jede nacht hat ihre lehre

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Ralf Langer

Mitglied
jede nacht hat ihre lehre

ich schiebe eine ruhige kugel
in den gedrehten lauf der zeit
ich drücke ab und spüre
einen schuss – vergangenheit:

auf dem küchentisch
ein angebissenes brötchen
mit honig dick beschmiert
zeigt mir nun ohne worte
deine zähne

und hier am duschvorhang
und kaum zu fassen
ein rest von deiner dna
und dort das bett, die kissen
und hier und dort und da
sind meine hände fest
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
ich schiebe eine ruhige kugel
in den gedrehten lauf der zeit
ich drücke ab und spüre
einen schuss – vergangenheit:
interessant. du setzt die auseinandersetzung mit der vergangenheit beinahe mit dem selbstmord gleich. wie beim suizid, richtet das lyri ich den lauf der zeit auf sich und statt des todes, spürt es die vergangenheit, statt dem körperlichem schmerz den geistigen, unangenehmsten schmerz, der von verlusten ausgeht, wie der weitere verlauf des textes zeigen wird. all das scheint ruhig, gewollt, gelassen zu geschehen, eben das deutet die starke metapher der ruhigen kugel an. die ersten beiden zeilen sind dabei stark formuliert, gut durchdacht, ästhetisch ansprechend.

auf dem küchentisch
ein angebissenes brötchen
mit honig dick beschmiert
zeigt mir nun ohne worte
deine zähne

offenbar geht es um eine, wie sagt man, liebschaft? um ein rendezvous, das dem lyri. mehr zu bedeuten schien, als der angehimmelten, vielleicht noch nagender, dunkler gedacht - will sagen, sie kennen sich, sind sich vertraut. Ist sie so wortlos gegangen, dass die zeichen, die sie hinterlassen hat so wichtig sind? großartig das bild des angebissenen brötchens, das nun ihre, die bisher ungezeigten, zähne zeigt.


und hier am duschvorhang
und kaum zu fassen
ein rest von deiner dna
und dort das bett, die kissen
und hier und dort und da
sind meine hände fest
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff
unmöglich die dna von ihr zu bemerken, selbst am duschvorhang. wie sehr muss sich das lyri. in die begegnung hineingesteigert haben um ihre „dna“ zu bemerken, aber vielleicht ja doch – ein haar, ein fingernagel, wer weiß.
die kissen deuten auf eine liebesnacht, ja – wer hätte das nicht schon vermutet. Überall ist ihre präsenz noch spürbar, ein aura die den raum einhüllt, ihn füllt mit den bildern vergangener nächte, oder bloß dieser einen, tiefen nacht, die erinnert wird wie eine kostbarkeit, wie seide oder gold.
und dann der schlenker, unerwartet, rabiat. die lehre wird zur leere, plötzlich scheint alles unausgefüllt gewesen zu sein. das lyri. Ich scheint unentschieden über die nacht, bleibt verkopft und melancholisch zurück, wie der leser, der die drehung mitgemacht hat, der unerwartet ins kalte wasser gestoßen wurde. aber ich friere nicht, gute texte wärmen, auch wenn sie dich eiskalt erwischen.

Lg
patrick
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo Ralf Langer,

ich lese dein Gedicht als eines, welches den Schmerz über den Verlust einer Liebesbeziehung ausdrückt. Besonders gelungen finde ich dabei, dass man als Leser ein starkes Gefühl dafür bekommt, wie eng verbunden das LI mit der Partnerin oder dem Partner war und wie amputiert es sich nun fühlt, da es allein ist. Besonders eingängig finde ich das Bild von den Zahnabdrücken im Brötchen und die letzten beiden Zeilen des Gedichtes!

Nur eine Sache gibt es, die meiner Meinung nach gestrichen werden könnte, und zwar das ohne worte in Strophe 2. Diese zwei Worte erklären finde ich schon zu viel; was ausgedrückt werden will, steckt schon im Bild der Beißspuren.

Insgesamt wie ich finde ein sehr starkes Gedicht!

Liebe Grüße
Frodomir
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Patrick und Frodomir,
herzlichen Dank für eure Gedanken.

Ja ein "Liebesdrama" das versucht mit den worten und seinen Bedeutungsebenen zu spielen.
Die Kugel, mal als Patrone, vielleicht auch Billard, vieleicht auch Müßiggang.
Der Lauf der Zeit, ein Revolver? oder sich einen Schuß drücken , eine Spritze Vergangenheit?

Sicher ist das erinnerte ist seltsam fassungslos, und lyrich um im Wortspiel zu bleiben: schwer von begriffe, oder ist es nur sinnlich nicht zu greifen...

