Jeden Tag eine gute Tat

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Angelika84

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„Ihre Spende hilft uns, den Hunger in der Welt zu lindern“ stand auf dem Plakat mit den beiden abgemagerten Mädchen, die traurig in die Kamera schauten.
Die junge Frau mit dem Starbucks-Becher und den gefährlich hohen Pfennigabsätzen betrachte das Plakat und seufzte. „Ich wünschte, ich wäre auch so schlank“, sagte sie und blickte missmutig auf ihre ausladenden Hüften. Aber dann würde sie sich von ihrem täglichen Triple Chocolate Mocha verabschieden müssen, und sie wusste, dass sie das nicht überleben würde.
Außerdem, überlegte sie, während sie weiter ging, profitierten ja auch Leute davon, dass sie zugenommen hatte. Schließlich hatte sie ihre ganzen Designerkleider gespendet. Dann hatten die armen Menschen wenigstens etwas, das sie auf schicken Partys anziehen konnten. Denn von Mode hatten die ja leider so gar keine Ahnung. Wie gut, wenn es dann jemanden gab, der dieses Problem beheben konnte. Die Pfadfinder – jeden Tag eine gute Tat – wären stolz auf sie.


Zielsicher steuerte sie auf den Eingang von Peek & Cloppenburg zu, doch dann fiel ihr Blick auf den jungen Mann neben der Tür. Er saß auf einer zerschlissenen Decke, in noch zerschlissenerer Kleidung und hielt ein Pappschild in den Händen, auf das in krakeliger Schrift „Ich habe Hunger, bitte helfen Sie mir“ geschrieben war. Vor ihm stand ein schmuddeliger Kaffeebecher mit ein paar Kupfermünzen darin.
Doch sie sah weder das Schild noch den Becher. Sie hatte nur Augen für sein Gesicht, da so schön war wie das einer griechischen Marmorstatue. Und seine langen Haare, die so perfekt zerzaust waren, dass sie sich genau auf der Grenze zwischen sexy und ungepflegt befanden… Wie viele Stunden er wohl gebraucht hatte, um sie so zu stylen? Nur die Augenringe ließen ihn etwas ungesund aussehen, fand sie, aber der After-Party-Look war ja gerade total angesagt. Sie musste unbedingt seinen Accountnamen wissen!
Entschlossen warf sie den noch halb vollen Kaffeebecher in den nächsten Mülleimer und schritt auf den Mann zu.
„Hallo“, sagte sie laut. Er hob nicht mal den Kopf, sondern starrte mit leerem Blick geradeaus. Sie ging in die Hocke, um ihn besser sehen zu können und achtete darauf, dass ihr Kleid weder knitterte noch zu viel entblößte.
„Entschuldige, dass ich dich so einfach anspreche“, sagte sie mit ihrem schönsten Lächeln, „aber du hast ein wahnsinnig tolles Gesicht. Und diese Frisur!“ Sie unterdrückte den Drang, mit der Hand durch sein Haar zu fahren. „Wie heißt du bei Insta?“
„Hä?“ Der junge Mann sah sie verwirrt aus trüben Augen an.
„Na, Instagram!“ Nun sah sie selbst mindestens genauso verwirrt aus wie er. „Jetzt sag bloß, du hast keinen Account?“
Er sah sie weiter verständnislos an und schüttelte den Kopf.
„Das musst du doch kennen! Das hat doch jeder auf seinem Handy!“ Unglaublich. Als nächstes würde er ihr erzählen, dass er noch nie von Luis Vitton gehört hatte.
„Hab kein Handy“, sagt er und deutete auf sein Schild.
„Kein Handy?“ Sie hatte ja schon von vielen Entbehrungen gehört, aber das war wirklich zu viel. Abrupt stand sie auf. „Warte hier, ich bin gleich wieder da!“
„Ich geh hier schon nich wech“, nuschelte er, aber sie war schon mit klackernden Absätzen davongeeilt. Der Mann zuckte mit den Schultern und starrte wieder auf seinen Becher.


Er hatte sie schon fast wieder vergessen, als sie plötzlich erneut vor ihm stand. Sie hielt ihm eine Saturn-Plastiktüte entgegen und strahlte, als würde sie ihm soeben einen sehr wichtigen Preis überreichen.
„Wie Essen sieht das aber nich aus“, murmelte er, nahm die überraschend schwere Tüte aber trotzdem an sich und warf einen Blick hinein.
„Gefällt es dir?“, fragte sie, als er wieder zu ihr aufsah. Er antwortete nicht.
„Wie er vor Dankbarkeit kein Wort herausbekommt“, dachte sie, „der Gute. Hach!“
„Das ist ein Huawei“, erklärte sie dann. „Ein ziemlich neues Modell, damit kannst du alles machen, vor allem tolle Fotos. Mit SIM-Karte, Flatrate und 20 Euro Startguthaben. Denk nur dran, jeden Monat rechtzeitig aufzuladen.“ Sie deutete auf das Buch, dass er gerade aus der Tüte gezogen hatte. „Und dazu ‚Instagram für Dummies“. Darin steht alles, was du wissen musst.“
„Ääääh“, sagte er, „danke, glaub ich.“
„Ach was, das hab ich doch gern gemacht. Kann ich sonst noch was für dich tun?“
Er hielt ihr wortlos sein Schild entgegen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch eine dampfende Tasse und etwas, das wie ein Apfel aussah, darauf gekritzelt waren.
Sie lächelte nachsichtig. „Das Zeichnen solltest du noch etwas üben, bevor du Bilder davon hochlädst. Bleib lieber erstmal bei Portraitfotos. Ich empfehle den Filter Amarro, der lenkt ein bisschen von deinen Augenringen ab.“ Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrer Visitenkarte und ließ sie in seinen Pappbecher gleiten. „Aber denk dran, mich zu verlinken, ja?“

Mit dem warmen Gefühl, eine weitere gute Tat vollbracht zu haben, ging sie mit wiegenden Hüften davon. Dabei summte sie das Lied, das schon Jesus gesungen hatte: Always look on the bright side of life!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

ThomasQu

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Hallo Angelika84,

starker Text!
Ich dachte beim Lesen an Marie-Antoinette:
Wenn die Leute kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.

Grüße, Thomas
 

Ji Rina

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Habe erst die zwei Absätze in Eile gelesen und viele Stunden später in aller Ruhe den ganzenText. Das ist mal etwas ganz anderes!:) Besonders gefallen hat mir die Dynamik in der Geschichte, die Dialoge und die Protas.Wunderbar gezeichnet: Der Bettler. Und dann auch noch alles in kurz. Ausgezeichnet.:)
 



 
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