Ist Hypochondrie sehr ansteckend?  

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XBLiebig

Mitglied
Ist Hypochondrie sehr ansteckend?

[ 4]Der jüngst einberufene Kongreß zum Thema „Hypochondrie: wie kann man sich vor Ansteckung schützen?” hat die Beantwortung der ernstesten Frage dieses Jahrhunderts weiterhin offen gelassen. Aufgrund plötzlicher schwerer Erkrankung sämtlicher gemeldeter Teilnehmer mußte das Symposium auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Alle schrieben mit zittriger Schrift an den ebenfalls erkrankten Veranstalter, daß wohl so bald nicht mehr mit ihnen gerechnet werden könne. Mein Freund Jürgen, beispielsweise, war neulich auch wieder einmal äußerst angeschlagen vor der längeren Autofahrt. Ich fand zwar, daß er aussah wie immer, aber er bestand auf glasigen Augen und einem bleichen Gesicht, was auch auf die Bierchen zurückgeführt werden könnte, die wir am Abend zuvor gemeinsam gekippt hatten. Jürgen mußte in seinem Zustand dennoch fahren, denn wie soll man sich schließlich sonst von seinem Siechtum ablenken? So bestand der größte Teil der Fahrt eher im Blick in den Rückspiegel, den er auf sich gerichtet hatte. Bin ich schon tot? Werden meine Mandeln jeden Moment immer roter und geschwollener? Ersticke ich gleich, und wie kann ich mir das ansehen? Wir sind doch angekommen, und Jürgen konnte sich mit Schnäpsen desinfizieren.
[ 4]Detlefs Wohnung ist vollgestopft mit Medikamenten, die er unbedingt ständig braucht. Zum Überleben. Vor allem die Berge an Beruhigungspillen und Vitaminpräparaten, die man als Sachbearbeiter in der mittleren Beamtenlaufbahn beim Staat so braucht. „Wissen Sie, der Streß!“ Böse Zungen behaupten, er würde eines Tages an einem Druckfehler im Beipackzettel sterben. Thorsten hat schon das vierte Fieberthermometer zurückgebracht. Auch dieses müsse kaputt sein, es zeige nämlich sein hohes Fieber nicht an.
[ 4]Karl hat sämtliche Kurzruftasten an seinem Telefon mit den Ärztlichen Notdiensten, Apotheken, Krankenhäusern, Kliniken, Rettungshubschraubern und Beerdigungsinstituten in seiner unmittelbaren Nähe programmiert. Ihm kann nicht mehr viel passieren.
[ 4]Apropos Beipackzettel, mit ihrem unerschöpflichen Quell bislang unbekannten Siechtums: Georg gehört zu den bemitleidenswerten Kreaturen, die immer sämtliche Symptome haben, die dort aufgeführt werden. Urplötzlich. Und dann braucht er auch dringend das Präparat. Sein Schicksal ist, daß ausgerechnet bei ihm alle Risiken und Nebenwirkungen auftreten, die das Papier als seltene Möglichkeit andeutet. Sieht der arme Georg beispielsweise auch nur einen Bericht über Schweinepest, schon hat er sie. Neulich verfolgte er einen Bericht im Fernsehen zum Thema ‚Gehirn‘. Seitdem ist er überzeugt, daß auch er eins haben könnte. Peters Pickel sind eindeutig bösartige Abszesse, Karls Parodontose erste Anzeichen von Lepra, Theos eingewachsener Zehennagel selbstverständlich Fußzehengrippe, Karls einsetzende Weitsichtigkeit beginnender ‚Morbus Stevie Wonder‘ und Friedhelms Haarausfall erstes sichtbares Ergebnis der Atomtests. „Beginnt nicht Aids mit diesem leichten Hüsteln?“ fragt sich Norbert. Hart sind sie schon, die tragischen Leidensgeschichten meiner Freunde und Bekannten. Die Magengeschichten von Onkel Karl, die Sehnenscheidengeschichten von Vetter Friedhelm und die schreckliche Migräne von Eberhard nach einer durchzechten Nacht.
