf den oberen Rand seiner Zeitung. Sonntag, der 15. März.
„Karl?“ Er ließ die Zeitung sinken und sah sie an. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht als sähe er sie heute morgen zum ersten Mal. „Lass uns nachher etwas spazieren gehen. Es ist so ein schöner Tag.“ sagte sie. Mit diesen Worten stand sie auf und räumte beide Kaffeebecher in die Spüle. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah noch lange hinaus.
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