Jammerossis Gegenwart

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Ein Theater eröffnen



Wir werden einen Tisch mit tiefhängendem Damast, Stühle mit hohen Lehnen, sauber gekalkte Wände, eine große Schale mit Obst, einen großen Kerzenleuchter, vielleicht sogar den Mond im Winkel eines offen stehenden Fensters imaginieren müssen,

wenn wir dieses, unser eigenes Theater, mitten auf dem Land, begründen. Denn nichts von all dem ist da. Kein Vielmillionenbau, kein Projekt reichlicher Fördergeldzuweisungen.

Nein, einfach weil wir sagen: „Heute sind wir im Theater.“ Darum wird es da sein.

Im alten Gemeindesaal wird es sitzen – das erwartungsfrohe Publikum. Und vor diesem werden die Verrückten sein, Menschen wie wir, Nachbarn, aber an diesem Tag sich vereinend zu einem Ensemble von Schauspielenden.



26. Mai 25





Der große Tag

ist vorübergegangen ohne nennenswerte Ereignisse.

Heißt konkret: Ausgefallen, weil kein Publikum erschien.

Das „Theater“ bleibt eingeschlossen in meinem Kopf, in meinen Träumen und Plänen und Gedanken und in den Nachfragen der Wenigen, die ich vorher davon wissen ließ und die jetzt enttäuschter wirken als ich selbst.

Es gab eine Zeit, da hätte irgendein Lokalreporter die Ankündigung gelesen und wäre erschienen, wo so eine Frechheit stattfinden soll. Die Eröffnung eines Theaters, von dem man noch nie gehört hat. Kein jahrelanger Streit in den politischen Gremien, kein Ringen um Geldsummen, bei deren Nennung einem schwindelig werden kann. Keine Diffamierungen der Initiator*innen aus dieser oder jener Richtung. Nichts. Stille. Absolutes Desinteresse.

Ich suche nach der Bedeutung der Niederlage. Ist es überhaupt eine? Oder ist das Geschehen einfach nur der Blick in den Spiegel Realität? Heißt die Realität LandKultur: Niemand der etwa achttausend Bewohner*innen der Gemeinde, verteilt auf einhundertvierzig Quadratkilometer und über zwanzig Dörfer und sonstige Gemeindeteile hat ein Bedürfnis nach theaterhafter Kultur? Oder nur nicht an diesem Tage? Wären ein paar Leute gekommen, wenn ein Bierwagen und ein Kinderkarussell vor dem Veranstaltungsort gestanden hätten? Wenn man einen Bringedienst für Gebrechliche mit Feuerwehrfahrzeugen organisiert hätte? Wertgeschätzt, heißt es, wird nur, was einen hohen Preis hat. Also beim nächsten Mal doch Kartenvorverkauf für 29,90 organisieren? Und sich den staatlichen Geiern aussetzen? Wäre das professionell? Es wäre ein Grauen für mich.





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Ich hatte mich so darauf gefreut. Eins meiner Kinder regte das Vorbereiten des Chanukka-Leuchters an, übernahm es, ihn zu putzen, kümmerte sich sogar selbständig um passende farbige Kerzen. Wir einigten uns schnell auf das Fenster, in welchem die Channukia stehen sollte. Gemeinsam überlegten wir eine Art Zeitplan, um an den acht Tagen des Lichterfests möglichst oft zur „richtigen“ Zeit zusammenzusitzen. Zum Sonnenuntergang oder am frühen Abend. Ja, vor Beginn dieser Woche ergriff mich eine geradezu kindliche Aufregung, eine Vorfreude. Dann der erste Tag. Sonntag, 14. Dezember. Lange bevor es bei uns dunkel wurde, gingen die furchtbaren Nachrichten vom Attentat in Sydney durch die Medien. Radio, Fernsehen, Internet. Überall war es das Thema Nummer Eins. Allmählich stieg die Opferzahl, wurden die Ereignisse konkreter beschrieben. Wir zündeten gegen halb fünf die erste Kerze. Still, fast betreten. Ich hatte keine Lust mehr, irgendeine schöne Geschichte aus der jüdischen Welt vorzulesen. Die Attentäter hatten ganze „Arbeit“ geleistet. Menschen ihre Liebsten entrissen, blindwütig gemordet. Angst verbreitet. Weltweit Traumata erneuert. Ein dunkles Tuch gewaltsam erzwungener Trauer liegt auf uns. Ich blicke stumpf ins Dunkel.



