Januarschnee

Anonym

Gast
Sie gehört nicht zu den Menschen, die nichts über den Tag ihrer Geburt wissen. Sie findet sogar, dass sie eine Menge darüber weiß. Bei unzähligen Gelegenheiten hatten Vater und Mutter darüber gesprochen. Seltsamerweise hauptsächlich der Vater, denkt sie.
Es soll sehr kalt gewesen sein. Und Schnee muss gelegen haben. Der Haushalt der Eltern verfügte nicht über ein eigenes Telefon. Man ging in Telefonzellen, um zu telefonieren. Ein eigenes Auto gab es ebenfalls nicht. (Aber der Trabant war bestellt.) Deshalb stürzte der Vater aufgeregt aus dem Haus, als bei seiner Frau, ihrer Mutter, am vorhergesagten Tag die Wehen einsetzten. Die Haustür, die abends IMMER verschlossen wurde, darauf achtete die Winklers im Erdgeschoss aus mehreren Gründen, hatte er aufgeschlossen, aber, bereits seine Rückkehr denkend, offen gelassen.
Er rannte im Dauerlauf Richtung Stadt. Der örtliche Krankentransport befand sich in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs in einem riesigen weißen Gebäude, gegenüber vom Kohlenhändler. Man versprach ihm, umgehend einen Krankenwagen zu schicken, der seine Frau in die Frauenklinik bringen würde. Das Wort „zeitnah“ existierte damals noch nicht, vermutet sie.
Der Vater machte sich eilig auf den Rückweg, er stellte dabei fest, dass es in der Zwischenzeit zu schneien begonnen hatte. Er lief schnell durch die frostige Schneenacht, zurück zu seiner Frau. Viele Gedanken waren durch seinen Kopf gewirbelt wie Schneeflocken und zum Teil in absurder Weise verschmolzen. Ganz klar erinnerte er sich aber daran, dass er die Haustür nicht wieder verschlossen hatte. Als er sie nun, den Schwung seines eiligen Gangs nutzend, aufreißen wollte, hielt er zu seiner großen Verwunderung die Türklinke in der Hand. Irgendjemand, vermutlich die Winklers, musste die Eingangstür mitten in der Nacht wieder verriegelt haben. Die Tür war zu, seine Frau im zweiten Stock und der Krankenwagen würde gleich da sein. Kurzentschlossen klingelte er bei den Nachbarn Sturm. Wieder und wieder. Endlich öffnete sich ein Fenster. Es sei losgegangen, rief er, er habe sich ausgesperrt, als er den Krankenwagen holen wollte. Das Licht im Treppenhaus ging an. Die Nachbarin, eine freundliche Frau, eilte an die demolierte Haustür und öffnete von innen. Er rannte die Treppen hinauf, betrat die Zweiraumwohnung und sah seine Frau auf dem Sofa sitzen.
Später, gegen Morgen, der Krankenwagen war dagewesen und hatte die Frau abgeholt, es hatte aufgehört zu schneien, lag er erschöpft und seit drei Jahren zum ersten Mal allein in seinem Bett. Er fragte sich, ob das Kind schon geboren worden war. War es ein Junge, wie er sich insgeheim wünschte?
Er wollte, wie er das immer tat, seinen breiten Ehering berühren. Als habe der Zauberkräfte. Doch was war das? Der Ring fehlte am Finger. Er musste ihn bei seinem Dauerlauf durch die Nacht verloren haben. Ihm wurde heiß. Und kalt. Ein verlorener Ehering, das schien kein gutes Omen zu sein. Die Frau wäre stinksauer, wenn sie es erführe. Sie hatten beim Goldschmied Gold abgeben müssen, damit er die Ringe überhaupt herstellen konnte. Es würde schwer sein, neues Gold zu beschaffen. Schwer, aber nicht unmöglich. Er begann sich zu beruhigen und schlief ein.
Als es dämmerte, war er längst wieder aufgestanden, frühstückte und lief den Weg der Nacht noch einmal ab. Zu seinem Erstaunen war es wärmer geworden und der frische Schnee hatte zu tauen begonnen. Seine Augen suchten die Oberfläche von Wegen und Straßen ab. Kein Ring. Nichts. Doch dann, letztendlich, auf dem Fußweg, der schnurgerade ins Stadtinnere führte, sah er ein Glitzern. Der Ring lag im schmelzenden Schnee. Unendlich erleichtert hob er ihn auf und steckte ihn zurück an den Finger.
Das Kind, eine Tochter, wurde geboren. SIE kam zur Welt. Nach all der Aufregung. An einem kalten Januartag. Fünfzig Jahre zuvor waren an diesem die Führer des Spartakusbundes ermordet worden. Das führte dazu, dass sie schon im frühen Schulalter wusste, wie Rosa Luxemburg aussah und, dass es in Berlin einen Landwehrkanal gab.
Die Aufregung der Nacht mochte sich auf ihr Temperament übertragen haben. Sie war als Kind lebhaft, sehr lebhaft, und oft passierten ihr Missgeschicke. Sie hatte keine Türklinken abgerissen, wohl aber unzählige Gläser umgeworfen, viele Teller fallen lassen und Dinge verloren.
Den Winter mochte sie nicht, aber Schnee. Zu jedem Geburtstag bekam sie ein Alpenveilchen geschenkt. Schnittblumen gab es um diese Zeit nicht. Sie hasste die Alpenveilchen, sie konnte sie nicht als Blumen akzeptieren. Sie hasste ihre Farbe, die Form der Blätter und die Tatsache, dass sie irgendwann verschrumpelten und weggeworfen wurden, nur, um im nächsten Jahr durch ein neues Exemplar, das ebenfalls schrumpeln und weggeworfen werden würde, ersetzt zu werden.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich verstehe den Rahmen nicht. Also ich verstehe schon, was in ihm „passiert“ (nämlich nichts), aber ich verstehe nicht, was er zu dem Text beiträgt. Er ist - eben weil nichts passiert - hier überflüssig.
(Um bei der Wahrheit zu bleiben: Der Rahmen macht eine eigene Story auf, die sicher nicht uninteressant ist, aber eben nur ganz grob angeteasert wird und keine relevante Verbindung zum Hauptteil dieses Textes hat.)
Mein Tipp also: Rahmen weglassen!
 

