Jenseits der Farben

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rubber sole

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Eine besondere, fast magische Stimmung auf einem Waldspaziergang im Spätsommer. Man spürt eine leichte Melancholie in der Luft, erste Hinweise, dass der Sommer sich seinem Ende zuneigt. Die Natur befindet sich bereits in einem stillen, farblich sanften Übergang. Sonnenflecken flimmern wie ein geschecktes Muster auf dem Waldboden, die Umgebung wirkt beruhigend und gleichzeitig inspirierend auf den Fotografen, der hier sein Motiv sucht. Der Blick geht dabei durch das grüne Dickicht abseits des Weges. Wenige Schritte voraus erkennt er einen älteren Mann, der ihm entgegenkommt, der Kleidung nach ist es jemand, der sich häufig in der Natur aufhält. Sie kommen ins Gespräch und er stellt sich als Fotograf vor, auf der Suche nach dem Motiv eines Sonnenuntergangs an einem Waldsee, den er hier in der Nähe vermutet. Sein Gegenüber bestätigt, dass er nicht weit entfernt solch einen Platz kennen würde. Es wäre einer seiner Lieblingsplätze, erklärt er dem Fotografen und bietet an, ihn dort hinzuführen. Der Fotograf willigt ein, er folgt dem Mann durch das Unterholz tiefer in den Wald hinein. Und dann sieht er es, das Ufer eines kleinen, versteckten Sees, in dessen glatter Oberfläche sich die Bäume des Waldes spiegeln.

Inzwischen steht die Sonne bereits tief am Horizont, und das milde Licht, das durch die Baumkronen fällt, malt ein einzigartiges Schauspiel aus Farben auf den See. Der Fotograf hält den Atem an. Das ist das Bild, der perfekte Moment des Stands der späten Sonne über dem See, genau solch ein Motiv hatte er zu finden gehofft. Er greift zu seiner Kamera, wählt unterschiedliche Einstellungen, er fotografiert in Serie, aus verschiedenen Perspektiven, Bild für Bild, fast wie im Rausch. Anschließend bedankt er sich bei seinem Begleiter und sie verweilen noch einige Zeit auf einem umgestürzten Baumstamm, um das farbige Schauspiel zu genießen. Kurz darauf verabschiedet sich der Alte und der Fotograf lehnt sich zurück, lässt alles noch einmal auf sich einwirken. Dann verstaut er seine Ausrüstung und macht sich auf den Rückweg. Ein letzter Blick auf die spektakuläre Szenerie am abendlichen See im verblassenden Licht, er kann sich nur schwer von dem Bild lösen. Die sich ständig verändernden Farben haben ihn gepackt, er hält den Sonnenuntergang über dem See intensiv in seinem Gedächtnis fest.

Später zurück in seiner Unterkunft. Bei Durchsicht der Bilder auf dem Display fällt ihm sofort etwas auf. Statt der leuchtenden Farben, die er so effektvoll eingefangen hatte, sind alle Aufnahmen in Schwarzweiß - er hatte in der Einstellung seiner Kamera versehentlich die Option Monochrom gewählt. Zuerst macht sich große Enttäuschung bei ihm breit, denn es war ja gerade die Farbigkeit, die den magischen Moment für ihn lebendig erscheinen ließ. Als er genauer hinsieht, erkennt er eine andere, die wahre Magie seiner Bilder. Ohne die Ablenkung durch Farben entfalten die Aufnahmen eine ganz neue Intensität, die Kontraste zwischen Licht und Schatten wirken auf dramatische Weise anders. Die Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Baumkronen fallen, hatten ursprünglich eine fast übernatürliche Strahlkraft, die in Schwarzweiß jetzt noch intensiver, markanter erscheinen, als eine farbige Darstellung es darstellen kann. Die Textur des Wassers, die feinen Details der Blätter, das Spiel der Wolken am Himmel, all das gewinnt eine faszinierende Tiefe der Bilder. Es ist, als hätte erst die Schwarzweißdarstellung die eigentliche Essenz dieses Moments eingefangen, die Seele des Augenblicks freigelegt. Und es scheint, die Bilder erzählen eine Geschichte, die weit über die Farben hinausgeht, ein Ausdruck von zeitloser Ruhe und Stille.

Der Fotograf sitzt noch lange so da, und ihm wird klar, dass er das ultimative Bild tatsächlich gefunden hat. Nicht im perfekten Sonnenuntergang voller leuchtender Farben, sondern in der schlichten, kraftvollen Darstellung der Welt in Schwarz und Weiß, eine Ästhetik, die entsteht, wenn man etwas auf sein Wesentliches reduziert.
 

Ubertas

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Hallo @rubber sole ,
das finde ich wunderschön. Wäre nur jeder ein einziges Mal im Wald gewesen und gefangen von dessen Stimmung - alle Farben wären überflüssig.
Ein sehr gelungenes Echo. Ganz toll!
Lieben Gruß, ubertas.
 

lietzensee

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Hallo rubber sole,
mir gefällt der der Text auch gut. Ich finde den Gedanken klasse, dass Schwarz-Weiß manchmal mehr als bunt zeigt. Der ist auf jeden Fall eine Geschichte wert. Bei der Formulierung des Textes könnte man an einigen Stellen noch feilen. Ich schreib einfach mal runter, über was ich gestolpert bin. Vielleicht hilft dir Manches davon weiter.

