Jaime und Susana

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Retep

Mitglied
Aus meinem Tagebuch

Jaime und Susana

Eigentlich hatte ich die Welt mit Hilfe der Arbeiterklasse verändern wollen, merkte aber, dass mit der Arbeiterklasse nichts zu machen war, dass sie allein noch nie etwas verändert hatte, nie etwas verändern würde, sich nie ändern würde, immer manipuliert worden war.
So versuchte ich denn in diesem Elendsviertel das Los Einzelner zu verbessern. Hier gab es gar keine Arbeiterklasse, höchstens eine Klasse der Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeiter.
In jenen Zeiten, das ist schon länger her, war es nicht schwierig, Geld aus dem Ausland zu erhalten.
Besonders leicht war es, wenn Einzelnen geholfen werden sollte. Europäer, besonders Deutsche, waren bereit und willig zu helfen, wenn man nur an ihr Mitleid appellierte. Für großartige Ideen, es gab kaum welche, war es schwierig, Hilfe zu bekommen.

Für einen neuen Bootsmotor war Geld gekommen. Der Fischer hatte aber schon einen, woher auch immer, wahrscheinlich hatte er ihn irgendwo gestohlen. Er war auch danach gleich mit seinem Boot und Motor verschwunden.
Er arbeite jetzt irgendwo im Süden, erzählte seine Frau allen. Es ging aber das Gerücht herum, dass er mit einem Mädchen unterwegs war und dass er wahrscheinlich nie wieder zurückkommen würde.

Für die Operation des Blinden war also Geld da.

Jaime war als Kind irgendwie erblindet. Einige sagten, er sei krank gewesen, andere, er habe zu viel onaniert.
Es hieß immer, man könne ihn operieren, wenn nur ausreichend Geld da wäre.
Er fand sich gut zurecht, seine Hütte war klein, alles musste immer am gleichen Ort stehen. Das war nicht schwer, stand da doch fast nichts in der Hütte.
Er fiel auch im Ort nicht besonders auf, höchstens seine große Sonnenbrille. Er saß wie die anderen Männer herum, trank mit ihnen, wenn Geld da war, Bier oder Wein.
Manchmal zu viel.
Wenn er ein Klavier hätte, wäre er sicherlich ein berühmter Pianist, sagte er immer wieder. Meistens, wenn er zu viel getrunken hatte.
Er hatte von einem berühmten blinden Pianisten gehört.
Gute Freunde von ihm hatten einmal versucht, ein Klavier für ihn zu erwerben. Sie waren irgendwo eingebrochen, hatten einen Flügel aus einem Haus geholt. Die Hausbesitzer waren gerade irgendwo in Europa. Der Transport bereitete größere Schwierigkeiten. Es gelang ihnen, einen Lastwagen zu besorgen.
Der Flügel passte aber dann nicht durch die Tür von Jaimes Hütte. Als sie die vordere Hauswand einreißen wollten, war Jaimes Frau Susana dagegen, das Piano habe auch in der Hütte keinen Platz, sagte sie.
Er stand dann längere Zeit bei Regen und Sonnenschein auf der Straße herum, Kinder sprangen auf ihm herum.
Eines Tages nach viel Wein versuchte Jaime ein Konzert unter freiem Himmel zu geben. Als er merkte, dass das nicht funktionierte, meinte er, man könne nur unter Dächern spielen.
Alle berühmten Leute hätten stets unter einem Dach ihre Konzerte gegeben.
Irgendwann wurde aus dem Flügel dann Feuerholz gemacht. Mit dem Draht der Saiten konnte man Dächer fester anbinden und Wäsche aufhängen.

Fast alle Frauen arbeiteten irgendwo.
Susana machte bei reichen Leute die Häuser sauber. Sie fand immer leicht eine Stelle, jede Hausfrau stellte sie sofort ein, war sie doch keine Gefahr für deren Ehemann.
Susana hatte einen schönen Körper, war überall gepolstert, wo es sein sollte, hatte gute Beine, lange schwarze Haare, war nicht zu groß und nicht zu klein.
Im Bett brauchte man ihr kein Kissen unter den Hintern zu legen, wie man es hier ausdrückte. Und eine Stimme hatte sie, weich und verführerisch.
Aber ihr Gesicht war kaum zu beschreiben, sah es doch aus wie Frankensteins Gesicht nach mehreren missglückten Operationen.
Jaime störte das wenig. Sie liebten sich beide sehr, gingen zärtlich miteinander um.