petrasmiles

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Liebe jon,

ich weiß jetzt nicht, was Du mit Rahmen meinst - hoffentlich Anonymus. (Meinst Du die einleitenden Sätze und den letzten Absatz? Warum nicht?)
Mir hat die Geschichte gefallen - man liest auf dieser Ebene viel zu wenig vom DDR-Alltag.
Vielleicht liegt mein Gefallen auch an der unbeabsichtigten Pointe , denn ich mag Alpenveilchen auch nicht.

Liebe Grüße
Petra
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Mit Rahmen meine ich den Teil vor und den Teil nach dem „Geburtsteil“ Die Anfang erklärt nur, warum da noch das Ende steht, da Ende allerdings hat hat außer dem Set (Im Hauptteil wird das „ich“ des Rahmens geboren) keinen wesentlichen Bezug zum Hauptteil.
Der Mittelteil - also das mit dem DDR-Alltag - ist okay.
 

Anonym

Gast
Vielen Dank für die Rückmeldungen. Der Text stammt aus einem umfangreicheren Textzusammenhang und es ist das erste Mal, dass ich mich an längerer Prosa versuche. Ich bin unsicher. Was den "Rahmen" anbelangt, so wollte ich versuchen, Lebensereignisse der Protagonistin im Rückblick zu erzählen. Die Schilderung der Ereignisse sollte gewissermaßen in der Retrospektive kommentiert werden, entsprechender Lebenserfahrung Rechnung tragend. Ich bin nicht sicher, ob das funktioniert.
 
Zuletzt bearbeitet:

jon

Mitglied
Teammitglied
Ah, verstehe. Der Rahmen ist quasi nur etwas zusammengedampftes aus dem "Rest" des größeren Textes. Das erklärt das Anreißen schlussteil des Rahmens. Der Mittelteil als solcher funktioniert - entsprechend in das gesamte Werk eingebettet - wahrscheinlich recht gut. Vielleicht kannst du bestimmte Akzente noch betonen, die die negative Einstellung des erzählenden (Rahmen-)Ichs begründen. Ich muss da jetzt mal raten: Ist es, dass der Vater bei seinem Bericht, die immense Mühe betont, die er hatte? Eventuell gekoppelt mit dem "nur ein Mädchen"?
 



 
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