Jenseits aller Vorstellungskraft

Ruedipferd

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„Noch einen Kaffee, Schatz?“ Elfie sah den Lebensgefährten besorgt an, als sie ihre Hand zur Kaffeekanne führen wollte. Irgendetwas bedrückte Jochen. Er saß traurig in sich gekehrt am Frühstückstisch und wirkte bekümmert auf sie. Seine Augen erschienen ihr trüb und blickten heute Morgen auf eine sehr merkwürdige Weise durch sie hindurch. Mit seinen Gedanken musste er augenblicklich ziemlich weit fort sein. So kannte sie ihren stets fröhlich und jungenhaft auftretenden Partner gar nicht. Sonst lachte er bereits am frühen Morgen und weckte sie mit lustigen Worten. Aber Jochen mochte nur ungern über Probleme reden. Sie hatte es recht bald bemerkt, nachdem sie sich vor annähernd zwei Jahren zufällig über den Weg gelaufen waren. Elfie wusste nicht sehr viel über ihn, doch das Wenige, das er ihr in den wundervollen gemeinsamen Nächten in ihrer kleinen Bonner Wohnung, wenn sie sich in seine kräftigen Arme schmiegen durfte, erzählte, reichte ihr.
Er war Jahrgang 1938, in Berlin geboren wie sie und als Halbjude 1943 in Ausschwitz bereits dem Tode geweiht gewesen. Dann kamen die Alliierten, er wurde siebenjährig gerettet und zu Onkel und Tante nach Ost-Berlin zurückgebracht. Dort wuchs er auf, machte in der DDR sein Abitur und studierte Elektrotechnik. Als seine Zieheltern kurz hintereinander starben, nutzte er die Gelegenheit und nahm das Angebot eines Freundes zur Flucht an. Im Westen baute er sich ein neues Leben auf und jetzt war auch Elfie Teil dieses Lebens geworden.
An seine schreckliche Vergangenheit erinnerte nur noch die tätowierte Ziffernfolge auf seiner Haut. Z-3421. Nie würde sie diese Nummer und die Tätowierung auf seinem Unterarm vergessen. Man hatte sie ihm in Ausschwitz kurz nach der Ankunft zugefügt. Seine Mutter starb in der Gaskammer. Er wurde zusammen mit anderen Kindern in eine kleine Baracke gepfercht, bekam Tabletten zu schlucken, erhielt Spritzen und musste leichte Stromschläge über sich ergehen lassen. Sie weinte hemmungslos voller Mitgefühl, als er ihr erzählte, auf welch furchtbare Weise unschuldige Kinder im Konzentrationslager drangsaliert und zu unmenschlichen Versuchen missbraucht wurden. Er war der Mann ihres Lebens geworden, nachdem…