Ich fuhr in die Hauptstadt, sprach mit verschiedenen Ärzten. Jaime wurde untersucht. Ja, man könne ihn operieren, wahrscheinlich könne er dann normal sehen.

Susana brachte ihn ins Krankenhaus, sie war begeistert, Jaime auch.
Ein neues Leben würde für sie beginnen, vielleicht würde Jaime sogar Konzertpianist. Sie würden dann zusammen bis ans Ende aller Tage in einem schönen Haus wohnen, mit einem großen Garten, vielleicht auch mit Schwimmbad.
Susana hatte solche Häuser bei ihrer Arbeit kennen gelernt.

Drei Tage nach der Operation ging ich ins Krankenhaus.
Jaime lag strahlend im Bett. Er konnte jetzt sehen.
Er müsse mir etwas sagen, erklärte Jaime.
Nein, er brauche sich nicht großartig zu bedanken,
das sei unnötig, meinte ich,
Es gehe um etwas anderes, sagte Jaime:
„Don Pedro,ich habe mich von Susanne getrennt!"
 
S

suzah

Gast
hallo retep,
gern gelesen, die geschichte ist gut geschrieben und absolut nachvollziehbar,
ausgenommen der erste absatz über die arbeiterklasse, der mir so nicht ganz gefällt.

"Jaime störte das wenig." kann wohl entfallen, man weiß ja, er ist blind und sieht es nicht.

3 tage nach der OP, kommt mir etwas kurz vor, aber ich bin kein augenarzt und kann es nicht beurteilen.

kleiner fehler: am schluß schreibst du "susanne" statt susana.

liebe grüße suzah
 

Retep

Mitglied
Aus meinem Tagebuch

Jaime und Susana

In jenen Zeiten, das ist schon länger her, war es nicht schwierig, Geld aus dem Ausland zu erhalten.
Besonders leicht war es, wenn Einzelnen geholfen werden sollte. Europäer, besonders Deutsche, waren bereit und willig zu helfen, wenn man nur an ihr Mitleid appellierte. Für großartige Ideen, es gab kaum welche, war es schwierig, Hilfe zu bekommen.

Für einen neuen Bootsmotor war Geld gekommen. Der Fischer hatte aber schon einen, woher auch immer, wahrscheinlich hatte er ihn irgendwo gestohlen. Er war auch danach gleich mit seinem Boot und Motor verschwunden.
Er arbeite jetzt irgendwo im Süden, erzählte seine Frau allen. Es ging aber das Gerücht herum, dass er mit einem Mädchen unterwegs war und dass er wahrscheinlich nie wieder zurückkommen würde.

Für die Operation des Blinden war also Geld da.

Jaime war als Kind irgendwie erblindet. Einige sagten, er sei krank gewesen, andere, er habe zu viel onaniert.
Es hieß immer, man könne ihn operieren, wenn nur ausreichend Geld da wäre.
Er fand sich gut zurecht, seine Hütte war klein, alles musste immer am gleichen Ort stehen. Das war nicht schwer, stand da doch fast nichts in der Hütte.
Er fiel auch im Ort nicht besonders auf, höchstens seine große Sonnenbrille. Er saß wie die anderen Männer herum, trank mit ihnen, wenn Geld da war, Bier oder Wein.
Manchmal zu viel.
Wenn er ein Klavier hätte, wäre er sicherlich ein berühmter Pianist, sagte er immer wieder. Meistens, wenn er zu viel getrunken hatte.
Er hatte von einem berühmten blinden Pianisten gehört.
Gute Freunde von ihm hatten einmal versucht, ein Klavier für ihn zu erwerben. Sie waren irgendwo eingebrochen, hatten einen Flügel aus einem Haus geholt. Die Hausbesitzer waren gerade irgendwo in Europa. Der Transport bereitete größere Schwierigkeiten. Es gelang ihnen, einen Lastwagen zu besorgen.
Der Flügel passte aber dann nicht durch die Tür von Jaimes Hütte. Als sie die vordere Hauswand einreißen wollten, war Jaimes Frau Susana dagegen, das Piano habe auch in der Hütte keinen Platz, sagte sie.
Er stand dann längere Zeit bei Regen und Sonnenschein auf der Straße herum, Kinder sprangen auf ihm herum.
Eines Tages nach viel Wein versuchte Jaime ein Konzert unter freiem Himmel zu geben. Als er merkte, dass das nicht funktionierte, meinte er, man könne nur unter Dächern spielen.
Alle berühmten Leute hätten stets unter einem Dach ihre Konzerte gegeben.
Irgendwann wurde aus dem Flügel dann Feuerholz gemacht. Mit dem Draht der Saiten konnte man Dächer fester anbinden und Wäsche aufhängen.