"Ohne Worte"
Frodomir da denke ich noch einmal drüber nach. Ich bin klnglich mit den letzten biden Zeilen von Strophe nicht ganz mit mir im reinen. HAbe es aber trotz vieler Versuche nicht "besser" hingekriegt.
Meinem Gefühl nach fehlen in der letzten Zeile vob S3 noch ein paar Zeilen. und das letzte Wort müßte einen Verschlußlaut haben.
( Also klanglich m.E. besser "Zahn" statt "Zähne" - was aber sprachlich nicht passt)
Herzliche Dank
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
ich schiebe eine ruhige kugel
in den gedrehten lauf der zeit
ich drücke ab und spüre
einen schuss – vergangenheit:
Hallo Ralf,

wirklich ein starker Text, der initial schon ordentlich zündet. Kommt doch der "schuss - vergangenheit" rüber wie eine harte Droge. So gelesen wirken die beschriebenen Spuren im häuslichen Umfeld wie Symptome des Kalten Entzugs.

Gekonnt finde ich auch das Einfügen des Begriffes "Besitz" in den letzten Zeilen. Aktiv und Passiv setzt du hier (ein) wie Geheimagenten in den sprachlichen Kontext; so dockt am Ende die Leere an - die Lehre im Titel.


LG
Elke
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Hallo Ralf,

Ja, das ist richtig gut. Für meinen Geschmack ist es ein bisschen überladen mit - wenn auch guten bzw. originellen - Wortspielen. Die "ruhige Kugel" finde ich seltsam in diesem Kontext, weil das bei uns umgangssprachlich bedeutet, dass jemand bei der Arbeit wenig leistet und es ist abwertend. Wär da nicht irgendwas mit ruhiger Hand besser?

Das Honigbrotbild gefällt mir besonders, aber überhaupt die Bilder von der vom LD verlassenen Wohnung. Besonders aus dem Honigbrotbild lese ich, dass es eine große Liebe war, die da ging.

Und das:

sind meine hände fest
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff


Ja, du meine Güte! Dieses "Fading" der körperlichen Erinnerung, wo sich dann halt irgendwann der Brustkorb nicht mehr zusammenzieht, hast du so kühl in Worte gefasst, dass es mich richtig fröstelt!

Und außerdem ist das klanglich und rhythmisch wirklich toll gemacht; auch die einzelnen eingestreuten Reime bzw. Assonanzen.

Zu S3
Ich bin klnglich mit den letzten biden Zeilen von Strophe nicht ganz mit mir im reinen. HAbe es aber trotz vieler Versuche nicht "besser" hingekriegt.
Meinem Gefühl nach fehlen in der letzten Zeile vob S3 noch ein paar Zeilen. und das letzte Wort müßte einen Verschlußlaut haben.
( Also klanglich m.E. besser "Zahn" statt "Zähne" - was aber sprachlich nicht passt)
Meinst du wirklich es fehlen Zeilen oder meinst du Silben? Das Wortspiel "Zähne zeigen" könnte mE auch in der Ez noch erkennbar sein. Man könnte vielleicht noch näher heranzoomen an das LD, es so stärker individualisieren also, nur so eine Idee:

auf dem küchentisch
ein angebissenes brötchen
mit honig dick beschmiert
zeigt mir nun ohne worte
den schiefen schneidezahn

oder dir vielleicht zu kitischig (?), aber ohne das Füllsel "ohne Worte":

zeigt mir im abdruck deines lächelns
den schiefen schneidezahn.

Sehr gerne gelesen und darüber nachgedacht.

LG
atira
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Elke, herzlichen Dank. Ich freue mich das du den Schuß Vergangenheit auch als die Möglichkeit einer Droge wahrgenommen hast.
Ja und das Wort "Leere - Lehre" ist mir ein staändiger Begleiter.

Lg
Ralf
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo atira,
hm die ruhige Kugel, ich begreife sie nich nur hier als "Müßiggang". wer eine ruhige Kugel schiebt, ist nicht explizit faul, es bedarf eher keiner oder nur geringer Anstrengung.
Ich erhoffte mir hier auch das das Adjektiv sozusagen auf lyrich abstrahlt. Also das er "in Ruhe" oder "mit der Ruhe" erledigt.
Ist vielleicht nur ein frommer Wunsch meinerseits.

Ich meinte natürlich Strophe 2 Zeile 3-4:
"zeigt mir nun ohne worte
deine zähne"

Der schiefe Zahn will mir nicht gefallen. Denn es liegt nicht in der Absicht dieses Stückes sozusagen Die Zähne von lyrdu zu entstellen.
WIchtig war zum einen: lyrdu hat obwohl körperlich abwesend bleibenden Eindruck hinterlassen ( Der Abdruck der Zähne),
und
als Konnotation : jemanden Honig um Maul schmieren
und eben
jemandem die Zähne zeigen.

Wie ich schon sagte: klanglich wäre es besser wenn hier nicht der Plural stände.
( da müßte ich vielleicht ein anderes Bild verwenden, wie den "hohlen Zahn")

Wenn also ein Verschlußlaut am Ende wäre, sänke die Intonation, die Lippen des Sprechers schlössen sich, und die Stimme bzw. das Stimmhafte endet.
DAs -e-am Ende von Zähne ist aber stimmhaft, es erweckt den Eindruck das noch etwas kommen oder geschehen könnte, weckt also durch den Klang eine "Erwartungdhaltung", die ich eigentlich nicht beabsichigte.

