Jason Walker

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„Alles geht irgendwann zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit“, sagte Jason Walker und schoss mir in den Kopf.

Ich kann nicht sagen, dass ich zu meinen Lebzeiten mein Leben nicht bestmöglich genossen hätte. Das habe ich sicher. Ich habe nicht viel ausgelassen und dafür umso mehr ausprobiert und in ruhigen Momenten immer auch abgewogen, ob ich sinnvoll lebe. Doch am Ende gab es kein Aufrechnen mehr: „Die letzten werden die ersten sein“, war so mit das letzte, das mir durch den Kopf ging, bevor mein Kopf ging. Gestorben wäre ich sicherlich, entweder an dem Krebs, der sich gerade begonnen hatte aus meiner Prostata hinaus in den Rückenknochen und in die Leber zu fressen, oder an der unsanften Landung, die mir bevorgestanden hätte, wenn es wirklich zu meinem Absprung von der Brücke gekommen wäre. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen. Bevor ich mich in die Tiefen fallen lassen konnte, hatte mir Jason Walker seine Knarre in den Mund gepresst, mit einer sehr tiefen, unaufgeregten Stimme gesprochen, fast geflüstert „Nichts ist für die Ewigkeit“ und abgedrückt.

Mein PSA Wert lag immer unter drei Nanogramm pro Milliliter, selbst nach der letzten Vorsorgeuntersuchung gab es keinen Grund, davon auszugehen, dass mich endlich doch noch eine tödliche Krankheit erwischen würde; aber dass etwas mit meiner Pisserei passiert war, was ich anfangs gar nicht richtig bemerkt hatte, das war mir schon klar, als es begann schwieriger zu werden, einfach fließen zu lassen.

Erst wurde mein schöner kräftiger Strahl schwächer und schwächer, später hatte ich richtige Probleme überhaupt noch was herauszubekommen und der Tag, an dem ich dann auch erfuhr, was mit mir wirklich los -und wie schlimm es in Wahrheit um mich bestellt war-, war auch der Tag gewesen, wo ich das erste Mal Blut ins Klo gepisst hatte. Ich wusste, dass das nichts gutes bedeuten konnte, aber dass es gleich ein bösartiger Prostatakrebs sein würde, der auch noch gestreut hatte, das hatte selbst ich nicht vermutet. Mein Urologe, der gleiche Urologe, der immer diese unzerstörbar positive Ausstrahlung gehabt hatte, kam ganz niedergeschlagen zu mir, bat mich, mich zu setzen und rückte direkt mit der Sprache heraus. Es war ein Szene wie aus einem Alptraum nur, dass das kein Traum war.

Viel Zeit würde mir nicht mehr bleiben, das hatte mir der Arzt schon eröffnet. Am Ende würde es immer gleich ablaufen: Palliativbetreuung, Überdosis Morphium, passive Sterbehilfe. Ich bekam sogar das Röntgenbild mit nach Hause, auf dem meine Knochen bereits vom Krebs durchwuchert waren. War das wirklich derselbe Mensch, der im Herzen und im Kopf das zwanzigste Lebensjahr nicht überschritten hatte, der Lust an der Welt hatte, Lust an jedem Tag; der Yoga machte, der sich vegan ernährte, der Marathon lief ? War ich das ? Das, dieses verkrebste Skelett, das konnte nicht mein Skelett sein. Ich war gesund! Ich lebte gesund! Ich war achtsam mit mir und meinen Mitmenschen und ich achtete darauf, möglichst nach der goldenen Regel zu leben. Ich hatte schon vor zehn Jahren aufgehört Mücken zu erschlagen, nahm stoisch einen zerschundenen, zerstochenen Körper in Kauf, erschlug keine Schmeißfliegen, trat auf keine Kakerlaken und beförderte verirrte Wespen mit der gleichen Fürsorge hinaus, wie alte Omas über die Straße. Ich war kein schlechter Mensch und ich hielt mich für jemanden, der die hintergründige Ordnung der Schöpfung in einer Form von vertrauensvollem Pantheismus verortete, so nach dem Motto: „sehet die Blumen auf dem Feld…“

Doch jetzt hatte ich Prostatakrebs und pisste Blut und mein Becken und Rücken begannen Schmerzen zu entwickeln, die ich vorher noch nie gekannt hatte.

Wer noch niemals Knochenschmerzen durch bösartige Krebsgeschwüre gehabt hat, der weiß gar nicht, wovon ich hier rede. Es ist ein überwältigender Vernichtungsschmerz, der selbst mir, der ich mich immer für stark und mit beiden Beinen im Leben fest verwurzelt gehalten hatte, die Tränen in die Augen getrieben hatte. Mir war erstmals vor Schmerzen die Stimme versagt, so fürchterlich, so zermürbend waren diese Schmerzen. Und sie begannen recht bald nach der Diagnose.

Ich hatte gerade meinen 57. Geburtstag im Kreise alter und neuer Freunde gefeiert und gehofft noch mindestens 30 gesunde Jahre vor mir zu haben, als dieses Martyrium begann.