[ 4]Und die Frauen? Sie leiden auch, doch stiller und vehementer. Quantitativ liegen wir eindeutig vorn, was aber nicht heißt, daß Katharinas schrecklicher Ischias und Tines Schulterleiden auf die leichte Schulter zu nehmen wäre. Aber im Gegensatz zu uns begeben sie sich augenblicklich in den eigenen Heilungsprozeß. Da wird sofort nach einem uralten Rezept aus der vorletzten „Frau am Herd“ Pflanzensaft zu Salbe in der heimischen Küche verarbeitet, während der Sportschau abgekocht und in handliche 5Liter-Eimer abgefüllt. Dann haben wir für alle guten Freunde auch gleich schon ein Geschenk. Sämtliche Rezepte dieser und vergangener Jahrhunderte werden ausprobiert. „Aus dem Klosterbüchlein von Schwester Hildegard”, „Schwarze Magie für Anfänger”, „Caligaris Kabinett der Fettnäpfchen”... nichts bleibt unversucht. Wenn sich erst eine Frau einer Aufgabe verschrieben hat, dann Gnade Gott ihrem Mann! Die Männer weisen sofort jedes Anerbieten derartiger Heilmittel von sich, da sie in ihrem fortgeschrittenen Zustand leider nicht mehr helfen würden. Unisono schwören sie, daß es am besten wäre sozusagen als letzte Mahlzeit Bier, Schnaps ,Wein, Chips, Pommes Frites sowie möglichst viele Zigaretten zu sich zu nehmen. Das (so die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft) helfe eindeutig gegen Cholesterin, Schrumpfleber und Prostata.
[ 4]Schon mal versucht, dem Leidensweg unserer maladen Freunde zu entkommen? Vergiß es! Nehmen wir beispielsweise einmal Manfred, dessen Abwehrkräfte immer schwächer werden. Täglich liest er uns aus den Unter­suchungs­berichten seiner wechselnden Hausärzte, Internisten, HNO-Ärzte, Urologen, Allergologen, Astrologen, Zahnärzte, Heilpraktiker und Geistheiler vor. Wenn wir mal nicht zu Hause sind, finden wir garantiert die neuesten Daten auf unserem Anrufbeantworter vor, natürlich mit beleidigtem Unterton. Denn wie können wir uns auswärts vergnügen, wenn er jeden Moment... Ist er bei uns zu Besuch, wissen wir, wie der Abend ablaufen wird. Eine einzige falsche Frage, und wir haben Gesprächstoff für den ganzen Abend. Im Zweifelsfalle aber liefert er das Stichwort selbst. Die eindeutige, Gänsehaut erzeugende Frage lautet: „Habe ich euch eigentlich schon erzählt, was mir der Arzt heute erzählt hat?” Sage „nein“, und er wird dir seinen Leidensweg seit seiner Geburt erzählen. Sage „ja“, und das Ergebnis wird das selbe sein. Unser Schicksal ist sein Schicksal. Widersprechen möchte man natürlich auch nicht. Bei Manfreds schwerer Krankheit muß man vorsichtig sein.
[ 4]Es ist schon komisch, wenn sich plötzlich der Freundeskreis verkleinert. Jaja, Krankheit macht einsam. Erst hören die sogenannten Freunde einem noch stundenlang zu, und dann ziehen sie sich zurück. Und so bleibt am Ende der kleine Kreis der Schwerinvaliden, der sich über das Unverständnis der Ärzte von heute Geschichten erzählt.
[ 4]Dabei wissen die alle gar nicht, was Krankheit wirklich bedeutet. Zum Glück sind wir schon am Ende, ja, am Ende! Gerade fühle ich wieder dieses rätselhafte Ziehen im Bauch, deren Ursache mir die Ärzte einfach verschweigen. Bis zum nächsten Mal. Oder besser: Adieu!
 
