Irre werden

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen
Ist es tatsächlich so? Ich lebe also wieder in dem alten Haus in Winterhude, in das ich heute Nacht sehr spät heimkehre? Habe ich es denn jemals verlassen in diesen, in jenen Jahrzehnten? Wieder steige ich die Außentreppe hinauf und öffne die Haustür mit einem der Schlüssel im Bund. Es wird, wie das meiste im Leben, halb automatisch geschehen sein – oder ist die Tür gar nicht verschlossen gewesen? Dann habe ich noch die breite steinerne Innentreppe vor mir und stehe im Hochparterre vor der Wohnungstür rechts. Es fällt mir nicht ein, ich könnte jemals drei Treppen höher gewohnt haben. Schnell soll es jetzt gehen, aber ich weiß bald, ich kann nicht hineingelangen. Der fehlgeschlagene Versuch muss ebenso halb unbewusst erfolgt sein – verwundert betrachte ich meine Schlüssel, gehe einen nach dem anderen durch. Es erscheint mir jetzt aussichtslos, auch nur einen von ihnen ins Schloss einstecken zu können. Was tun?

Auf einmal steht ein Paar mittleren Alters neben mir und müht sich seinerseits an der Nachbarwohnung mit Schlüsseln ab, die nicht passen. Ich habe die beiden noch nie gesehen. Die Frau sagt: Wir sind zu Besuch hier bei unserer Tochter. - Ihr Mann ergänzt: Sie ist gerade auf Mauritius. - Die Frau sagt: Gestern gab es noch keine Probleme. Was machen wir jetzt, Eberhard? - Und der Mann befindet: Erst mal zu Tantchen fahren … Sie gehen schon die Treppe hinab.

Mir fällt nun auf, dass die Abschlusstür rechts zweiflüglig und komplett weißlackiert ist. Meine Tür, wie ich sie kenne, ist einflüglig und hat in der oberen Hälfte eine dicke, schraffierte Glasscheibe. Keiner hat Durchblick, nur die Treppenhausbeleuchtung dringt durch und ihr Anspringen wie Verlöschen stört mich oft, eine der Unbequemlichkeiten der Wohnung; ich nehme es wie so vieles hin. Ich würde es auch jetzt tun, sehe nur ein, dass ich im Haus vorerst nicht weiterkomme und verlasse es wie die beiden vorhin, doch ohne ein bestimmtes Ziel.

Ich gehe meine Straße ein Stück hinunter. Aus dem Schlüsselladen an der Ecke dringt Licht. Ist er noch oder schon wieder geöffnet? Ich betrete ihn und finde weder einen Menschen darin noch Schlüssel. Der Kram deutet auf Altwaren hin: leere Dosen, Papierstöße, Fotoalben mit abgegriffenen Einbänden. Aus dem Hinterzimmer kommt einer, den ich noch gut kenne: Frieder. Er redet gleich drauflos: Klar, Carola war damals enttäuscht. Schneit um diese Nachtzeit hier herein und wundert sich, wenn einer dann nicht mehr so frisch aussieht wie tagsüber. - Obwohl es mich nicht interessiert, frage ich: Ist sie trotzdem geblieben, den Rest der Nacht? Frieder antwortet nicht. Er steckt irgendwo zwischen seinen Altwaren.

Dann sitze ich auf einem Schemel, den ich höher und niedriger stellen kann. Als ich eine befriedigende Position eingenommen habe, fingere ich meine Brieftasche heraus. Ich will den Personalausweis untersuchen. Da ist die amtlich beglaubigte Anschrift - stimmt die Hausnummer? Es scheint so, ich werde mich doch nicht in der Adresse geirrt haben? Auf einmal fahre ich zusammen: Das Dokument in meinen Händen ist auf keinen Namen ausgestellt. Ich könnte statt der kleinen Plastikkarte einen beliebig bedruckten Wisch, herausgerissen aus uralter Akte und ohne jeden Bezug zu meiner Person, vor mir haben. Ja, wahrscheinlich ist es gerade so … Wie komme ich nun aus dieser Lage, aus diesem Ablauf heraus? Man müsste sich zuvor über vieles wieder vergewissern ...