Fast alle Frauen arbeiteten irgendwo.
Susana machte bei reichen Leute die Häuser sauber. Sie fand immer leicht eine Stelle, jede Hausfrau stellte sie sofort ein, war sie doch keine Gefahr für deren Ehemann.
Susana hatte einen schönen Körper, war überall gepolstert, wo es sein sollte, hatte gute Beine, lange schwarze Haare, war nicht zu groß und nicht zu klein.
Im Bett brauchte man ihr kein Kissen unter den Hintern zu legen, wie man es hier ausdrückte. Und eine Stimme hatte sie, weich und verführerisch.
Aber ihr Gesicht war kaum zu beschreiben, sah es doch aus wie Frankensteins Gesicht nach mehreren missglückten Operationen.
Die Eheleute liebten sich sehr, gingen zärtlich miteinander um.

Ich fuhr in die Hauptstadt, sprach mit verschiedenen Ärzten. Jaime wurde untersucht. Ja, man könne ihn operieren, wahrscheinlich könne er dann normal sehen.

Susana brachte ihn ins Krankenhaus, sie war begeistert, Jaime auch.
Ein neues Leben würde für sie beginnen, vielleicht würde Jaime sogar Konzertpianist. Sie würden dann zusammen bis ans Ende aller Tage in einem schönen Haus wohnen, mit einem großen Garten, vielleicht auch mit Schwimmbad.
Susana hatte solche Häuser bei ihrer Arbeit kennen gelernt.

Eine Woche nach der Operation ging ich ins Krankenhaus.
Jaime lag strahlend im Bett. Er konnte jetzt sehen.
Er müsse mir etwas sagen, erklärte Jaime.
Nein, er brauche sich nicht großartig zu bedanken,
das sei unnötig, meinte ich.
Es gehe um etwas anderes, sagte Jaime:
„Don Pedro,ich habe mich von Susana getrennt!"
 
S

suzah

Gast
hallo retep,
wenn ich das jetzt nochmals lese (besser so), dann denke ich, der text wäre vielleicht sogar als kurzgeschichte gut. nur natürlich müsstest du dann erst mit dem bootsmotor anfangen.
andererseits lässt "aus meinem tagebuch" auf weitere geschichten dieser art hoffen. bin gespannt.

lg suzah
 

Retep

Mitglied
Hallo suzah,

nochmals vielen Dank für deinen konstruktiven Kommentar. Die Einleitung (Arbeiterklasse) hatte ich schon vorher in meinem Entwurf gestrichen.
In meinem Tagebuch gibt es noch viele derartige Geschichten, 10 Jahre lang habe ich südamerikanische Impressionen notiert.
Aber wen interessiert das schon?


Gruß

Retep
 
hallo retep

die geschichte gefällt mir gut.

tip:

Es ging aber das Gerücht [strike]her[/strike]um,
E[blue]s[/blue] stand dann längere Zeit bei Regen und Sonnenschein auf der Straße [strike]herum[/strike], Kinder sprangen auf ihm herum.
Als er merkte, dass [strike]das nicht funktionierte[/strike] seine Musik keine Musik war, meinte er, man könne [blue]eben[/blue] nur unter Dächern spielen.
liebe grüße
gernot
 

Retep

Mitglied
Aus meinem Tagebuch

Jaime und Susana

In jenen Zeiten, das ist schon länger her, war es nicht schwierig, Geld aus dem Ausland zu erhalten.
Besonders leicht war es, wenn Einzelnen geholfen werden sollte. Europäer, besonders Deutsche, waren bereit und willig zu helfen, wenn man nur an ihr Mitleid appellierte. Für großartige Ideen, es gab kaum welche, war es schwierig, Hilfe zu bekommen.

