Johanna

Apolonia

Mitglied
Nun ist es so weit gekommen, wir beide, in unserem leeren Haus, wie zwei Salzsäulen - versteinert, stumm. Zwei, die sich am Abendtisch zufällig begegnen.

Unsere Trauer spannt sich wie ein riesiger Bogen von Johanna zu mir und von mir zu Johanna, der uns nicht trennt und auch nicht verbindet. Zwischen uns ein Vakuum. Und keiner von uns hat die Kraft dieses Nichts durchzuzwängen. Diese lähmende Ohnmacht trifft uns, wie ein vergifteter Pfeil. Wir entfernen uns immer mehr voneinander. Unausweichlich. Sie flüchtet dann wortlos ins Schlafzimmer. Ohne mich ihres Blickes zu würdigen, ohne mir „Gute Nacht“ zu wünschen. Wortlos an mir vorbei...

Und ich? Bleibe alleine kurz vor der Treppe stehen. Nein, kein Schritt weiter. Ich kehre verzweifelt zurück an meinen Schreibtisch, um in die Nacht durch die geöffneten Fenster zu starren. Die Nacht, die sich in meinen brennenden Augen nach ein paar Stunden in Morgengrauen verwandelt. Schweigen. Nur Schweigen, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. Nichts, keine tröstenden Worte, Geste...Auch keine Wut, keine Regung auf ihrem Gesicht.

Das trifft mich schmerzhafter, tiefer als jeder Pfeil. Tiefer als Gottes Zorn, wenn es einen Gott geben sollte.

Wie soll es weiter mit uns gehen? Ich habe keine Antwort. Sie stellt sich wahrscheinlich diese Frage noch nicht. Können wir noch zu uns finden, oder ist es schon zu viel Unausgesprochenes zwischen uns? Durch das Schweigen entfernen wir uns noch mehr voneinander. Mit jedem Tag, an dem wir uns wie zufällig begegnen, wird das „Schwarze Loch“ immer tiefer, bis wir beide total darin versinken. Warum wir? Die Frage stelle ich mir stündlich. Sind wir Auserwählten oder die Verfluchten? Haben wir uns etwas zu Schulden kommen lassen?

Ich fühle mich jedenfalls elend, schwach, ohnmächtig und nicht den Umständen gewachsen. Wie kann ich mit ihr reden, wenn sie mich nicht beachtet? Ist ihr überhaupt bewusst, dass ich noch existiere? Hier, in diesem Haus lebe? In dem Haus, das wir zusammen geplant und gebaut haben?
Wir planten das gemeinsame Leben bis zum unseren Ende, mir unseren Kindern hier, in diesem Haus zu führen.

Ich muss einen anderen Weg finden, sie aus dieser Lethargie zu befreien. Sie hat sich dieses Kind so sehr gewünscht. Wir haben uns wahnsinnig gefreut. Und stolz waren wir auch, bald eine richtige Familie zu sein. Und jetzt...? Was ist von unseren Träumen geblieben?
Scherben und kaputte Seelen.

Ich mache mir große Sorgen um Johanna. Diese Verantwortung hält mich vielleicht gerade aufrecht, dass ich nicht ganz umknicke. Schlafen können wir beide nicht mehr. Ich höre sie im Schlafzimmer schluchzen. Manchmal zähle ich ihre Schritte, bis ich selber von Müdigkeit überwältigt in den kurzen, unruhigen Schlaf versinke. Dann springe ich plötzlich aus dem Bett von Schuldgefühlen geplagt, dass ich eingeschlafen bin, ohne zu wissen, was sie in dieser Zeit tat. Um mir einen klaren Kopf zu verschaffen, gehe ich hinaus, auf die leeren Straßen. Verlasse das Dorf und irre auf den Feldwegen und Waldpfaden. Ich sehe nichts, ich höre nichts. Meine Gedanken kreisen nur um Johanna.