Ich weiß einfach nicht weiter.
 
Zuletzt bearbeitet:

Matula

Mitglied
Hallo Arno Abendschön !
Der Traum scheint zu sagen: auch wenn man auf einem Schemel inmitten von Altwaren sitzt, gibt es kein heim in die Kindheit. Das kann recht traurig sein. Schön erzählt.

Herzliche Grüße,
Matula
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Arno,
der Text und seine Bilder gefallen mir sehr. Ich habe auch gleich an einen Traum vermutet und finde, dass du das Wesen von Träumen gut eingefangen hast. Alle Dinge sind dem Träumer vertraut, aber gleichzeitig verändert. Alle Erlebnisse sind verkettet, aber die Verkettung ergibt keinen Sinn.

Wenn ich den Text als Traum lese, sticht für mich nur der letzte Satz etwas raus.
Ich weiß einfach nicht weiter.
Wie ist er gemeint?

Viele Grüße
lietzensee
 
Dank an Matula und lietzensee für die freundlichen Reaktionen. Ja, richtig, der Ablauf und die Details sollen für ein Traumerleben sprechen. Tatsächlich folgt der Text im Wesentlichen einem Traum von mir aus jüngster Zeit. Nur beim vierten Absatz habe ich aus bewusster Erinnerung ergänzt, da hier der Trauminhalt nach dem Erwachen undeutlich war.

Stichwort "Kindheit". Einen solchen Bezug hat mein Traum zwar nicht, doch ein Leser kann sich natürlich an Strukturen eigener Träume erinnern und darauf beziehen.

Zum letzten Satz. Er drückt diejenige Frustration des Träumers aus, die durch weitere Traumarbeit nicht mehr bewältigt werden kann. Folge; Man wacht mitten im Traum auf und kann sich ungewöhnlich gut an ihn erinnern.

Was ich mich frage: Ob sich Demenz nicht ähnlich äußern kann wie solche Träume?

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

Rachel

Mitglied
Hallo Arno, ich vermute, ein dementer oder dement werdender Mensch entschlüsselt keine Träume mehr, er verliert die alte Wirklichkeit und das stell ich mir um einiges verzweifelter vor. Kein neugieriges Erforschen mehr dabei.

Das Surreale dagegen geht mit einer klaren, fast ordentlichen und genauen Sprache, wie bei dir, einher, wird sogar oft im Unheimlichen seltsam heimelig empfunden, vielleicht sogar vergnüglich. Beim Schreiben bestimmt.

Nach dem Lesen hatte ich kurz den Eindruck, wir sind Natur, die macht Sprünge, das nennen wir Mutation, es geht voran ... wer will sich immer auskennen?


Zum leichteren Einstieg würde ich das Fragezeichen früher setzen:

"So? So lebe ich wieder in dem alten Haus in Winterhude, in das ich heute Nacht sehr spät heimkehre?"

Und gegen Ende: "... aus diesem Ablauf heraus?"

LG
 
Danke, Rachel, für die gut brauchbare Textarbeit. Der Fehler am Schluss wird gleich korrigiert. Dass das Fragezeichen am Anfang in seiner Stellung das Verständnis erschwert, stimmt. Ich werde auch das ändern. Was das Bewusstsein von Dementen angeht, wenn sie die Orientierung verlieren, bin ich mir nach wie vor unsicher. Wohl ist da vom Patienten im Anschluss keine solche Kurzprosa zu erwarten, doch könnte ich mir vorstellen, dass sie sich beim Verfehlen von Haus, Wohnung oder Schlüsselloch objektiv (von außen betrachtet) in einer ähnlich misslichen Lage befinden. Nur insoweit halte ich die Parallelität von Traum und Demenz für denkbar.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten