Jahreszeiten

Erhardt Altmann wartete immer auf den Frühling. Seit Jahren. Selbst im beginnenden Frühsommer schon wieder. Und im Herbst kurz vor dem Winter erst recht mit kaum zu ertragender Sehnsucht.
Nun gehörte er mit seinen siebzig Lebensjahren bereits selbst zu den Herbstlichen.
Sein einst jugendlich volles, (und wie seine Mutter zu ihren Lebzeiten behauptete) ebenholzschwarzes Haar hat, soweit es überhaupt noch mit dünnen grauen Strähnen die helle Kopfhaut bedeckte, wenigstens an den noch vollhaarigen Schläfen jenen silbergrauen Glanz, auf den angeblich junge Frauen besonders fliegen.
An ihm allerdings flogen jüngere weibliche Wesen so gut wie immer vorbei, obwohl er durchaus die Nähe langhaariger junger Schönheiten suchte.
Doch was nützte es, Nähe zu suchen, wenn das Finden nicht gelingen wollte?
Über Jahre hatte er überlegt, sein dünnes Haar schwarz zu färben. Selbst an die Anschaffung einer Perücke hatte er gedacht.
Aber dunkle Haare auf seiner ansonsten rosa-blassen altersfleckigen Kopfhaut sahen ähnlich albern aus, wie grell blonde strähnige Haare auf dem Kopf eines dunkelhäutigen Äquatorial-Afrikaners.
Und eine schwarze Perücke zu seinem breiten hellhäutigen Gesicht wirkte auf einem Kopf wie eine zu klein geratene Mütze.
Somit konnten ihm weder seine Frisörin noch eine Perückenmacherin, von der es sogar eine in der entfernteren Verwandschaft gab, dabei behilflich sein, den Frühling, den er so herbeisehnte, an sich herzustellen.

Doch Erhardt war keiner, der schnell aufgab. Wenn es ihm schon nicht äußerlich gelang, frühherbstlich auszusehen, wollte er sich wenigstens einen möglichst frischen Geist erhalten.
Mit Ausdauer trieb er sich daher vor Realschulen und Gymnasien herum, studierte eingehend das Verhalten pubertierender Schüler und begann, nachdem er die Abscheu allmählich aufgeben konnte, schließlich ihr Gekicher, ihre Sprache und ihre schmutzigen Witze zu lieben. Schließlich konnte er sich kaum satt sehen an ihren ungelenken Bewegungen und ihren zumeist hilflosen Versuchen, äußerlich an Schönheit, Gleichmaß und Konturen zu gewinnen.
Irgendwann empfand er sich als einer der ihren, zumal er bald seinen Beobachtungsposten am Schulzaun aufgab, sich den Jugendlichen näherte und von ihnen in Gespräche verwickeln ließ.
Manches Mal bekam er von ihnen sogar Komplimente zu hören. „Eh, Alter cool. Hast echt krasse Ansichten. Könntest mein Opa sein. Wäre vollkommen o.k. Keine Ahnung, bist echt geil für dein Alter. Wie alt biste eigentlich? Über siebzig. Hätte ich jetzt echt nicht gedacht. Wenn ich mal siebzig bin, wäre ich noch gern wie du.“
Nach weit über einem Jahr intensiver Studien traute er sich als Zweiundsiebzigjähriger – neu eingekleidet in hippe Klamotten - wieder unter seine greiseren Altersgenossen.
Albert Wirtz, sein bester und inzwischen einziger Freund, den er von Schultagen an kannte, taxierte ihn von oben bis unten und von unten bis oben. „Mensch, Erhardt, hast du das nötig. Reicht doch, innerlich jung zu bleiben. Albern siehst du aus. Albern, wie ein spätpubertierender Greis.“
„Wenn ich Dir peinlich bin, musst du dich ja nicht mit mir sehen lassen, mein lieber Albert.“
Der nickte, legte ihm den Arm um die Schulter und murmelte: „Alte Freundschaft endet nicht wegen ein paar Verrücktheiten. Wir haben ja alle unsere Macken.“
Erhardt Altmann dachte auch gar nicht daran, seine späte mühsam erworbene Pubertät aufzugeben. Im Gegenteil. Er begann sich zu überlegen, wie er mit seinem Gehabe jene Eltern nerven könnte, die sich erfolglos abmühten, ihren halbstarken Gören beizubringen, was sie für Vernunft hielten.
Ehrhardt kaufte sich Knallkörper, warf sie in kleinbürgerlich gepflegte Vorgärten, furzte laut und geruchsbelästigend in vollen Straßenbahnen und suchte immer wieder die Vorhalle des Hauptbahnhofs auf, um dort herumzuschreien und dem Echo seiner Schimpftiraden hinterherzuhören.
Natürlich erregte er damit auch die Aufmerksamkeit der Bahnpolizei, die ihm nach mehrmaligen Ermahnungen schließlich Hausverbot erteilte, das für ihn selbstverständlich eine hohe Auszeichnung bedeutete.
Natürlich missachtete er das Verbot, ließ es auf die Androhung eines drastischen Bußgeldes ankommen, grinste den Beamten an, zuckte mit den Schultern und erwiderte, es tue ihm sehr Leid, aber er habe gerade nicht genügend Bargeld dabei. Der Uniformierte, klopfte ihm auf die Schulter. „Mensch Opa, was willste eigentlich mit Deiner Brüllerei erreichen?“
„Nichts eigentlich! Jedenfalls nichts Vernünftiges!“
„Ja, aber die Leute hier halten dich doch sowieso längst für einen verrückten Alten!“
Erhardt lachte. „Will ja auch kein alter Mann ohne Nebenwirkungen sein. Normalos kann ich nicht ausstehen.“
„Aber wir von der Polizei sind nun mal die Hüter der Normen!“ Der Polizist hakte sich bei ihm unter und schob ihn vorsichtig in Richtung Ausgang.
Erhardt sah sich um und schrie die Menge in der Bahnhofsvorhhalle an „Ihr könnt mich nicht verhindern. Ich komme immer wieder!“
„Komme wieder!“ hallte das Echo.
An den Polizisten gewandt raunte er: „Auch als netter Bulle erreichst du bei mir nichts!“
Noch einmal packte der Beamte ihn ernergisch am Arm, führte ihn auf den Bahnhofsvorplatz und ließ ihn am Taxistand stehen.
Sofort kam ein Taxifahrer und hielt ihm die Tür seines Wagens auf.
Erhardt winkte ab. „Wenn überhaupt, höchstens Krankentransport. Bin aber gesünder als du, mein Lieber.“
 



 
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