Irgendwie verwegen

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joergheeb

Mitglied
„Kannst du bitte mal deinen Kopf stillhalten und geradeaus schauen? So wird das nix hier!“

„Klar, es ist nur …“

„Was ist nur?“

„Na ja, wenn ich geradeaus schaue, dann schaue ich direkt auf deine … deinen …“

Dass ich in der Nacht vom 17. auf den 18. November 1989 hier vor ihr sitze und –vorausgesetzt, ich tue, was sie von mir verlangt – gar nicht anders kann, als auf ihre Brüste zu starren, liegt daran, dass ich vor etwas mehr als einer Stunde im Dunkel des Eingangsbereichs meines Arbeitsortes Nase voran gegen eine Glastür geprallt bin – eine Glastür, die entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit im Augenblick, als ich sie passierte, nicht offenstand.

„Kannst ja die Augen schließen, wenn es dir unangenehm ist, auf meine … meinen … zu schauen“, meint sie und lächelt spöttisch – ein leicht asymmetrisches Lächeln ist es, bei dem sie ihren linken Mundwinkel etwas weiter nach oben zieht als den rechten.

„Das tut jetzt höllisch weh, aber nur kurz. Nachher tut nur noch verdammt weh, so für drei, vier Stunden.“

„Ist das nicht eine Apotheke hier?“

„Ist es; warum meinst du?“

„Wie wär's dann mit einem Schmerzmittel?“

„Tut mir leid; die, die wirken, darf ich dir nur auf ärztliche Verordnung hin geben.“ Wieder lächelt sie ihr schiefes Lächeln, dem sie diesmal, bilde ich mir zumindest ein, eine Prise Mitgefühl beigibt.

„Kein Problem, ich halte Schmerzen aus, bin Boxer“, entgegne ich großspurig. „Hauptsache, der Zinken sitzt, wenn Du fertig bist, wieder einigermaßen gerade.“

„Da kann ich nichts versprechen. Wenn das Nasenbein mehrfach gebrochen ist, sieht's damit nicht gut aus. Ob es mehrfach gebrochen ist, wissen wir beide aber erst, nachdem ich versucht hab, es zu richten. Willst du nicht vielleicht doch lieber in die Notaufnahme?“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das „nicht vielleicht doch lieber will“, sage aber: „Auf keinen Fall, ich seh doch, wie du dich darauf freust, mir wehzutun, und nichts läge mir ferner, als dich dieser Freude zu berauben!“

Kein schiefes Lächeln diesmal; sie prustet los, fasst sich aber rasch wieder; und während ich noch dabei bin, meine Genugtuung darüber, sie zum Lachen gebracht zu haben, auszukosten, umfasst sie mit Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen ihrer rechten Hand meine Nase. Und da sind sie auch schon, die verheißenen Höllenqualen.

„So. Sieht eigentlich ganz passabel aus. Das kann allerdings auch täuschen, weil ja erst noch die Schwellung abklingen muss. Jedenfalls wirkst Du mit dem Ding ziemlich verwegen, was irgendwie sexy ist.“

„Vielen Dank! Was schulde ich dir?“

„Ist schon gut. Die Freude darüber, dir so richtig schön wehgetan zu haben, ist mir Lohn genug.“

„Tja“, höre ich mich sagen, und dann, nicht weniger eloquent: „Äh …“

„Ob du mich wenigstens mal auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen einladen darfst, möchtest du wissen? Nö, darfst du nicht, da würde ja ich DIR einen Gefallen tun.“

„Das wollte ich gar nicht, ehrlich! Na ja, eigentlich schon, aber ich verstehe das natürlich ... ich könnte ja ein …“

Das bringt ja jetzt auch nicht mehr viel, denke ich und stehe auf. Sie reicht mir meine Jacke, geht zur Tür, öffnet sie und lächelt ein letztes Mal ihr asymmetrisches Lächeln.

„Ich will eine Pizza, dazu mindestens zwei Gläser Barolo und anschließend ein Tiramisu und einen Grappa; und zwar nicht irgendwo, sondern im ‚Azzurro'. Morgen Abend, 19.00 Uhr, holst du mich hier ab.“
 



 
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