Johannes Märchenwelten

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flammarion

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Johannes sachen von feenmärchens

Johannes blickte sich um und gewahrte, dass er allein mitten im Wald stand. In einem heißen, fremden Wald. Lianen hingen herum, Affen sprangen kreischend von Ast zu Ast, die Luftfeuchtigkeit konnte höher kaum sein und die Insektenstiche brannten wie Feuer. Aber er trieb sich vorwärts. „Ich muss die anderen finden. Sie verlassen sich auf mich. Ich habe sie hierher geführt und ich muss sie wieder hier heraus führen. Ich habe die Sache angerührt und muss sie zu einem guten Ende bringen. Die kleine Annerose, diese süße Maus, gibt sich manchmal groß und stark, aber das ist sie nicht. Ebenso Jane, die verlässt sich doch eher auf mich als auf ihren Andreas. Also vorwärts, lauf, Forest!
Eh, was n Wald? Ach so, Forest Gump. War ein netter Film. Habe ich zusammen mit Amely auf Video gesehen. Hatte ihr dazu auch einen großen Kasten Konfekt geschenkt, passte so schön zu dem berühmten Spruch aus dem Film: Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel, du weißt nie, was du bekommst.
Hat aber nichts genützt, unsere Beziehung ging trotzdem auseinander. Ob es mit Jane und Andreas gut gehen wird? Die suchen doch beide nach dem Stein der Weisen oder so“.
Er lehnte sich an einen Baum und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und aus den Augen. Er fühlte sich wie besoffen oder bekifft. Als er wieder klar sehen konnte, wunderte er sich sehr. Er blickte von einem Standort, der ihm völlig unerklärbar war, in eine düstere Grotte. Da stand Jane vor einem Altar und griff nach einem funkelnden Stein. Sie schien Priesterin eines nordischen Volkes zu sein und ein Ritual durchführen zu wollen.
Aber vielleicht war der Stein gar kein Stein, sondern nur ein apart gefasster Spiegel, in den sie schaute? Sie stand da und rührte sich nicht.
Seine Gedanken überschlugen sich: „Nee, Puppe, das ist nicht der Stein der Weisen, was du da in der Hand hältst. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Aber du siehst heiß aus, Baby, wahnsinnig heiß, direkt zum Anbeißen!“
Er kniff die Augen zu, um das Trugbild zu vertreiben. Am meisten beunruhigten ihn die grässlichen Gestalten im Hintergrund. Dennoch dachte er: „Da hat der Andreas aber was Schnuckeliges! Und die Monster sind wahrscheinlich nur Zierat.“

Er setzte sich wieder in Bewegung und überlegte: „Warum ging eigentlich meine Beziehung zu Amely schief? Weiß der Geier“.
Es war seine Gewohnheit, in schwierigen Situationen Selbstgespräche zu führen: „Dämliche Redensart. Habe mal gehört, dass sie angeblich aus dem Mittelalter stammt, wo man sich nicht getraute, den Namen des Teufels auszusprechen. Da sagte man eben Geier. Der Geier bekommt die Tierleichen und der Teufel bekommt die Leichen der bösen Menschen. Und dann macht er neue Teufel aus ihnen.
Teufel sind nicht so schön, wie Jane eben war.
Warum seh ich solche Bilder? Was ist denn nur los?
Mir ist nicht gut.
Vor allem sollte ich nicht an Jane denken, die gehört dem Andreas. Amely, wo bist du?
Nein, auch an sie sollte ich nicht denken. Ich muss meine Freunde finden. Den dicken Klaus und die niedliche Annerose. Die wissen beide noch nicht so recht, wen oder was sie wollen. Sie wären ein kurioses Paar. Oder auch nicht. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.
Und er kann sehr ritterlich sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass er ihr mal ein Gedicht widmet:
Oh holde Maid, so minniglich,
wie lieb ich dich so inniglich!
Oh holde Jungfrau, zart und fein,
willst du mein Feinsliebchen sein?

Ich bin dir treu mit Herz und Hand
und hülle dich in güld Gewand.
Ich schenk dir Silber, Edelstein
und von dem Gold ein Ringelein

als unsrer Liebe Unterpfand
wie s Sitte ist in unserm Land.
Oh holde Jungfrau, sag nicht nein,
es würde nur mein Tod doch sein.