Auch dir einen herzlichen DAnke für den anregenden Kommentar.

LG
Ralf
 
G

Gelöschtes Mitglied 22614

Gast
Hallo Ralf,

Es ist schon immer wieder erstaunlich wie unterschiedlich wir ticken.

Der schiefe Zahn will mir nicht gefallen. Denn es liegt nicht in der Absicht dieses Stückes sozusagen Die Zähne von lyrdu zu entstellen.
WIchtig war zum einen: lyrdu hat obwohl körperlich abwesend bleibenden Eindruck hinterlassen ( Der Abdruck der Zähne),
und
Ich dachte nicht an ein "Entstellen" oder "Entstellt-sein", vielmehr ein liebevolles Wahrnehmen, wie ein Grübchen, ein Muttermal oder eben einen schiefen Schneidezahn als besonderes Merkmal des geliebten Menschen, das man nie vergießt, das ihn von allen anderen Menschen unterscheidet; also das Butterbrot zeigt dann nicht nur ganz allgemein "Zähne" sondern die Besonderheit des LD.

LG
albaa
 

Ralf Langer

Mitglied
Ah verstehe. Danke für die weiterführende Erklärung dessen was das Bild des „schiefen Zahn“ bedeuten soll.

ich werde darüber nachdenken.Vielleicht finde ich ein Bild, das ich nutzen kann, aber das schief werde ich wohl umgehen.

lg
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
jede nacht hat ihre lehre

ich schiebe eine ruhige kugel
in den gedrehten lauf der zeit
ich drücke ab und spüre
einen schuss – vergangenheit:

auf dem küchentisch
ein angebissenes brötchen
mit honig dick beschmiert
zeigt mir nun ohne worte deine zähne
ich bin irritiert

und hier am duschvorhang
und kaum zu fassen
ein rest von deiner dna
und dort das bett, die kissen
und hier und dort und da
sind meine hände fest
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff
Hallo Ralf,

was mir noch aufgefallen ist: Strophe 1 hat in Spannung und Klang tatsächlich etwas Mantraartiges. Die Leere am Ende des Gedichts ist rückbezüglich auf die Lehre im Titel. Dadurch entsteht ein kleiner böser Teufelskreis, der das Gedicht in Richtung Endlosschleife zieht ... Ist das nun Absicht oder Nebenwirkung?


Anbei eine Idee für die Stelle mit den Zähnen und ein symmetrisches upgrade mit Reim (Ich hoffe, das irritiert dich nicht :))
Die Doppeldeutigkeit des Zähnezeigens bedarf des zusätzlichen "ohne Worte" nicht, deshalb wäre es verzichtbar.

Soweit sehr gut und herzliche Grüße,
Elke
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Ich picke ja ungern Teile aus einem Text heraus. Hier tue ich es aber ganz bewusst. Das Ende hat mich umgehauen:

und hier und dort und da
sind meine hände fest
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff
Das sitzt!
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Cellist,
herzlichen Dank. Ich empfinde es ähnlich. Es gint da ein paar Worte wie:
Leere - Lehre
Begriff ( im Sinne von: sich von etwas einen Begriff schaffen. Also das Vermögen sich erst durch Findung des richtigen Wortes In eine Zustand der Erkenntnis zu setzen)
Begriff : von etwas begreifen( nahe beim vorhin genannten aber nicht dasselbe). Also einen Zustand intellektuell zu erfassen.

und ganz ursprünllich

Begriff: im haptischen Sinne etwas anfassen, also in den Händen halten.

Mit diesen Deutungsebenen arbeitet diese Metapher

Lg
Ralf
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Elke,
ja das ist beabsichtigt.
"in die Lehre (Leere)gehen" wir ja in der Regel bei "Anderen" .
oder aber eine "Lehre" aus einem "Umstand" ziehen. Also ein Lernen durch ein Fazit, oft durch Irrtümer. eine Lehre die durch Zufälligkeit ensteht wird oft denke ich gar nicht wahrgenommen. Der Irrtum und der daraus resultierende "Schmerz" sind doch wohl die besten "Lehrer"

Der Begriff "Leere" ist ja ein sinnliches Erlebnis. Leere ist ja nicht das "Nichts". Es kann nur das leer sein das ein "Fassungsvermögen besitzt. Ein Raum, ein Eimer etc. Will heißen wir können die "Leere" wahrnehmen durch das Fehlen von etwas Anwesendem. Für das Nichts hat der Mensch keine Sinne.

Herzlichen Dank

P.S.

Ich werde definitiv die Zeilen:

"zeigt mir nun ohne worte
deine zähne"

umarbeiten.

Klang und Aussage können noch vebessert werden.
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
im besitz von einer leere
die ich gestern noch begriff
Eine interessante Stelle, Ralf, die mir besonders gefällt.
Insgesamt ein Gedicht, das mich angesprochen hat.

Als die Leere gestern noch begriffen wurde, hieß diese wohl noch Lehre (? ).

Grüße aus Leipzig
Keram
 



 
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