Anfangs wollte ich kämpfen, nicht aufgeben! Ich war ein Kämpfer, hatte immer gekämpft: Hatte mich von der Realschule aufs Gymnasium gekämpft, Ausbildung zum Industriekaufmann, an der Abend-Uni neben der Arbeit BWL studiert und mich dann in den Glaswerken hochgearbeitet vom kleinen Azubi bis zum Personalvorstand. Dabei konnte ich mich immer im Spiegel anschauen. Ich war kein Engel, aber ich musste mir auch keine ernsthafteren Übertretungen vorwerfen und mit diesem Kampfesmut ging ich auch in die Krankheit hinein. Doch die Krankheit zermürbte mich, ließ mich nachts aufwachen, vor Schmerzen schreien, vor Schmerzen weinen, vor Todesangst weinen; dann wieder Hoffnung, die Werte wurden etwas besser, dann wurden sie wieder schlechter und ich wurde immer immer schwächer. Ich wollte noch nicht gehen, ich fühlte mich noch nicht bereit.

Andererseits: Wann ist man jemals bereit für den Tod. Jason Walker sagte am Ende meines Lebens zu mir: „Alles geht irgendwann zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit“. Direkt danach jagte er mir eine Kugel in den Kopf.

Besonders schwer fiel es mir, Abschied zu nehmen von meiner langjährigen Freundin Katrin. Mein Leben war kinderlos geblieben und es gab Gründe dafür, für deren Darstellung hier mir nicht mehr genug Zeit bleibt. Ich bin mir über diese Gründe im Klaren und wenn ich es auch manchmal bereut habe, keine Kinder zu haben, und mich wegen dieser Entscheidung meine erste große Liebe verlassen hatte, habe ich mich damit abgefunden, bin damit im Reinen gewesen, bis ich Katrin in einem Alter traf, als sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Mit ihr war es das erste Mal, dass ich mich so angekommen fühlte, dass ich mir Kinder hätte vorstellen können. Doch es war zu spät. Es gab für alles seine Zeit. Du kannst die Dinge nicht nachholen, du kannst das Leben nicht betrügen.

Wenn wir uns mit anderen Paaren trafen, hörten wir interessiert deren Kindergeschichten und wir scherzten dann: „Wir hören gut zu, damit wir im kommenden Leben gute Eltern werden“.

Katrin nahm die Botschaft von meiner tödlichen Krankheit nicht gut auf. Auch sie ging durch Phasen, auch bei ihr folgte auf totale Resignation, Hoffnung und auf Hoffnung wieder Resignation, aber mit einer tödlichen Krankheit im Leib ist es eben nicht so wie im normalen Leben. Du gehst nicht zwei Schritte vor und einen zurück, du gehst immer -gemächlich oder schnell- zwei Schritte zurück, bis du beginnst Jason Walker zu sehen.

Erst ist er nur ein Schatten beim Einkaufen, irgendwo hinter einem Werbeplakat. Eine Schwärze, die weghuscht, die verfliegt, wenn du sie nicht nur aus dem Augenwinkel betrachtest, doch allmählich wird er realer, wird er präsenter. Zunächst fragst Du dich, ob es jemand aus deiner Jugend ist, jemand, den du einmal kanntest und eine lange Zeit über vergessen hast, doch dann siehst du seinen langen schwarzen Mantel, den tief ins Gesicht gezogenen Schlapphut mit der Rabenfeder und die Dunkelheit, wo sein Gesicht sein sollte und du weißt, dass das niemand ist, den du jemals kanntest, niemand, den du jemals würdest kennen wollen. Du hast das Gefühl, als folge dir jemand, als beobachte dich jemand aus den Schatten und du blickst plötzlich auf die Uhr, was du früher nie gemacht hast, blickst in den Sonnenuntergang „Wie viel Zeit bleibt mir noch ?“

Dann steht er plötzlich neben dir. Du, betrunken, heftig angelehnt an die Theke, ein Urschlamm der Gefühle, völlig ohne Halt und Richtung, ängstlich wie ein Neugeborenes, das man ausgesetzt hat und das sterben wird und er setzt sich einfach neben dich und zieht dich wieder hoch mit dem Kopf auf die Theke. Du schaust dahin, wo sein Gesicht sein sollte und obwohl du direkt neben ihm sitzt, siehst du nur Schemen, Andeutungen von Gesichtszügen, die immer wieder in den Schatten tauchen. Ist es real ? Ist es alles nur ein Traum ?

Der gottverdammte Krebs in meinen Knochen ist real. Katrin, die zu Hause sitzt und Valium schluckt, weil sie nicht mehr schlafen, nicht mehr essen kann, ist real und meine gottverdammten Schmerzen sind real und das Blut, das ich unter allergrößten Schmerzen ins Becken schiffe. DAS ist real!