Ja, solche Worte könnte er für sie finden. Die meisten Leute schätzen ihn völlig falsch ein. Er ist ein guter Kerl. Darum muss ich weiter! Ich muss die anderen finden, sie vertrauen auf mich! Vorwärts!
Gab es nicht mal ne Zeitung, die so hieß? Nee, das war der Stürmer. Ich bin kein Stürmer, bestenfalls ein Läufer. Teppichläufer oder mittelgroßes Ferkel? Die werden ja auch Läufer genannt. Wo laufen sie denn . . . Ach, ist der Rasen schön grün . . .
Hör auf zu spinnen!, rief er sich zur Vernunft und schritt tapfer aus.


Johannes führte sein Selbstgespräch fort: Vorwärts! Immer weiter vorwärts, vorwärts und nie vergessen - drum links zwei drei - Spaniens Himmel breitet seine Sterne . . .
Voriges Jahr ist meine liebe Uroma gestorben, die das alles immer gesungen hat.
Und „Die Sterne der Heimat, die leuchten so schön“ hat sie gesungen und „Heimat, deine Sterne“. Ein Haufen Schmalz nach den kämpferischen Anwandlungen. Und ich hatte hingerissen an ihren Lippen gehangen.

Aber da – was funkelt denn da oben durch das Geäst? Ein Stern! Ob es die Venus ist? Oh, der Stern kommt näher. Ja, komm zu mir, mein Stern. Leuchte, mein Stern!
Ihm wurde warm ums Herz und als das Leuchten noch näher kam, erblickte er mitten darin eine junge Frau. Sie sprach ihn an: „Was tust du hier so tief im Wald und so allein?“
„Ich suche meine Freunde. Wir wollten hier einen Abenteuerurlaub machen“.
„So, so, dich lockt das Abenteuer. Bist du auf ein spezielles Abenteuer aus oder ist es dir egal, was für eines es ist?“
In ihrer Hand erschien ein diffuses Leuchten.
„Nein“, antwortete Johannes, „kein bestimmtes“.
„Willst du mit mir zu den Sternen fliegen?“
„Sehr gern. Aber wer oder was bist du?“
„Ich bin Lumina, eine Sternenelfe. Komm, reich mir deine Hand“.
Johannes war wie verzaubert von dieser Frau und reichte ihr seine Hand, ohne lange nachzudenken.
Und schon ging es in die Höhe. Rasend schnell entfernten sie sich vom Erdboden. Johannes wurde schwindelig. Er klammerte sich an der Frau fest und schloss die Augen.
Nach einer Weile spürte er, dass er mit der Frau durch laue Lüfte glitt, schwerelos wie Flaumfedern. Johannes öffnete seine Augen wieder und begann, den Flug zu genießen. Ja, das war wesentlich schöner als Riesenrad oder Achterbahn zu fahren, wie er es als Kind so geliebt hatte. Das war lange her. Irgendwann war es überhaupt nicht mehr aufregend, seine Sinne suchten nach Besserem, aber es war nichts zu finden.
Als sie vorhin mit dem Fallschirm abgesprungen waren, das war toll! Das war ein guter Ersatz für Karussellfahren. Nun aber sah er etwas, das er sich niemals hätte träumen lassen: Eine Schmetterlingselfe deckte die Nacht über eine Ortschaft. Wie einen samtenen Schleier breitete sie den Sternenhimmel aus.
Die Sternenelfe winkte mit beiden Händen und rief hinüber: „Hallo, Nachtpfauenauge! Alles in Ordnung auf der Welt?“
Der große blonde Schmetterling nickte: „Ja, ja, alles wie immer. Auch heute Nacht werden viele Verbrechen geschehen, aber noch viel mehr Menschen werden sich lieben oder anderweitig Gutes tun. Diese Welt geht noch lange nicht unter!
Aber frage mal deine Schwester Lumanta, die scheint ein Problem zu haben“.
„Lumanta? Wo ist sie?“
„In der Nähe des Nordpolarsterns. Da hängt sie schon eine ganze Weile. Sie scheint etwas zu wollen, das der Polarstern ihr verweigert“.
Die Elfen nickten einander zum Abschied zu, dann wendete sich die Sternenelfe zu Johannes: „Du wirst verstehen, dass ich meiner Schwester helfen muss. Magst du mitkommen?“
Johannes antwortete zuvorkommend: „Gerne. Außerdem würdest du ja Zeit verlieren, wenn du mich erst wieder im Wald absetzt“.
Trotz der Dunkelheit glaubte Johannes zu bemerken, dass die Elfe errötete. Dann sprach sie mit dünnem Stimmchen: „Ich wusste gar nicht, dass ihr Menschen sooo rücksichtsvoll und lieb sein könnt! Das soll gewiss dein Schaden nicht sein“.
Sie nahm Johannes wieder bei der Hand und Hui! ging es in Richtung Norden. Bald erblickten sie die Schwester der Sternenelfe, die bittend vor dem Polarstern stand. Lumina rief hinüber: „Hallo, Lumanta, kann ich dir helfen?“
„Oh, kleine Schwester, gut, dass du da bist und auch noch einen Menschen mitbringst! Woher wusstest du, wie sehr ich einen Menschen brauche?“
„Das wusste ich gar nicht, ich hab ihn eher zufällig dabei“.
„So, so“, meinte Lumanta mit Strenge in der Stimme. „Ich glaube eher, du willst wieder einmal deinen Gedenktag feiern“.
Lumina errötete abermals. Vor etlicher Zeit hatte ein Menschenmann sie in misslicher Lage zurückgelassen und auch noch gesagt: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“
Seit damals suchte sie sich jedes Jahr an diesem Tag einen Mann, um sich an ihm zu rächen für die damals erlittene Schmach. Auch mit Johannes hatte sie ihr böses Spiel treiben wollen, aber wenn er jetzt wirklich von Nutzen sein könnte, wäre heute vielleicht ihr letzter Gedenktag der bösen Art.