Elfie hieß eigentlich Elfriede und wurde 1927 in Berlin geboren. Als der Krieg 1939 begann war sie noch ein kleines Mädchen gewesen. Ihr siebzehnjähriger Freund Heinz meldete sich im Winter 1944 freiwillig an die Front. Sie wurde ebenfalls Siebzehn und wollte auf ihn warten, heiraten und seine Kinder bekommen. Dann erhielt sie ein Schreiben der Wehrmacht. Ihr Heinz war auf den Seelower Höhen, unweit von Berlin von einer russischen Granate zerfetzt worden. Sie schickten ihr seine persönlichen Sachen und auch den letzten, noch nicht an sie abgesandten Brief. Heinz schrieb, wie sehr er sich fürchtete und wie er sie liebte und in den grauenvollen Nächten im Sperrfeuer allein nur durch den Gedanken an sie und ihre gemeinsame Zukunft um sein Leben kämpfen konnte. Danach blieb Elfie allein. Sie beendete ihre Ausbildung als Sekretärin und schaffte es nach etlichen Jahren sogar bis ins Bundeskanzleramt. Der Sechzehnstundentag unter ihrem Chef Kanzler Helmut Schmidt machte ihr nichts mehr aus. Die Arbeit war interessant und dass sie häufig auch am Wochenende arbeiten musste, wurde durch die vielen Dienstreisen, auf denen sie den Bundeskanzler begleiten durfte vollends wieder wettgemacht.
Sie war auch dabei gewesen, als er im London International Institute for Strategic Studies im Jahre 1977 seine ergreifende Rede hielt und von der Nato Gegenmaßnahmen für die von den Russen stationierten und auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 forderte. Das strategische Gleichgewicht war nun nicht mehr gewährleistet und auch der Westen müsste aufrüsten und atomare Sprengköpfe in Europa bereit halten.
Elfie war mit sich und mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden. Sie glaubte, aus ihrem Leben das Beste gemacht zu haben. Sie hatte sich ganz in ihre Aufgaben gestürzt und war Heinz treu geblieben. Einen anderen Mann wollte sie nicht. Es wäre ihr Heinz gegenüber wie Verrat vorgekommen.
Ein paar Monate später ging sie wie immer in der Mittagspause in den angrenzenden Park. Dort am See stand er und fütterte die Enten mit Brotkrumen, die er aus einem Plastikbeutel nahm. Ein gutaussehender Mann, so um die Vierzig, schlank, muskulös, durchtrainiert. Sie konnte sich nicht satt an ihm sehen. Dann drehte er sich um und rutschte aus. Mitten in den See. Sein schicker dunkelblauer Anzug war plötzlich über und über mit Grünpflanzen und Matsch bedeckt. Er sah sie erst hilflos an, begann zu lachen und blickte ihr direkt in die Augen. Sie sprang sofort auf um ihm zu helfen und spürte zum ersten Mal in ihrem Leben wieder eine unerklärliche Sehnsucht nach Nähe und …Liebe.
Natürlich nahm sie ihn gleich mit zu sich in ihre Wohnung, die nur zehn Minuten entfernt vom Kanzleramt lag. Warum sollte sie Angst vor ihm haben? Er trug die Kleidung eines Diplomaten und hatte vielleicht auch gerade Mittagspause, als das Unglück geschah. Er wusch sich bei ihr und dann rief er einen Freund an, der ihm frische Kleidung aus seiner Wohnung brachte. Sein Name war Jochen Krüger. Er arbeitete für den BND und durfte ihr nichts von seiner Dienststelle erzählen. Aber das hielt sie für selbstverständlich. Elfie gehörte ja als eine der engsten Sekretärinnen des Kanzlers ebenfalls zu den Geheimnisträgern. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er fragte sie nie nach ihrer Arbeit und auch sie sprach ihn nicht auf seinen Job an. Die wenigen Stunden und Nächte gehörten nur ihnen beiden allein und Elfie genoss das Leben an Jochens Seite. Sie blühte förmlich auf und musste doch immer öfters Akten mit nach Hause nehmen, weil sie für zusätzliche Überstunden im Büro kaum noch Zeit hatte. Er schüttelte missbilligend den Kopf, half ihr aber so fleißig beim Diktat, dass sie dachte, er wäre der Kanzlersekretär und nicht sie und danach lagen sie wieder engumschlungen im Bett. Sie dachte auch ans Heiraten, wagte jedoch noch nicht, ihn darauf anzusprechen.

