Jetzt

5,00 Stern(e) 5 Bewertungen
In meiner Sprache gibt es viele Namen.
Für das Licht: Mutter, die Wärme in Hand und
Auge. Vater, das Blau im Feuer.
Angst, die flackernde Kerze
im Fenster bei Nacht.
Kuss, erster Funken
und letzter.

Die Kühle des frühen Morgens ist für mich ein Geschöpf
des Waldes. So wie die Stille zwischen zwei Atemzügen,
die Blaubeerenfrau vor dem Einkaufszentrum,
der Baumgeist im Gelächter der Kinder. Das Seufzen
und sein Schweigen. Der Augenblick, der die Erinnerung
vergisst. Die Erinnerung, die nur im Augenblick
lebt.

Sie leben miteinander wie Licht und Schatten. Sie
sind immer diesseitig und immer auch jenseitig.
Wie das Streben des Menschen und seine Wurzeln
im Licht. Das Anfassen, das Loslassen und das
Begreifen. Sie haben keinen Anfang und kein Ende
und sind doch begrenzt wie die Sprache und ihre
Namen für das Licht und die Wälder und die Berührung.
Jetzt.
 

Marcson

Mitglied
Hi Dionysos,
mir gefällt das sehr von der Stimmung her, die Bilder, die in diesem Prosagedicht (?) entstehen. Innerlich bin ich bei wiederholtem Lesen unsicher, ob da nicht auch noch mehr Verdichtung (oder eher Kürzung) möglich wäre, und was das mit dem Gedicht machen würde. Als Beispiel meine Lieblingsstelle:
"Die Kühle des frühen Morgens ist für mich ein Geschöpf des Waldes." Toll!
Und doch lande ich auch hier:
Die Kühle des Morgens ist ein Geschöpf des Waldes.
Oder sogar ohne das "ist". Durch so eine Reduktion bekäme das noch mehr Halt und Kraft für mich.
Ich verstehe aber auch, wenn das keine Option für dich ist - ich kann den Text auch sehr wertschätzen, so wie er da steht. Vielleicht ist es trotzdem interessant für dich, was bei mehrmaligem Lesen in mir vorgeht.
Sehr gerne gelesen!
LG Marc
 

sufnus

Mitglied
Hi Dio!
Oja... das ist inspiriert und inspirierend! Ähnlich wie Marc würd ich (das wundert Dich jetzt nicht) es etwas knapper halten und selbstedend entspricht Dir die etwas großzügigere und ausgedehntere Form weitaus mehr. :)
Ganz besonders hinweisen möchte ich auf eine Stelle, die womöglich gar etwas polarisierend sein könnte (die ich aber ganz besonders mag): Das ist die, eine gewisse stimmungsmäßige Bruchlinie herbeiführende Blaubeerenfrau in Tateinheit mit dem Einkaufszentrum.
Klingt die Frau noch - zumal nach der Gestimmtheit der vorangehenden Zeilen - wie eine Märchenfigur, eine Art Waldfee vielleicht, so wird dieser Eindruck dann spätestens mit dem Einkaufszenter weggewischt. Und dann kehrst Du doch, ohne mit der Wimper zu zucken, wieder zum hohen Ton zurück und da ist auch schon das Märchen am Start und hält einen Baumgeist parat. Du bist mir ja einer! :)
LG!
S.
 
Hi @Marcson

herzlichen Dank für die Beschäftigung mit dem Text. Du sprichst einen sehr wichtigen Punkt an, der mir häufig nahgelegt wird: Die Verdichtung im Sinne der Konzentration, Verkürzung etc. In diesem Zusammenhang schreibst, Du, dass die Reduktion für Dich mehr "Halt und Kraft" bekäme. Das ist ein interessanter Punkt, den ich gerne etwas beleuchten möchte (um im Bild des Gedicht-Lichts zu bleiben). Wenn ich die Texte so beschaue, die sich aus mir herausschreiben, dann haben sie oft etwas mit komplexere Gedanken zu tun, kreisen um Themen der spirituellen Individuation, betonen die Individuatlität des Einzelnen und die Subjektivität, Selbstenfaltung. Dem wird die sehr verkürzte Dichtung (im Sinne der Reduktion) für mich dann häufig nicht hinreichend gerecht. insofern bin ich selber sicherlich mehr dem Ideal der Romantiker und der Aufklärung verbunden und kein großer Freund des "Einkochens" oder "Reduzierens". Allerdings hängt die Verkürzbarkeit (ohne den Geschmack, die Stimmung oder die Glaubhaftigkeit zu verlieren) für mich auch sehr vom Thema ab.