Für einen neuen Bootsmotor war Geld gekommen. Der Fischer hatte aber schon einen, woher auch immer, wahrscheinlich hatte er ihn irgendwo gestohlen. Er war auch danach gleich mit seinem Boot und Motor verschwunden.
Er arbeite jetzt irgendwo im Süden, erzählte seine Frau allen. Es ging aber das Gerücht um, dass er mit einem Mädchen unterwegs war und dass er wahrscheinlich nie wieder zurückkommen würde.

Für die Operation des Blinden war also Geld da.

Jaime war als Kind irgendwie erblindet. Einige sagten, er sei krank gewesen, andere, er habe zu viel onaniert.
Es hieß immer, man könne ihn operieren, wenn nur ausreichend Geld da wäre.
Er fand sich gut zurecht, seine Hütte war klein, alles musste immer am gleichen Ort stehen. Das war nicht schwer, stand da doch fast nichts in der Hütte.
Er fiel auch im Ort nicht besonders auf, höchstens seine große Sonnenbrille. Er saß wie die anderen Männer herum, trank mit ihnen, wenn Geld da war, Bier oder Wein.
Manchmal zu viel.
Wenn er ein Klavier hätte, wäre er sicherlich ein berühmter Pianist, sagte er immer wieder. Meistens, wenn er zu viel getrunken hatte.
Er hatte von einem berühmten blinden Pianisten gehört.
Gute Freunde von ihm hatten einmal versucht, ein Klavier für ihn zu erwerben. Sie waren irgendwo eingebrochen, hatten einen Flügel aus einem Haus geholt. Die Hausbesitzer waren gerade irgendwo in Europa. Der Transport bereitete größere Schwierigkeiten. Es gelang ihnen, einen Lastwagen zu besorgen.
Der Flügel passte aber dann nicht durch die Tür von Jaimes Hütte. Als sie die vordere Hauswand einreißen wollten, war Jaimes Frau Susana dagegen, das Piano habe auch in der Hütte keinen Platz, sagte sie.
Es stand dann längere Zeit bei Regen und Sonnenschein auf der Straße, Kinder sprangen auf ihm herum.
Eines Tages nach viel Wein versuchte Jaime ein Konzert unter freiem Himmel zu geben. Als er merkte, dass seine Musik keine Musik war, meinte er, man könne eben nur unter Dächern spielen.
Alle berühmten Leute hätten stets unter einem Dach ihre Konzerte gegeben.
Irgendwann wurde aus dem Flügel dann Feuerholz gemacht. Mit dem Draht der Saiten konnte man Dächer fester anbinden und Wäsche aufhängen.

Fast alle Frauen arbeiteten irgendwo.
Susana machte bei reichen Leute die Häuser sauber. Sie fand immer leicht eine Stelle, jede Hausfrau stellte sie sofort ein, war sie doch keine Gefahr für deren Ehemann.
Susana hatte einen schönen Körper, war überall gepolstert, wo es sein sollte, hatte gute Beine, lange schwarze Haare, war nicht zu groß und nicht zu klein.
Im Bett brauchte man ihr kein Kissen unter den Hintern zu legen, wie man es hier ausdrückte. Und eine Stimme hatte sie, weich und verführerisch.
Aber ihr Gesicht war kaum zu beschreiben, sah es doch aus wie Frankensteins Gesicht nach mehreren missglückten Operationen.
Die Eheleute liebten sich sehr, gingen zärtlich miteinander um.

Ich fuhr in die Hauptstadt, sprach mit verschiedenen Ärzten. Jaime wurde untersucht. Ja, man könne ihn operieren, wahrscheinlich könne er dann normal sehen.

Susana brachte ihn ins Krankenhaus, sie war begeistert, Jaime auch.
Ein neues Leben würde für sie beginnen, vielleicht würde Jaime sogar Konzertpianist. Sie würden dann zusammen bis ans Ende aller Tage in einem schönen Haus wohnen, mit einem großen Garten, vielleicht auch mit Schwimmbad.
Susana hatte solche Häuser bei ihrer Arbeit kennen gelernt.

Eine Woche nach der Operation ging ich ins Krankenhaus.
Jaime lag strahlend im Bett. Er konnte jetzt sehen.
Er müsse mir etwas sagen, erklärte Jaime.
Nein, er brauche sich nicht großartig zu bedanken,
das sei unnötig, meinte ich.
Es gehe um etwas anderes, sagte Jaime:
„Don Pedro,ich habe mich von Susana getrennt!"
 



 
Oben Unten