Elfie spürte seit kurzem eine unerklärliche Veränderung in Jochens Wesen. Er sah seit einiger Zeit immer öfter blass und abwesend aus. Vielleicht war es die Witterung, dachte sie. Es war Februar und das nasskalte Wetter setzte auch ihr zu. Sie hatten in den letzten Wochen vor Weihnachten obendrein sehr wenig voneinander gehabt. Elfie musste viel arbeiten. Der sogenannte Nato-Doppelbeschluss, an dem der Bundeskanzler maßgeblich beteiligt war, konnte nun endlich unter Dach und Fach gebracht werden. Aber es gab unzählige Demonstrationen und auch in den eigenen Reihen regte sich Widerstand. Sogar die Koalition drohte zu zerbrechen. Als Kanzleramtssekretärin stand sie an vorderster Front und erlebte die Spannungen, unter denen ihr Chef zu leiden hatte, hautnah mit. Jochen war dabei wohl etwas zu kurz gekommen. Am 12.12. des letzten Jahres wurde der Beschluss nun endlich gefasst und es ging langsam wieder etwas ruhiger an ihrem Arbeitsplatz zu.

„Schatz? Jochen, kann ich dir helfen? Liebling, sag doch etwas!“ Elfies Stimme klang schriller als sonst. Irritiert schaute er auf und langsam begannen seine Wangen wieder Farbe anzunehmen. „Was meinst du? Kaffee, nein danke, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur einen schweren Fall zu lösen.“ Elfie atmete erleichtert auf. Er warf ihr einen liebevollen Blick zu und doch lag dieses Mal ein geheimnisvoller Hauch von Melancholie darin. „Warte bitte nicht auf mich. Es wird wahrscheinlich sehr spät.“
Er nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich und sehr fest auf den Mund. Sie erschrak, zitterte, wie bei Heinz, jagte es ihr durch den Kopf. Dann war er schon zur Türe hinausgegangen und Elfie räumte wie gewöhnlich den Tisch ab.

Als er am Abend nicht nach Hause kam, dachte sie sich noch nichts dabei. Am Morgen war sein Bett unberührt geblieben. Sie rief besorgt bei seinen Kollegen an. Niemand wusste etwas. Auf der Arbeit telefonierte sie mit dem BND. Auch in seiner Abteilung konnte ihr keiner sagen, wo er war. Am späten Abend ging sie voller Angst zur Polizei. Dort beruhigte man sie. Aber Elfie sollte ihnen ein Foto abgeben und der freundliche Polizist würde in den Krankenhäusern der Umgebung nachfragen.
Einen Tag später wurde sie gegen Mittag zum Bundeskanzler gerufen. Herr Schmidt hatte Besuch. Zwei Kriminalbeamte wollten mit ihr sprechen. Sie brachten Elfie nach Hause, zeigten ihr einen Hausdurchsuchungsbeschluss und packten seine Sachen ein. Sie fanden auch einige Akten, an denen sie gerade arbeitete. Sie wurde zum Verhör mitgenommen. Was dann geschah, kann ein Außenstehender nur noch als Albtraum bezeichnen.
*
Fast ein halbes Jahr war inzwischen vergangen. Jochen hatte sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Kripobeamte und der Staatsanwalt waren die einzigen Besucher. Auch einen Rechtsanwalt hatte man ihr geschickt. Elfie verstand nicht, was man von ihr wollte. Jochen war verschwunden. Vielleicht war ihm etwas Schlimmes passiert und die Polizei hatte nichts Besseres zu tun, als sie über ihre Arbeit zu befragen. Man teilte ihr mit, dass sie vorerst vom Dienst suspendiert wäre. Elfie verstand die Welt nicht mehr.
Sie trug heute wieder das graue Kostüm und die weiße Bluse mit den goldenen Knöpfen dazu, welches sie am Tag ihrer Verhaftung angezogen hatte. Sie durfte sich Kleidung und einige persönliche Gegenstände einpacken.