16.12.25
 

petrasmiles

Mitglied
Danke für diesen Text, der die schlimme Nachricht aus der Faktenerzählung in eine menschliche trägt. Was als 'wieder eine schlimme Nachricht' abgeschüttelt werden konnte, dringt nun vor ins Herz und setzt die notwendige Betroffenheit und Trauer frei.
 
ge, Terrorakte und sonstige Abscheulichkeiten noch eine besondere Bestätigung zu einer Zeit, in der sich fast die ganze Welt auf Familientreffen, Lichterglanz und andächtige Freude einstellt.
Ich bin im. innersten getroffen.
 
Gedanken am Ende der Weihnachtstage, vor Ablauf dieses Jahres, nach dem aufmerksamen Verfolgen der Nachrichten. Eigentlich nichts Neues unter der Wintersonne. Und doch. Aber warum? Der Kelch geht um, der Herr Pastor tupft nach jedem Gläubigen den Tropfen vom Rand ...

Alle sterben. Irgendwann. Rockmusiker, Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure, Fernsehkasper. Nachbarn, Lehrer, der Bäcker, der Fleischer, der Herrenmaßschneider, der Friseur. Alle, die schon unsere Jugend lang und erst recht darüber hinaus älter waren als wir selbst, gehen meist vor uns. In einer langen Reihe. Die Helden, die Zwangsbekanntschaften, Verwandte. Vereinzelt erste Gleichaltrige. Jede Todesnachricht ein Quell stiller oder tiefer Seufzer. Herzinfarkte, Unfälle, schlechte Konstitution, tödliche Viren und Bakterien. Wenige entschlafen friedlich. Sie fallen um, bleiben liegen, werden weggeschafft, kurz aufgebahrt, hitzebehandelt, tränenreich verabschiedet, ihnen wird nachgerufen, nachgesungen, nachgeweint, wir Hinterbliebenen bedauern irgendwann den Verlust alter Rituale, die einst ganz fraglos einen Rahmen bildeten für Verlust und Schmerz und die nächsten Schritte, die man selbst noch gehen muss oder darf.
 
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Nächtliche Spaziergänge



Den alten Kindergarten besuchen. Fast fünfundfünfzig Jahre her, dass ich ihn wochentags täglich sah. Inzwischen soll es ein Motorradrocker-Treff sein, So ein Vereinsheim mit Waffen- und Drogenverstecken, mit unbürgerlichem Slang, mit lauter Musik. Lose Frauenzimmer mit frechen Sprüchen an einer Europaletten-Bar, mit Bierpfützen drumherum und Bullenhass, den man förmlich überall riechen kann. Eine Tatortkulisse. Als ich neulich dort war, ging ich durch leere Räume. Im Anbau, dort, wo mein Gruppenraum war, hingen noch die Gardinen aus den Siebzigerjahren. Auch am umfassenden Freigelände hatte man nichts verändert. Nach wenigen Schritten klebten halbe Blumentopffüllungen an meinen Schuhen. Wie früher. Ich beeilte mich, wieder auf gepflasterte Wege zu kommen. Auch das Badebassin gab es noch und die Hecken, die getrennte Bereiche schufen, damit die Erzieherinnen den Überblick behielten.

Den Rockern wird es gefallen, in die meisten Räume im Parterre barrierefrei mit den Motorrädern einfahren zu können. Das ist wirklich ein integrativer Ansatz für die pöhsen Jungz.

