Jimmy verdaut Welt

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Pinky

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Trübe stand der Mond über der Stadt, nur wenige Sterne funkelten. Staubige Nebelschwaden senkten sich langsam und hinterließen ein bedrückendes Gefühl. Die Stadt schlief.
Nur im Norden, vor einem alten Lagerhaus, trat ein Fuß in eine ölige Pfütze.
Ein Schatten verharrte. Das Lagerhaus war schon lange verlassen, aufgegeben, um es den Spuren der Zeit zu überlassen. Die Eisenträger waren verrostet, Fensterscheiben zerbrochen, da und dort lag aufgestapelter oder zusammengewehter Müll und Unrat, ein radloser Gabelstapler zeugte von einstiger Tätigkeit. Der Maschendrahtzaun war an den wenigen Stellen, an denen er noch stand, eingedrückt, doch die Zeiten, in denen hier ein Wachmann seine Runden zog, waren ohnehin schon lange vorbei. Eine einzelne, halb blinde Flutlichtlampe hüllte die Szene in kränkliche Dämmerung.
Der Schatten setzte sich in Bewegung und der Fuß hob sich aus der Pfütze. Der Schuh daran war mitgenommen und schmutzig und nun troff er vor altem Maschinenöl. Sein Besitzer schien sich daran nicht zu stören. Mit wachsamem Blick ging er über das Gelände, die Hand stets bereit am Gürtel. In Zeiten wie diesen konnte man nie ganz sicher sein; Gesindel trieb sich nachts in der Stadt herum. Er zum Beispiel.
Das Tor zum Lagerhaus stand weit offen - es war schon lange eingerostet - und die Gestalt trat ein. Vergessene Kisten stapelten sich hier zwischen nie abgeholten Containern und formlose Pakete füllten die Regale, oftmals aufgerissen und liegengelassen wenn nichts Interessantes darin war. Das Lagerhaus schien heute interessanter zu sein als zu der Zeit, in der es noch in Betrieb gewesen war. Wertsachen waren hier jedenfalls nie gelagert worden, und wenn, dann hatte man sie schon längst geplündert. Irgendwo tropfte Wasser oder irgend eine andere Flüssigkeit herab und verursachte in den schweigenden Hallen ein ungewöhnlich lautes, hohles Geräusch. Etwas kratzte, scharrte und huschte dann mit schnellen, tapsigen Schritten ins Dunkel davon. Die Gestalt achtete auf all das nicht sondern ließ ihren Blick weiter achtsam durch das düstere Zwielicht des Gebäudes schweifen bevor sie einen Fuß vor den anderen setzte und tiefer vordrang. Auch die Geräusche ihrer Stiefel hallten seltsam hohl zwischen den Wänden wider und vermischten sich mit den schwach hereinwehenden Geräuschen der schlafenden Stadt.
Doch auch darauf achtete die Gestalt nicht während sie immer weiter ging, der Blick nach links und rechts wandernd, nach vor und zurück, ja sogar nach oben, zwischen das Gewirr aus Stahlträgern und gelegentlich selbst nach unten, fast so, als suche sie etwas und erwarte, es hier zu finden. Und tatsächlich war es so.
Er musste hier sein. Er war immer hier.
Ein metallisches Klappern ließ die Gestalt zusammenzucken und fast wäre sie herumgewirbelt, hätte sie nicht über sich ein Scharren gehört, wie von Leder auf Metall. Ihr Kopf ruckte hoch und sie sah eben noch wie ein menschenähnlicher Schatten auf die herabstürzte. Reflexartig warf sich die Gestalt zur Seite und der Angreifer traf nur den harten Beton. Mit einem unwilligen Knurren richtete er sich auf und drehte sich langsam herum. Zwei hässliche Höcker ragten aus seinem Buckel und widerliche Auswüchse an beiden Seiten des Kopfes verliehen ihm das Aussehen eines Dackels mit plattgedrücktem Gesicht.
Mit weit ausgebreiteten Armen, wie zum Zupacken bereit, tat er einen Schritt nach vor.
"Jimmy, altes Haus, wie geht es dir?"
Jimmy blickte in das breit grinsende Gesicht seines Kumpels Hector als dieser in einen vom Mondlicht erhellten Ausschnitt eines leeren Fensterrahmens trat. Die beiden Auswüchse an seinem Kopf schlackerten fröhlich. Sie befanden sich genau da, wo andere Leute ihre Ohren hatten.
"Es muss, es muss!" gab Jimmy zurück und klopfte seinem Kumpel vorsichtig auf den Rücken. Sehr, sehr vorsichtig. "Es tut endlich nicht mehr weh seit der Operation", fügte er mit einem Daumendeuten über die Schulter hinzu.
"Deine Nieren? Lass mal sehen!"
Jimmy drehte sich um und hob grinsend seine Jacke hoch.