Elfie blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Nach einer Weile sähe man die Gitter davor nicht mehr, hatte ihr eine Mitgefangene erklärt, als sie ihr das Essen brachte. Sonst durfte sie keine Kontakte zu den anderen Insassinnen des Frauengefängnisses haben. Der Hof lag wie immer trist und leer. Ein wenig Rasenfläche war alles, was den Häftlingen innerhalb der hohen Mauern mit dem Stacheldraht auf der Krone beim Hofgang blieb. In den gegenüberliegenden Zellen waren manchmal Personen zu sehen. Mit einigen hatte sich Elfie mittels Zeichensprache sogar verständigen können. Jana musste zehn Jahre wegen Totschlags an ihrem Mann absitzen, der sie in betrunkenem Zustand ständig verprügelte. Und Anna erschlug im Streit ihren Zuhälter. Elfie saß jetzt seit sechs Monaten in Untersuchungshaft.
Auf dem Flur kamen Schritte näher. Ihre Tür wurde aufgeschlossen.
„Sind Sie bereit?“ Die blonde Vollzugsbeamtin in der blauen Uniform ließ ihren Blick routinemäßig über Elfie und durch ihre kleine Zelle wandern. „Ja“, antwortete die fast dreiundfünfzigjährige Frau kaum hörbar und wandte sich langsam dem Ausgang zu. Ihr Haar hatte in den letzten Monaten einen starken Grauschimmer angenommen. Elfie war sich immer noch keiner Schuld bewusst. Ihre Hände wurden nun mit zwei Stahlringen gefesselt, als sie die Beamtin ins Auto setzte.

Dann erlebte sie sich im Gerichtssaal auf der Anklagebank. Sie musste sich wieder erinnern. Wie sie ihn kennengelernt hatte, wollte der Richter in der Verhandlung wissen. Elfie erzählte. Von ihrer Jugend, ihrem Heinz, den Seelower Höhen und von Jochen. Vom KZ und seiner Tätowierung, den Qualen, die er als Kind erleben musste.
Ob sie denn wirklich so naiv geglaubt habe, dass er sie tatsächlich liebte, wo er doch um so viel jünger als sie gewesen sei, wurde sie vom Staatsanwalt gefragt. Sie blickte in den Zuschauerraum. Einige der jüngeren Zuhörer verzogen etwas die Mundwinkel. Sie lachen mich aus, dachte sie traurig. Nein, sie war sich sicher gewesen, dass er es ernst gemeint hätte, erklärte sie mit fester Stimme. Und überhaupt, warum man ihn beschuldigte. Sie beide hätten doch nichts Unrechtes getan.
Ob sie wüsste, was ein Romeo wäre, setzte der Staatsanwalt nach. Elfie verneinte. Es waren Männer, die von der DDR Regierung ausgebildet wurden und sich gezielt an alleinstehende Sekretärinnen in Bundesbehörden heranmachen sollten. Elfie empörte sich. Aber doch nicht ihr Jochen! Der Richter erklärte es ihr. Die Beweislage war eindeutig. Inzwischen hatte auch der BND festgestellt, dass Jochen Krüger ein Ostagent war. Was sie von seiner Familie wusste, wurde sie gefragt. Elfie antwortete wahrheitsgemäß. Sie erfuhr, dass der Mann, den sie über alles liebte, ein Geflecht aus Lügen aufgebaut hatte und auf sie angesetzt worden war. Jeder Schritt, der ihn an sie heranführen würde, wurde akribisch von seinen Vorgesetzten, man nannte sie Führungsoffiziere, geplant. Seine Zieheltern waren nicht tot, sondern würden an hoher Stelle im Ministerium für Staatssicherheit arbeiten. Elfie saß starr auf der Anklagebank. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Sie sah den Richter flehend an. Er hatte Mitleid mit der Frau, die nicht einmal leichtfertig auf diese perfide Masche hereingefallen war. Aber er musste Recht sprechen. Das war seine Aufgabe und die Frau hatte bewusst oder nicht, Staatsgeheimnisse verraten. Es waren Dokumente darunter gewesen, die im Nato-Doppelbeschluss auf höchster Ebene verhandelt worden waren und niemals in die falschen Hände geraten hätten dürfen. Krüger, natürlich war dies nicht der richtige Name, wurde rechtzeitig vor seiner Enttarnung gewarnt und nach Ostberlin zurückbeordert. Man würde ihn im Westen nie zur Rechenschaft ziehen können.
Ob sie wusste, dass sie keine Akten mit nach Hause nehmen durfte und welche Brisanz das Material hatte, welches sie bearbeiten musste? Elfie begann langsam zu verstehen. Sie hatte einen Fehler gemacht. Es war nicht ihre Sehnsucht nach Wärme, Zärtlichkeit und Liebe, die in seinen Armen gestillt wurde. Sie selbst hatte Schuld auf sich geladen, als sie die Akten mit nach Hause nahm und ihm so zugänglich machte. Eine letzte Frage hätte sie noch:
Was war mit der Tätowierung auf seinem Arm? Die Nummer auf seiner Haut? War auch die tragische Geschichte seiner Kindheit nur eine Lüge?
Nein, antwortete der Richter. Die Tätowierung wäre echt. Jochen war wirklich in Ausschwitz knapp dem Tode entronnen. Daraufhin lehnte sich Elfie lächelnd zurück. Sie hatte einen Fehler gemacht. Und sie war ein zweites Mal das Opfer eines Unrechtsstaates geworden. Heinz starb im Kugelhagel der Roten Armee. Sie hatte an ihrer großen Jugendliebe festgehalten und wurde so eine leichte Beute für die Staatssicherheit der DDR. Und Jochen oder wie immer er auch hieß, war im Grunde nicht nur seiner Kindheit beraubt. Konnte man sich wirklich so verstellen? Konnte man zwei Jahre lang einer Frau Liebe vorheucheln, mit ihr schlafen, ohne Gefühle? Elfie war sich sicher, ein Quäntchen Liebe musste dabei gewesen sein. Er hatte ihr die schönsten Jahre ihres Lebens geschenkt und nun alles wieder verloren. Heinz und Jochen hatten viel mehr durchmachen müssen, als das, was sie jetzt erwarten würde. Sie wurde nicht bestraft, weil sie auf einen gemeinen Trick hereingefallen war, sondern weil sie Akten mit nach Hause genommen hatte, die nur im Kanzleramt im Safe aufbewahrt werden durften. Sie wurde nicht für ihre Liebe bestraft.