„Es gibt kein Entkommen“, sagt Jason Walker und kippt sich den Whiskey in die Dunkelheit: Alles geht irgendwann zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit. Niemand hat Dich gefragt, ob Du geboren werden willst und niemand wird dich fragen, ob du sterben willst. Geboren werden, sterben, alles einerlei.“

„Aber es ist so sinnlos“, schluchze ich: „Es ist so sinnlos. Ich bin kein schlechter Mensch! Ich habe verdient noch etwas zu leben!“

„So?“ Jason Walker lacht leise: „Hast Du verdient geboren zu werden ? Nein und bist trotzdem geboren worden. Dieses Leben ist nicht Dein Leben, nicht einmal dein Körper ist dein Körper"

„Aber mein Geist, mein Bewusstsein. Meine Seele, meine Entscheidungen. Es waren meine Entscheidungen, die auch anderen zu Gute gekommen sind, die die Welt vielleicht ein bisschen besser gemacht haben. Meine Liebe“. Ich weinte.

„Alles geht irgendwann zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit. Es ist gut, dass du weinst. Es ist gut, wenn Du beginnst Mitleid mit Dir selber zu haben. Es ist nie zu spät, auch wenn alles zu Ende geht, denn nichts ist für die Ewigkeit, nicht einmal das Ende.“

Dann hebst Du den Kopf und niemand ist da. Ist Jason Walker real ? Ist er nur eine Einbildung, meine Einbildung ?

Ich fragte Katrin: „Katrin, hast Du Jason Walker gesehen ?“

„Nein“ sagte sie: „Ich will nicht, dass du stirbst. Lass mich nicht allein!“

Zum Ende hin ist es wie ein Tunnel, der immer enger wird. Du siehst fast kein Licht mehr. Die Schmerzen werden trotz Hormontherapie, trotz Schmerzmitteln, immer schlimmer. Ich wusste, was die nächste Stufe sein würde: Sie würden mich unter Morphium setzen. In diesem Zustand, sediert, weggetreten, würden sie dann die Dosis allmählich weiter erhöhen, bis irgendwann der Atem aus- und das innere Ersticken einsetzt. Der Morphiumtod war nichts anderes als ein goldener Schuss unter kontrollierten Bedingungen. Im Grunde etwas wunderbares, weil so viel unnötiges Leid verhindert werden konnte.

Dennoch sperrte sich etwas in mir, so zu gehen, in ein Krankenbett gefesselt, die verbrauchte kohlendioxidgesättigte Krankenhausluft atmen zu müssen. Einmal noch wollte ich fliegen, wollte ich schweben.

So endete ich schließlich auf der Brücke und blickte hinab ins Tal. Alles da unten sah so unendlich klein aus, wie ein Miniaturspiel, wie Verzierungen zu der Spielzeugeisenbahn, die mir meine Eltern zum fünften Geburtstag geschenkt hatten, kurz bevor mein Vater sich nach Westdeutschland abgesetzt und mich, meine Geschwister und meine Mutter alleine gelassen hatte. Nichts war mehr wie es vorher war danach. Die Welt war zerbrochen.

Alles da unten war so friedlich, so endlich so begrenzbar, so ganz. Dort hinunter wollte ich fliegen, meine Arme ausbreiten, auf den Schwingen des Windes in die Unendlichkeit gleiten, doch ich traute mich nicht. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Beine wollten den einen Schritt einfach nicht tun, denn ich fürchtete das Ende, das große, das ernste, das wahre Ende, als ich plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten an mich herantreten sah. Es war Jason Walker und das erste Mal konnte ich sein Gesicht ganz klar vor mir sehen. Ich seufzte und ich dachte an den alten Spruch "Die letzten werden die ersten sein". Es gibt nichts aufzusparen in diesem Leben, nichts worauf man hinsparen kann. Es gibt keine Hoffnungen auf ein besseres Morgen, keinen Weihnachtsmann, keinen Osterhasen auf die es sich zu warten lohnen würde, denn sie sind nicht real. Alles was wirklich zählt ist der Augenblick. Er ist das einzig reale. In jedem Augenblick ist der Anfang von allem und das Ende.

„Alles geht irgendwann zu Ende. Nichts ist für die Ewigkeit“, sagte Jason Walker und schoss mir in den Kopf.
 
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Heinrich VII

Mitglied
Hallo DvE,

schonungslos krasser Text - da brauchte ich hinterher erst mal Verdauungszeit.
Sehr gut und eindrücklich geschrieben. Ist der Ich-Erzähler Erfindung? Oder gibt es da jemanden,
den der Autor kennt? Zu persönlich, ich weiß. Aber das war die erste Frage, die bei mir aufgetaucht ist beim Lesen.
Ich wollte mir zwischendurch ein Heißgetränk machen - konnte mich aber von diesem Text nicht los reissen.
Hab den Tee hinterher getrunken.

Gruß, Heinrich
 
hi @Heinrich VII vielen Dank für Deinen Leseeindruck. Habe mich sehr gefreut, dass der Text Dich erreicht und sich die Lesezeit gelohnt hat. Nun, es ist kein biographischer Text im klassischen Sinne, niemand konkretes, den es da gegeben hätte.

@Morla Bernstein vielen Dank für deinen besonderen Kommentar und Deine Zustimmung zum Text !

mes compliments

Dionysos
 



 
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