Wobei ich auch durchaus auch gerne verdichteter darstelle, wenn alles zB auf einen klar begrenzbaren Punkt hinauslaufen soll. Etwa in meinem Gedicht "Nach Dir":

Mein Seufzen hat sich in Deinem Augenlicht verfangen
Du scheuchst es kichernd in den schweren Wein.
Dein dunkelblaues Schauen lässt mich bangen!
Nach Dir wird alles anders sein


Der Text oben, über den wir hier sprechen, ist für mich ein bisschen wie ein Interview im "Vorbeigehen" und er hat nicht den einene Punkt auf den alles hinausläuft (für mich). Er vermittelt (in meiner Sicht) uns einige interessante Informationen darüber, wie das LI die Welt sieht, hat aber noch genug Offenheit, um zu spiegeln und zurückzuwerfen. Ich finde aber Deinen Hinweis und wie es in Dir wirkt sehr interessant und meine in Deiner Reduzierung eine Verstärkung des Effekts der reinen Bilderwelt feststellen zu können, die einen ganz eigenen Reiz hat und möglicherweise daraus sogar ein ganz neues, anderes Werk machen würde.

@sufnus es ist sehr interessant, dass Du bei der Blaubeerenfrau eine stimmungsmäßige Bruchlinie siehst, die sich durch das Hinzutreten des Einkaufszentrums ergibt. Sie wird den Geschöpfen des Waldes zugerechnet im Text aber nicht "per se", sondern gerade in ihrer Verortung vor dem Einkaufszentrum. Darin könnte einerseits eine Torwächterin angedeutet sein, die die Reise in die Wunschbefriedigung (Gang ins Einkaufzentrum) verwandelt oder herausfordert, es könnte aber auch ein Einbruch der kreativen Welt in die reaktive (Konsumwelt) bildlich angedeutet werden. Insofern das kreative Momentum (Licht,Wald,Wärme,Flamme) dem passiven, Konsummoment (Einkaufszentrum, Bregrenzungen) in diesem Kulminationspunkt gegenübergestellt wird, wird in der Tat eine Polarisation oder ein Bruch fühlbar, der aus verschiedenen Perspektiven die Bedeutung des Moments, des "Jetzt" erweitert, heiligt oder sich an ihm versündigen kann. Letztlich ist der Text für mich ein Aufruf zum Spiel, zum Leben im Moment, zur Hingabe an den Moment und der Versuch einer spielerischen Darstellugn der Mystik des "Jetzt" (das schon wieder vorbei ist, während ich noch schreibe...)

Merci für eure Inspiration und Gedanken !

mes compliments

Dio
 
Zuletzt bearbeitet:

Tula

Mitglied
Hallo Dio
Das ist auch meine Lieblingsstelle!

Ich würde es nicht kürzer machen. Ich überlegte ebenfalls, ob das Einkaufszentrum wirklich passt. Ich kan zu einem eindeutigen 'Ja!'. Man muss eben auch träumen können, und sei es in einer stinknormalen städtischen Betonwüste. Blaubeerfrauen und Baumgeister gibt es überall. Man muss sie nur sehen wollen :)

LG
Tula
 
Hallo Dio
Das ist auch meine Lieblingsstelle!

Ich würde es nicht kürzer machen. Ich überlegte ebenfalls, ob das Einkaufszentrum wirklich passt. Ich kan zu einem eindeutigen 'Ja!'. Man muss eben auch träumen können, und sei es in einer stinknormalen städtischen Betonwüste. Blaubeerfrauen und Baumgeister gibt es überall. Man muss sie nur sehen wollen :)

LG
Tula
Lieber Tula,

das hast du sehr schön gesagt und so viele Weisen din Bilder zu lesen (und zu verkürzen) und sie sind alle inspirierend und „richtig“. Ich finde treffender, als Du es zum Ende Deines Kommentars gesagt hast, kann man den Aufruf, sich die Kindlichkeit bei allem Ernst in der Welt in jedem wichtigen „Jetzt“ zu erhalten doch gar nicht formulieren !

mes compliments

Dio
 



 
Oben Unten