Und jetzt auch. Ich kann von meinem Fenster aus den kleinen Dorfriedhof sehen. Mein Herz blutet jedes Mal, wenn ich durch das Fenster starre. Immer wieder riskiere ich einen Blick auf die Fridhofsmauer, wie zum Trotz, um den Schuldgefühlen keine Zuflucht zu gewähren. Ich stehe stundenlang an dem besagten Fenster, um mir selbst zu beweisen, dass ich das Kind nicht ablehne, aber nicht die Macht habe zurück zu uns zu holen. Ich habe Schuldgefühle, weil ich weiterleben darf. Wozu? Vielleicht für Johanna?

Ja, für Johanna. Sie braucht mich jetzt. Diese Erkenntnis erfühlt mich mit einem warmen Gefühl, das ich schon seit langer Zeit nicht spürte. Genau, für Johanna.
Über die Trauerarbeit, das Loslassen, das Leben akzeptieren habe genug in der letzten Zeit gelesen. Nächtelang.
Ich gehe zum meinen Schreibtisch. Ordne meine Notizen und greife meinen Fühler - ein Geschenk von Johanna.

„Meine Notizen, wo ist das kleine Gedicht? Noch ohne Titel. Hm...wäre vielleicht besser, wenn ich ihr zuerst einen Brief schreibe? Ganz kurz, bloß nicht zu lang, sonst liest sie möglicherweise gar nicht. Ja, nicht grübeln, nicht zögern - nein, bloß nicht. Nicht, dass ich mir noch anders überlege“ - war momentan mein Gedankengang.
Wie ferngesteuert greiffe ich den Fühler und schreibe:
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Meine Herzallerliebste,

Liebe Johanna,

alles, was ich Dir schreiben würde, wäre nicht angemessen im Angesicht des Schmerzes, das Dein Herz erfüllt.

Möchte Dir nur ein Zeichen setzen, dass ich mit Dir fühle und mit Dir leide. Es war auch mein Kind. Ich leide sehr. Das ist nicht meine und auch nicht Deine Schuld. Ich brauche Dich, sonst weiß ich nicht, wie ich weiter ohne Dich leben soll? Ob ich überhaupt leben kann? Ich sehe ohne Dich keinen Sinn in meinem Leben.

Über meine Gefühle zu schreiben oder sprechen konnte ich auch früher nicht. Du kennst mich doch besser. Drum habe ich für Dich ein Gedicht verfasst, in dem ich meine ungeordnete und verwirrte Grdanken Dir mitteilen möchte.

Ich warte ungeduldig auf Deine Antwort. Du bist mir wichtig. Sag mir wenigstens, ob ich mit Deinem Beistand rechnen darf?

In Liebe

Dein Johannes

Loslassen

Bitte, geh fort
Schau nicht zurück
Du warst mein Glück.

Bitte, lass los
Reif ist die Zeit
Für Endlichkeit.

Bitte, geh fort
Die Lebenskraft
Ist starke Macht.

Bitte, lass los
Kehre sanft ein
Bleibe daheim.

Bitte, geh fort
Schau nicht zurück
Dankbar von Glück.

PS: Liebe Johanna, betrachte diese Verse als Versöhnung mit dem Schicksal.

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Die Zeit verging. Es passierte nichts. Die Wanduhr tickte monoton mit stoischer Ruhe und ich zerfiel fast von rasender Ungeduld. Die pfeifende Stille schmerzte in den Ohren. Ich horchte. Nichts. Wieder nichts. Die Dämmerung setzte schon ein. Ich wollte grade aufstehen, um mich zum Fenster zu tasten, dann hörte ich leise Geräusche an meiner Tür. Da sah ich ein Blatt unter der Tür hervorlugen. Ich spürte mein Herz vor Freude hüpfen. Ja, ich habe gehofft. Sie hat geantwortet. Da stand in ihrer schönen regelmäßigen Schrift:

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Mein Liebster,

vielen Dank für Dein Vertrauen. Ich dachte, Du gibst mir die Schuld und habe mich daraufhin zurückgezogen.

Die ganze Zeit habe ich überlegt und eine Möglichkeit gesucht, wieder zu Dir zu finden? Ich traute mich nicht Dir in die Augen zu schauen. Ich fürchtete mich, Deinen Schmerz nicht ertragen zu können. Vielleicht auch die Vorwürfe in Deinem Blick.