Elfie lächelte und stand gefasst zur Urteilsverkündung auf. Sie sah selbstbewusst in den Zuschauerraum.
Die Angeklagte Elfriede Schrader ist schuldig des Landesverrats in mindestens sechs Fällen, davon in einem besonders schweren Fall. Sie wird deshalb zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, hörte sie im Urteilsspruch.
Hach, mein Leben war doch schon ein einziges selbst gewähltes Gefängnis, bis ich Jochen kennenlernte, dachte sie. Ich werde es überleben. Und ich sollte ihm verzeihen. Wir sind doch beide Opfer einer mörderischen Politik und menschenverachtender Systeme geworden. Ob wir einander je wiedersehen? Ich wünsche dir alles Gute Jochen.

Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten US Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den INF Vertrag, der den Abbau aller Mittelstreckenraketen in Europa vorsah. In den Folgejahren sagten sich die ehemaligen Ostblockstaaten von Moskau los. Die UDSSR brach auseinander und am 09. November 1989 öffnete sich endlich wieder die trennende Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland.

Die Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der DDR. So recht wollten sie es nicht glauben. Die Grenze zur BRD sollte auf sein. Man könne ungehindert von Ost nach Westberlin reisen und zurück. Auch in der Strafanstalt Bautzen grassierte das Gerücht. David Tessmann war neugierig geworden. Er saß nun schon seit vier Jahren ein. Früher hatte er mal für die Staatssicherheit gearbeitet, aber dann wurde ihm ausgerechnet sein letzter Auftrag zum Verhängnis. Er sollte im Westen unter einem Decknamen in höchsten politischen Kreisen spionieren. Alles war genauestens geplant. Eine Kanzleramtssekretärin wurde ausgeguckt und der Köder für die alleinstehende Fünfzigjährige ausgelegt. David war dieser Köder und er dachte sich nichts dabei, als er den Auftrag ausführte. Doch die Sache hatte einen Schönheitsfehler. Er verliebte sich in die Frau, die doch nur ein Job wie jeder andere für ihn darstellen sollte. Doch schon bald sandte er nur noch fehlerhafte Informationen nach Ostberlin und als dann der Rückruf kam, musste er sie schweren Herzens verlassen. Nicht einmal die Wahrheit konnte er ihr erzählen. Zu Hause bemerkte zunächst niemand etwas. Er war fest entschlossen und arbeitete fast ein Jahr lang an einem ausgeklügelten Fluchtplan. Alles hatte Hand und Fuß. Und dann war es seine eigene Tante gewesen, die ihn anzeigte. Die Schwester seines Vaters, bei der er aufwuchs, nachdem der Vater im Krieg gefallen und die Mutter in Ausschwitz umgekommen war. Ihn hatte man mit einer Nummer auf dem Unterarm in letzter Minute vor der Vergasung gerettet. Die Frau, die er als seine Mutter betrachtete, verriet ihn an die Stasi. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie sah ihn nicht mehr an und besuchte ihn auch nicht. Davids Gedanken waren bei seiner Elfie. Und nun sollte angeblich die Grenze auf sein. Als er Anfang Dezember wieder in seinen persönlichen Sachen vor dem Gefängnistor stand, rannen ihm Tränen übers Gesicht. Sie hatten alle politischen Häftlinge freigelassen. David wollte nur noch eines: Wissen, wie es ihr ging. Er hatte sie seit damals, als er Hals über Kopf aus Westdeutschland fliehen musste, weder gesprochen, noch sonst etwas über sie erfahren. Als er endlich den Hörer nahm und ihre Nummer wählte, kamen ihm Zweifel. Würde sie ihn nach so langer Zeit noch anhören?

Er bekam tatsächlich ein Freizeichen. Doch am anderen Ende meldete sich eine fremde Frauenstimme. Wo Frau Schrader wäre, fragte er. Das wisse sie nicht, er solle es mal beim Meldeamt versuchen. Ihre Freundin Martha, schoss es ihm durch den Kopf. Mit zitternder Hand blätterte er die Seiten in seinem alten abgewetzten Notizbuch um.
„Martha, hier ist Dav, Jochen. Kannst du mir sagen, wo ich Elfie finde?“ Es war still am anderen Ende. „Weißt du es nicht? Sie hat wegen dir drei ganze Jahre im Knast gesessen und ihren Job ist sie auch los. Aber sie hat mir gesagt, dass sie dir verzeiht. Verstehen kann ich sie nicht. Hast du einen Stift? Hier ist ihre Nummer. Sie lebt in Hamburg.“

Dann wählte er noch einmal. „Schrader.“ Er wagte erst nichts zu sagen, aber dann stammelte er: „Elfie, ich bin es, Jochen. Bitte, liebe Elfie, vergib mir. Ich habe dich so geliebt, aber sie waren stärker.“ Eine warme vertraute Frauenstimme antwortete ihm aus der Leitung. „Wo bist du?“ „Noch in Berlin, wenn du es willst, nehme ich den nächsten Zug nach Hamburg.“

Ein paar Stunden später lagen sich zwei Menschen auf dem Bahnhof in Altona weinend in den Armen. „Ich habe immer an dich geglaubt und gewusst, dass du mich genauso liebst wie ich dich. Die Politik vermag viel. Sie kann trennen und wieder zusammenführen. Aber eines kann sie nicht: Uns unsere Liebe nehmen!“ Elfie sah ihrem Jochen in die verheulten Augen. „Wie heißt du denn nun wirklich?“
„David, David Tessmann. Und ich hoffe, du auch bald, wenn wir endlich verheiratet sind.“
 



 
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