Ein anderer Ort, dieselbe Zeit. Omas Dachwohnung in der Heidestraße. Die einfachverglasten einflügeligen Fenster, die billigen Dielen, die Einrichtung. Möbel, Teppiche, Geschirr, Lampen. Fast alles aus den dreißiger, vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dunkelbraun, düster. So klein das Wohnzimmer auch war, der Ofen bekam es nicht warm, sobald Herbst- oder gar Winterwinde um den Block wehten. Gleiches galt für die Küche mit dem halben Ehebett. Die andere Hälfte hatte Otto bestimmt nicht mitgenommen, als er bei Nacht und Nebel (?) in den Westen ging und Gertrud und die beiden Töchter zurückließ. Aber davon erfuhr ich auch später so gut wie nichts. In unserer Familie wurde darüber nicht gesprochen. Kein Kontakt. „Frag nicht nach Sachen, die du nicht verstehst!“, wenn ich doch mal was darüber wissen wollte. Egal. Ich hab’s überlebt.

Ein weiterer Traum. Auf der Schultreppe. In einem Gebäude wie eine wilhelminische Kaserne. Ich traumwandele hinauf, bis in die Aula, blicke Richtung Osten über die Stadt, suche den Fluss, die Aue. Ach ja, ist schon eine recht grüne Stadt. Und trotzdem hässlich, uninteressant. Zerbombt und verbaut. Im Laufe des Lebens dann doch schön geworden – durch die Menschen, die man liebgewinnt.

Eine komische Situation. Je weniger ich mich tagsüber bewegen kann, desto mehr bin ich nun nachts unterwegs. Durch Raum und Zeit, durch meine Lebensgeschichten. Immer zu Fuß, nie im Rollstuhl. Träumen macht stark!




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… Es hieß dann vielleicht: „Und darum bringe ich dich heute mal zur Oma, ja? Gegen Mittag komme ich dann, und hole dich wieder ab. Ist doch nicht lange. Sei schön lieb!“ So in etwa kann es gewesen sein, wenn ich mal eine Weile bei der Oma bleiben sollte. Der mit der kleinen Dachwohnung. Mit den leise knarzenden Dielen. Mit dem eiskalten Klo. Mit dem märchenhaften Küchenofen, den Kohlen- und Ascheeimern, den geschichteten Holzscheiten. Alles das faszinierte mich, den Jungen aus einer Neubauwohnung von Typ Brandenburg. Mit Fernheizung, Gasherd, dem lauten Tacken der Relais-Schalter, das aus dem Schaltkasten im Flur kam. Dem Balkon, der im Sommer abends ewig Sonne hatte. Und auf der anderen Seite der Ausblick auf den Jugendknast. Hunderte kurzhaarige junge Männer, viele mit Tätowierungen, manche mit Muskelpaketen an den Oberarmen, sichtbar nur, wenn sie Volleyball spielten. Ansonsten marschierten sie fast nur in ihren dunklen Häftlingsuniformen, gelbe Streifen darauf, in großen Gruppen von Gebäude zu Gebäude.
 

petrasmiles

Mitglied
Auf der Schultreppe. In einem Gebäude wie eine wilhelminische Kaserne.
So war das bei mir auch, tief im Westen.
Das Gebäude kann aber nicht so groß gewesen sein, wie es mir vorkam. Die Erstklässler durften im Erdgeschoss bleiben und die nachfolgenden Klassen je eine Etage höher. Ich weiß noch dass ich frotzelte, um so älter man wird, desto mehr Stufen muss man hochsteigen. Ich fand das witzig, sonst niemand. Das sollte so bleiben - meine Anhänglichkeit an schale Witze, und dass sie keiner witzig findet :) Zeitreisen bringen Einiges hervor ...

Ich wünsche Dir ein wunderbares neues Jahr!

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, das wunderbare neue Jahr wünsche ich dir natürlich auch, @petrasmiles .
Ich finds schön, dass sich hier für mich langsam ein kleiner Autor*innen- und Leser*innen-Kreis bildet.

Kommt alle gut ins neue Jahr hinüber und haltet die Schreibideen fest, dass sie nicht verloren gehen!

Liebe Grüße
vom Clown
 



 
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