Irgendwas kann jeder

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rubber sole

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Lasst den Jungen in Ruhe. Das kann er nicht, er hat doch zwei linke Hände.“ Diese Sätze meiner Mutter begleiteten mich während meiner Kindheit und Jugend. Für Außenstehende klingt dies möglicherweise despektierlich, sie wurden jedoch stets zu meinem Besten und zu meinem Schutz von ihr ausgesprochen. Und das hatte Folgen, überwiegend angenehmer Art, wie ich meine. So blieb ich fast die gesamte Zeit meines Heranwachsens vor handwerklichen Hilfstätigkeiten in Haus und Garten verschont. Und meine Mutter wusste, wovon sie sprach. Mehrmals hatte sie, oft zu ihrer Belustigung, mit einem kaum zu unterdrückenden Lachen, erleben dürfen, wie ich beim Versuch, einfache handwerkliche Tätigkeiten zu verrichten, scheiterte. Diese Situationen gehörten in die Kategorie Slapstick, manche erinnerten stark an einen Sketch von Loriot, in dem dieser beim Versuch, ein Bild geradezurücken, die komplette Einrichtung zerlegt.

Eine weitere Folge: Für meinen Vater kam ich als ursprünglich vorgesehener Nachfolger in seinem Orthopädieunternehmen nicht in Frage. Eine Katastrophe für einen als 'Prothesenpapst' geschätzten Fachmann. Er war einer der handwerklich Begabten, bei denen Handwerk und Kunst verschmolzen. Für mich war er zeitlebens das Beispiel, wie Kreativität durch perfektes Zusammenfügen von einzelnen Teilen aussehen kann – ich selbst lebte fernab von solchen Fähigkeiten.

Das mit meinen zwei linken Händen sah mein Vater allerdings anders als meine Mutter. Als er mir eines Tages bei einem meiner seltenen Versuche zusah, ein Bauteil zusammenzusetzen, ein Ikea-Regal vom Typ Billy, normalerweise einer der am einfachsten zu errichtenden Stücke dieser mir ansonsten verhassten Möbelfirma, rief er nur aus: „Der Junge hat nicht zwei linke, der hat zwei rechte Hände.“ Unverständnis ringsum, aber die Erklärung folgte prompt. Die Begründung, statt eine, meine linke Hand zum Stützen, und die rechte zum Schrauben, Stecken oder Drehen zu verwenden, sah beides bei mir aus, wie unkoordiniert mit rechts verrichtet, so seine fachmännische Draufsicht auf meine händischen Fähigkeiten. Dann kam der Zeitpunkt, an dem ich mich für eine Berufsausbildung entscheiden musste. Hier war mein Opa Friedrich mit einer seiner vielen Lebensweisheiten richtungsweisend: „Irgendwas kann jeder.“ Toll. So wurde ich zur Berufsausbildung zu meinem Onkel geschickt, der im Rheingau einen Weinbaubetrieb besaß. Bei der Ausbildung zum Weinküfer kommt es nicht so sehr darauf an, nach exakten Plänen zu schrauben, drehen oder zu stecken. Eine gute sensorische Fähigkeit ist hier von Vorteil, und eine solche besaß ich - mir wurde ein absolutes Geschmacks- und Riechvermögen bescheinigt. Mit dieser seltenen Gabe ausgestattet, wurde ich einige Jahre später Weinsommelier, dessen Expertise hoch geschätzt wurde. Als ich mich auf dem Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn befand, traf mich ein harter Schicksalsschlag, der fast zum Tode geführt hätte. Ich erlitt einen anaphylaktischen Schock aufgrund einer erworbenen, vorher nicht abzusehenden Allergie gegen Tanin- und Histaminverbindungen, einfacher ausgedrückt, mit fermentierten Lebens- oder Genussmitteln durfte ich intrinsisch nicht in Verbindung geraten.