An mehreren Stellen reihst du Adjektive aneinander. Im Schreibfluss ist man schnell verführt, Beschreibungen aufzulisten, um aufs Papier zu bringen, was man im Kopf hat. Aber es ist immer gut, danach noch mal kritisch auszusortieren. Je weniger Adjektive, desto mehr kann jedes einzelne wirken.
Eine besondere, fast magische Stimmung
Wenn eine Stimmung fast magisch ist, dann steckt das für mich schon drin, dass sie auch besonders ist. Und warum das Magische eigentlich mit "fast" einschränken?

ein Ausdruck von zeitloser Ruhe und Stille.
In der Ruhe steckt die Stille schon mit drin.

Die Natur befindet sich bereits in einem stillen, farblich sanften Übergang.
auch hier, würde ich mich für eines von beiden Adjektiven entscheiden. Wobei ich "farblich sanft" besser finde als das leicht klischeehafte "still"

Die Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Baumkronen fallen, hatten ursprünglich eine fast übernatürliche Strahlkraft, die in Schwarzweiß jetzt noch intensiver, markanter erscheinen, als eine farbige Darstellung es darstellen kann.
Auch bei intensiver, markanter würde ich mich für nur eins entscheiden. Wenn du die Strahlkraft schon im ersten Halbsatz als "fast übernatürlich" bezeichnest, wirkt es auf mich auch etwas dick aufgetragen, dies im zweiten Teilsatz noch mal zu steigern. Noch intensiver als fast übernatürlich, wäre das dann ganz übernatürlich?

Sie kommen ins Gespräch und er stellt sich als Fotograf vor, auf der Suche nach dem Motiv eines Sonnenuntergangs an einem Waldsee, den er hier in der Nähe vermutet. Sein Gegenüber bestätigt, dass er nicht weit entfernt solch einen Platz kennen würde. Es wäre einer seiner Lieblingsplätze, erklärt er dem Fotografen und bietet an, ihn dort hinzuführen. Der Fotograf willigt ein,
Der erste Satz ist sehr lang und schwer zu durchdringen. Meiner Meinung nach ist der Teil "den er hier in der Nähe vermutet." auch überflüssig. Er würde den See nicht suchen, wenn er ihn nicht in der Nähe vermuten würde. Auch die restliche Beschreibung finde ich etwas umständlich ausgedrückt.


Das ist das Bild, der perfekte Moment des Stands der späten Sonne über dem See, genau solch ein Motiv hatte er zu finden gehofft.
"Perfekte Moment des Standes der Sonne" ist eine komische Formulierung. Der Satz ist mir auch zu lang. "genau solch ein Motiv hatte er zu finden gehofft." Der Leser weiß doch, wonach der Fotograf sucht. könnte man den Teilsatz nicht weglassen?


Mein letzter Punkt ist Geschmackssache, aber ich finde das Ende des Textes übermäßig auserzählt. Dass die Bilder in Schwarz-Weiß noch besser wirken, ist ein sehr starker Wendepunkt. Der Gedanke wird dann so breit ausgewalzt, dass er fast schon wieder ermüdet. Ich denke, hier kannst du deinen Lesern mehr zutrauen. Sie begreifen die Pointe auch, wenn sie nicht bis ins letzte Detail ausbuchstabiert wird.
Den letzten Absatz könnte man meiner Meinung nach ohne Verlust weglassen. Im Hinblick auf den Inhalt des Textes ist das fast von einer Ironie dieser Geschichte.
Der Fotograf sitzt noch lange so da, und ihm wird klar, dass er das ultimative Bild tatsächlich gefunden hat. Nicht im perfekten Sonnenuntergang voller leuchtender Farben, sondern in der schlichten, kraftvollen Darstellung der Welt in Schwarz und Weiß, eine Ästhetik, die entsteht, wenn man etwas auf sein Wesentliches reduziert.
Viele Grüße
lietzensee
 

rubber sole

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Hallo Ubertas,
da stimme ich dir zu, die Natur, ganz besonders der Wald, aktiviert unsere Sinne, Emotionen werden hier u. a. von Farben stimuliert. Dies kann durch Reduzierung auf das Wesentliche, gerne auf Schwarzweiß fokussiert, bewegende Eindrücke verschaffen. Danke für deinen werschätzenden Kommentar und für die Wertung.
Gruß von rubber sole
 
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rubber sole

Mitglied
Danke für deine Anregungen, lietzensee, ich werde sie wohlwollend memorieren, einige davon vermutlich berücksichtigen - allein schon wegen der möglichen gezielteren Wirkung. Tatsächlich geschieht es, dass im Eifer einer engagierten Niederschrift Häufungen von Adjektiven auftauchen. Klar, dies sollte Grenzen haben,
Gruß von rubber sole
 



 
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