"Sieht cool aus!" lobte Hector und schwang sich auf eine der umstehenden Kisten. Jimmy und er sahen sich zwar nicht zum ersten mal seit den ein, zwei Monaten Reha-Kur, die der Operation unweigerlich folgten und bei der man einer intensiven und wenig angenehmen Stammzellen-Frischkur unterzogen wird, doch war bisher noch der Verband oben gewesen. Gestern hatte man ihn abgenommen.
"Aber lange nicht so cool wie du", meinte Jimmy nicht ohne Bewunderung.
"Was? Musst schon lauter reden. Hab mich noch nicht ganz dran gewöhnt, dass meine Gehörgänge jetzt nach außen hängen. Schlägt sich etwas auf die Hörfähigkeit in den ersten Monaten. Sagt zumindest mein Arzt." Hector schüttelte vergnügt den Kopf, sodass seine Gehörgänge abermals fröhlich schlackerten. Er war irrsinnig stolz auf seine neuen, körpereigenen Schmuckaccessoires, ebenso wie er es auf seine beiden Lungenflügel am Rücken war.
Hector war Organpunk, genau wie Jimmy. Oder besser, genau wie Jimmy einer sein wollte, denn bisher hatte er sich nur seine Nieren heraushängen lassen, was er zu Hause noch immer sorgfältig versteckte. Hätten es seine Eltern gesehen, wär’ er wahrscheinlich rausgeflogen. Aber was er jetzt vorhatte, würde sich nicht mehr verstecken lassen. Und es würde alle anderen Organpunks im Viertel schwer beeindrucken.
"Mal wieder was von Freddy und Dodge gehört?" erkundigte sich Jimmy.
"Freddy ist auf Reha - hat sich sämtliche Venen in seinen Beinen nach außen legen und damit 'Freiheit oder Tod' draufschreiben lassen. Jetzt braucht er mindestens ein halbes Jahr bis er wieder richtig laufen kann. Und Dodge arbeitet."
"Was ist los mit Freddy? Fühlt er sich nicht frei?"
"Doch, aber ihm ist kein besserer Spruch eingefallen. Außerdem: Schlecht klingt's doch nicht, oder?"
"Nein, nicht schlecht", stimmte Jimmy zu und lehnte sich sehr, sehr vorsichtig gegen einen Container. Praktisch alles, was Organpunks taten, taten sie sehr, sehr vorsichtig. "Und Dodge arbeitet?"
Hector holte eine Zigarette hervor und zündete sie an bevor er antwortete. Seine Lungen blähten sich auf seinem Rücken als er einen tiefen Zug nahm.
"Hat seinen Arzt verklagt, weil der bei der letzten Operation Mist gebaut hat. Dummerweise hat Dodge verloren und jetzt muss er Schadenersatz zahlen. Scheint, als sei plastische Genchirurgie ein Gebiet, das die Rechtswissenschaften noch nicht so ganz durchschaut haben."
"Hm!" machte Jimmy. Das klang nicht gerade sehr ermutigend.
"Was los?" wollte Hector wissen.
"Wollte eigentlich auch in Kürze wieder in die Mangel." Mangel war die Bezeichnung für Operationen der plastischen Genchirurgie in der Szene, denn durch ebensolche genommen fühlte man sich anschließend immer.
"Eigentlich!" echote Hector betont. "Was machen?"
Jimmy zögerte. Was er vorhatte, war etwas ganz Besonderes, etwas Großartiges; und eigentlich hatte er es niemandem sagen wollen. Aber bei Hector war das wohl was anderes.
"Ich möchte mir", begann er, "den Dickdarm raus und als Gürtel um die Hüfte legen lassen. Und den Magen als Schnalle darüber." Jimmy unterstrich seine Ausführungen mit erklärenden Gesten und grinste dann triumphierend. Hector war baff.
"Wow!" presste er hervor. "Da würden selbst die Knochenfreaks vom Westviertel blass werden vor Neid. Wenn du das durchziehst ..."
"Was heißt wenn? Natürlich zieh ich das durch."
"Und bei wem? Wird 'ne verdammt schwierige Mangel."
"Doktor Fernaud."
"Doktor Fernaud? Bist du wahnsinnig?" schrie Hector sprang ansatzlos aus dem Schneidersitz von seiner Kiste und baute sich mit wild fuchtelnden Armen vor seinem Kumpel auf. Seine beiden Lungenflügel pumpten wie wild. "Der hat schon an die fünfzig Kunstfehler hinter sich!"
"Alle anderen haben an die hundert", gab Jimmy gelassen zurück.
Hector schnaubte abfällig und drehte sich um, was seine Gehörgänge wieder gehörig in Bewegung versetzte.
"Keiner geht so mit dem Nanolaser-Skalpell um wie Doktor Fernaud!" verteidigte Jimmy seinen Wunscharzt.
"Und genau das sollte dir Sorgen machen"; erwiderte Hector. "Aber bitte! Musst selber wissen, was du tust."
Und Jimmy wusste es.
Oder dachte das zumindest.
Als sich die beiden einige Monate später wiedersahen, hatte Doktor Fernaud einundfünfzig Kunstfehler vorzuweisen. Die Gürtelschnalle hatte er wohl etwas zu wörtlich genommen.
Und das musste Jimmy jetzt erst einmal verdauen ...
 