Organisch wieder genesen, nahm ich zur endgültigen Wiederherstellung an einer Reha-Maßnahme teil und hatte hierbei das Glück, auf eine weitsichtige Ergotherapeutin zu treffen. Diese stellte fest, dass ich zwar voller Kreativität steckte, die sich jedoch nicht auf konstruktive Verrichtungen bezieht. Das in solchen Therapieeinrichtungen beliebte Basteln oder Töpfern half mir aus diesem Grunde nicht weiter. Als ich eines Tages vor lauter Langweile mit einem Messer an einem Stück aus Lindenholz herumschnippelte, war sie verblüfft. Es waren ansehnliche Teile, die ich da zustande brachte. Die Erklärung hierfür war einfach. Ich hatte zwar nicht die Begabung, konstruktiv etwas aufzubauen oder zusammenzusetzen, jedoch das Talent, durch Reduzierung des Materials attraktive Formen zu kreieren, immer nach dem Motto: Was stört, muss weg.
 

rubber sole

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Hallo Ubertas,
dein oben stehender Beitrag ist vermutlich ein Irrläufer und nicht für meine Geschichte gedacht.
Gruß von rubber sole
 

Ubertas

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Hallo @rubber sole,
Das Lob gilt dir! Allerdings kann ich mir meine geistige Umnachtung, dir eine neue Identität zu verschaffen, nur damit erklären, dass ich zuvor ein Werk von klaatu ansah und was dann geschah?!?
Ich weiß es nicht.. nur eines, dass ich gerade herzlich über mich selber lachen muss!
Das bedeutet für die Zukunft: entweder lege ich mir eine Brille zu oder tippe nicht mehr nachts um halb eins im Energiesparmodus. Ich bitte um Verzeihung.
Ich finde deinen Text hervorragend! Er ist unangreifbar großartig, ganz im Gegensatz zu meinem wirren Hirn.
Lieben Gruß, ubertas.
 

rubber sole

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Hallo Ubertas,
mach dir deswegen keine Sorgen, Verwechselungen kommen nun mal vor. Über sich selber lachen zu können, und vorsorglich über das Tragen einer Brille nachzudenken, das hört sich schon mal gut an, und mir als Adressaten ist ja nichts Unangenehmes geschehen - eher das Gegenteil ist der Fall. Herzlichen Dank für deine überaus wohlwollende Einschätzung der Geschichte.
Gruß von rubber sole
 

Ubertas

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Hallo @rubber sole,
das, was mir besonders gut gefällt, ist, wie du deine Geschichte abschließt: was stört, muss weg.
Dieses "Motto", seine Doppeldeutigkeit ist die Quintessenz für mich. Das ganze von außen Auferlegte und seine Wirkung: irgendwas kann jeder. Die Abwertung, die sich dahinter verbirgt mit allen Konsequenzen. Der lange Weg, der auch das eine oder andere Augenzwinkern parat hält. Bis zur weitsichtigen Ergotherapeutin, auch sie ist indoktriniert. Danach folgt die eigene Erkenntnis und was stört, muss weg wiederholt und spielt mit dem Opfer/Täter-Bezug. Das ist wohl durchdacht, großartig umgesetzt und nachfühlbar.
Lieben Gruß, ubertas.
 

rubber sole

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Hallo Ubertas,
ja, der Schlusssatz sollte genau so verstanden werden. Wenn das Motto 'Was stört, muss weg', die Prämisse für einen allgemeingültigen Denkansatz wäre, stellt sich die Frage, wie weit sollte Bewunderung für kreative Leistungen gehen dürfen?
Gruß von rubber sole
 

Ubertas

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Hallo @rubber sole,
ich denke, der Boden, auf dem Kreativität gedeiht, entscheidet über den Grad der Bewunderung, die ihr zu Teil wird. Sowohl Limitation als auch eine selbst zusammengetöpferte Übersteigerung "erschöpfen" sie. Ihr Nutzen und ihre Leistung werden in beiden Fällen zu einem Kartenhaus
Lieben Gruß, ubertas.
 



 
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