Dein Gedicht finde ich passend. Habe immer wieder und wieder gelesen. Es hat was...Kann ich nicht erklären, aber hilft einen klaren Gedanken in meinem Kopf zu fassen.

Ich gehe jetzt in die Küche und vorbereite eine Mahlzeit für uns beide.

Werde mich freuen, wenn Du mir dabei hilfst, so wie früher.

Für immer

Deine Johanna

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Ohne zu zögern verlasse ich mein Zimmer und erblicke Johanna oben auf der Treppe stehend, sich an dem Geländer festhaltend. Sie ist sehr blass und sieht müde aus. Ganz langsam kommt sie auf mich zu, fast auf jeder Stufe pausierend. Wir schauen uns stumm in die Augen und brechen in Tränen aus. Sie fällt in meine Arme, aber ich kann sie kaum halten. Und so sitzen wir fest umklammert auf der ersten Treppenstufe und lassen unseren Tränen freien lauf.

Wie lange wir so verharren, weiß nur der Allmächtige. Wir vergessen die Zeit. Nach einer Weile stehen wir auf und gehen eng umschlungen zusammen in die Küche. Wir finden noch keine Worte und schweigen. Aber es ist etwas anders zwischen uns. Eine beruhigende Stimmung schwingt zwischen ihr und mir, wie ein gespannter Bogen, der uns nun mehr verbindet, als trennt. Das Gefühl der Erleichterung breitet sich in meiner Brust, droht sie zu zersprengen. Die Bodenfliesen rotieren und es dreht sich alles mit rasender Geschwindigkeit um mich herum. Ein Gefühl des grenzenlosen Glücks überwältigt mich. Langsam und ganz tief sauge ich diese Harmonie auf und versorge meine Lunge dabei mit dem Sauerstoff. Das tut richtig gut. Ich fühle mich entspannt und erleichtert. Ja, genau, geteiltes Leid...

Nach dem Essen gehen wir zusammen ins Schlafzimmer. Die Küche kann morgen aufgeräumt werden. Ist nicht so wichtig. Die letzten Tage haben uns viel Kraft gekostet. Wir sind erschöpft. Liegen beide im Bett, Körper am Körper, aber jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken. Es ist schon längst nach Mitternacht. Ich spüre, sie liegt wach. Sie weint. Ohne nachzudenken greife ich ihre Hand. Sie lässt es kraftlos zu.

„Johanna, egal, ob es einen Gott gibt oder auch nicht, lass uns zusammen beten, ganz laut, wie früher, als wir noch Kinder waren und mit unseren Eltern jeden Abend zusammen den Gott gepriesen haben“ - wie ein Irre flehe ich sie an.

Sie antwortet nicht. Habe Gefühl, sie hält ihr Atem an, um jeden Gespräch zu vermeiden. Totale Stille. Ich glaube, das Echo des Urknalls noch zu hören und die Vibration noch zu spüren. Johanna verharrt weiter schweigend.

Dann ganz spontan, mutig und deutlich, für mich selber nicht nachvollziehbar, spreche ich die erste Worte des Gebets, „Vater unser im Himmel“...

Johanna folgt mir zuerst etwas zögern, dann immer mutiger nach. Immer kräftiger ist ihre Stimme.

Und mehr weiß ich nicht. Wir wachen so gegen 8.00 Uhr an. Es ist das erste Mal, dass wir mehrere Stunden ununterbrochen geschlafen haben. Ich fühle mich deutlich besser, als die letzten Tage. Johanna lächelt mich zurückhaltend an. Ich sehe, es geht ihr gut. Wir haben zurück ins Leben gefunden und ich spüre, es geht wieder vorwärts mit und beiden. Ich bin mir sicher, diese Krise haben wir nun überwunden.

Jetzt, nach drei Jahren, kann ich getrost sagen, diese Krise hat uns noch feste zusammengeschweißt, weil wir uns nicht aufgegeben haben. Die Liebe, Freundschaft, Partnerschaft braucht eine intensive Pflege. Ja, wir sind glücklich und ...bald werden wir Eltern. Es wird ein Junge.
 



 
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