Zwei Hälften

Hallo Pinky,

warum springt Jimmy auf Hector, daß ist mir irgendwie nich ganz klar?

Zuerst wird Spannung aufgebaut ( bis zur oben genannten Szene ) und dann geht es ( eher humorvoll )um diese Organpunks. Meiner Meinung nach paßt es nicht so gut zusammen. Vielleicht solltest du den Spannungsbogen so bauen, daß Hector zu diesem Doktor geht und die zweite Hälfte als Rückblick (währenddessen, Hector erinnert sich )das vorbereitete Gespräch mit Jimmy
 

Pinky

Mitglied
Warum spring Jimmy auf Hector?

Danke, für deine Kritik, aber zuerst einmal springt Hector auf Jimmy. Und warum er das macht? Tja, warum hat er sich die Gehörgänge raushängen lassen. Er ist Punk und vermutlich nicht ganz dicht.

Die beiden konträren Teile sind reine Absicht. Eine Geschichte muss nicht immer stimmig und glatt sein. Hier sollte sich der Leser in einer Situation finden, um dann plötzlich mit einer völlig anderen konfrontiert zu werden. Sieh's einfach als eine Art kleines Experiment. Hoffe, die Geschichte hat dir trotzdem gefallen.
 
Gefallen?

Der erste Teil hat mir weniger gefallen, war aber nicht schlecht. Den Teil mit den Organpunks fand ich gut, nur die humorvolle Seite hätte man etwas stärker hervorheben können ( nach meinem Geschmack)
Habe halt beim Lesen diese "Verwirrung" gehabt, als der Sprung da war. Dass diese Organpunks nicht ganz dicht sind ( neben dem "Organischen" ) ist mir scheinbar nicht aufgefallen ( warum ? ).
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Klasse Sache ((erinnert mich an Kästners „Klasse Frauen“, die auch mit jeder Mode gehen)) – Pinky eben.

Aber: Mich stört auch das zu lange "Vorspiel" – ich habe es ehrlich gesagt beim ersten mal überlesen. Und mich stört auch dieser (missglückte) Drauf-Sprung – wenn er nämlich geglückt wäre, hätte es Jimmy die Nieren zerdrücken können, was der naturgemäß (so 'ne teure OP ist jetzt fü'n Arsch, Mann!!) nicht so hätte hinnehmen dürfen. Zweitens behauptest du wenig später, dass die Organpunks praktisch alles sehr sehr vorsichtig tun – außer Leute bespringen offensichtlich, trotz des dabei ganz erheblichen Verletzungsriskikos. Geht der Schreck-Effekt nicht auch ohne Sprung?
 

Pinky

Mitglied
konstruktive Kritik

Danke für die konstruktive Kritik, an der Sache mit dem Sprung sollte man tatsächlich noch arbeiten. Die lange Einleitung ist, wie gesagt, mehr als Experiment zu verstehen. Damit mag jeder verfahren, wie er gerne möchte.
 



 
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