K

KaGeb

Gast
Hi XBLiebig,

herzlich willkommen hier - im grünen Dschungel mit den verschlungenen und geheimnisvollen Pfaden hin zur persönlichen Leuterung. Hier stößt du auf die Stars der Manege und auch auf Begegnungen der dritten Art ;)
"Bild" dir deine Meinung (lach)

Deinen "Einstand" finde ich gut, hab ich gern gelesen. Teilweise sehr tiefgründig beobachtet und satirisch betrachtet. Klar könnte man ein bisschen "mäkeln", z.B. über das "bewußt", was sich ja neuerdings als "bewusst" geoutet hat - aber es gibt wichtigeres im Leben (ChampionsLeague, Formel 1, Germanys next Topmodel) (lach)

Nein, gern gelesen^^

Amüsierte Grüße, KaGeb
 
H

Heidrun D.

Gast
Der Text gefällt mir ebenso wie dein aberwitziger Nick :D.
An der Rechtschreibung und Interpunktion müsstest du noch feilen oder feilen lassen;); alles andere ist sehr nett.

Wer kennt sie nicht, diese meist männlichen (!) Leidenden, die Wartezimmer und trautes Heim schmücken? - Ich selber weiß um einen Arzt, der mich stets - kurz nach Eintritt ins Sprechzimmer - mit seinen vielfältigen Krankheitssymptomen beschwatzte.
Im Gegenzug war er dafür beim Austeilen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen recht großzügig ...

Amüsierte Grüße
Heidrun
 
Hallo XBLiebig,

lange habe ich mich nicht so köstlich amüsiert. Meine Lachmuskeln sind voll auf ihre Kosten gekommen. :D
Du hast alles derart genau beschrieben, wie wir es wohl alle immer wieder miterleben. Hoffentlich nicht als Betroffenene. :) Echt super!

Lieben Gruß,
Estrella
 

Herbstblatt

Mitglied
Oh Mann, mir ist auch schon ganz schlecht....

Lieber XBLiebig -toller Nick übrigens - hier ist dir ja ein richtig guter Wurf gelungen. Man ist gleich mit am Leiden.
Ich würde auch nix ändern, es ist okay so.

Freu mich schon auf weitere >böse< Stücke von dir ;)

LG Herbstblatt
 

Josi

Mitglied
Fußzehengrippe, ich wusste doch, dass es so etwas geben muss! Meinen Zahnarzt muss ich auf meine beginnende Lepra aufmerksam machen.
Ich habe so gelacht!
Toller Text!

Liebe Grüße
von Josi
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Na, das ist ja mal eine richtig gelungene Satire, die in jedem Wartezimmer hängen sollte. Ähem. Ich muss jetzt schnell die Fieberthermometer suchen. ;-)
LG Doc (ich find bei mir auch jeden Tag was Neues ;-))
 

Hagen

Mitglied
Hallo XBLiebig,

Mit diesem Text ist Dir ein ganz großer Wurf gelungen. Endlich mal eine wirkliche Bereicherung der Leselupe.
Chapeau!
Ich begreife langsam, warum im Wartezimmer meines Arztes ein Schild mit folgender Aufschrift hängt:
“Ich bitte meine verehrten Patienten während der Wartezeit keine Symptome auszutauschen.“
No Comment!

Weiterhin fällt mir noch ein weiterer Text ein, der allerdings nicht von mir ist. Möge mir der Verfasser oder die Verfasserin verzeihen, dass ich ihn an dieser Stelle zitiere:

 “Herr, erhalte mich liebenswert.

Herr, Du weißt es besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter werde.

Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und
zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.

Erlöse mich von dem Verlangen,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.

Lehre mich, nachdenklich - aber nicht grüblerisch,
hilfreich - aber nicht diktatorisch zu sein.

Bei meiner Ansammlung an Lebenserfahrung tut es mir leid,
diese Weisheiten nicht weiterzugeben, aber Du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Lehre mich über meine Krankheiten und Beschwerden zu schweigen.
Sie nehmen zu, und die Lust sie zu beschreiben wächst von Jahr zu Jahr.
Lehre mich, sie aus eigener Kraft zu bewältigen oder mit ihnen zu leben.

Ich wage nicht, Dich um die Gabe zu bitten, mir
Krankengeschichten anderer mit Freude anzuhören; -
aber lehre mich, sie geduldig und ohne Häme zu ertragen.

Ich wage auch nicht, um ein besseres Gedächtnis zu bitten; -
nur um etwas mehr Bescheidenheit und etwas weniger Bestimmtheit, wenn mein Gedächtnis nicht mit dem anderer übereinstimmt.
Ich möchte nur das, was ich angefangen habe, zuende führen; -
leider habe ich viel angefangen und beginne immer wieder etwas Neues.

Bitte gib mir die Zeit, auch dieses zuende zu führen; - so Du es als sinnvoll erachtest.

Lehre mich die wunderbare Weisheit zu erkennen, dass auch ich mich irren kann.

Erhalte mich so liebenswert wie möglich, denn ich weiß,
dass ich nicht unbedingt ein Heiliger bin; - denn ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.

Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir die wundervolle Gabe sie auch zu erwähnen. <“


Ich bitte Dich inständig, auf diese Art weiterzumachen!

Viele liebe Grüße
Yours Hagen

__________
nichts endet wie geplant!
 
U

USch

Gast
Hallo XBLiebig,
auf der Suche nach einer wirklich guten Satire, hier in diesem Forum, hab ich mich bis hier hinten ind Jahr 2010 mal durchgearbeitet. Die ist dir wirklich gut gelungen - auch mit der manchmal x-beliebigen Rechtschreibung :)
Lg USch
 



 
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