Johannes aber spürte Heldenmut in sich aufkeimen und sagte in die plötzlich entstandene peinliche Stille hinein: „Was kann ich für dich tun, himmlisches Wesen?“
Lumanta wendete sich zu ihm: „Ich brauche unbedingt eine Handvoll Sternenstaub für ein krankes Kind. Es kann sonst nie gesund werden und muss bald sterben. Es ist das einzige Kind rechtschaffener Eltern, ihr Ein und Alles, ihr Licht in dieser heiklen Welt.
Außerdem hat das Mädchen eine Bestimmung – es wird als erwachsene Frau einem Elbenkrieger das Leben retten und ganz nebenbei in der Kochkunst neue Wege gehen. Nach ihren Soßen wird man sich eines Tages alle zehn Finger lecken!
Der Polarstern aber will, dass ein Mensch die nötige Zauberformel spricht, weil es ja eine Medizin für ein Menschenkind ist und ich tu mich sehr schwer damit, einen Menschen an den Himmel zu holen“. Dabei blickte sie ganz eigentümlich auf ihre Schwester. Die wendete sich zur Seite und zuckte mürrisch die Schulter.
Johannes überlegte nicht erst lange, sondern fragte: „Wie lautet die Formel?“
„Oh, sie ist lang und schwer. Du musst sie aussprechen, ohne zu stottern, sonst reagiert der Stern gar nicht erst!“
„Ich habe in der Schule Griechisch und Latein gelernt, ich hoffe, dass ich mit der Formel zurande kommen werde“, meinte Johannes recht selbstsicher.
Lumanta ging mit Johannes ein paar Schritte zur Seite und paukte ihm die Formel ein: Luna lunarum, bing bong kularum, sing song lurarum, spektakularum, bitte eine Handvoll Sternenstaub für ein krankes Kind.
Mutig ging Johannes in die Nähe des Nordpolarsterns. Wäre er ein kleiner Junge, hätte er sich vielleicht gefürchtet vor dem verrunzelten Alten mit den borstigen Brauen, unter denen schwarze Augen düster hervor blickten. So aber sagte er die Formel völlig fehlerfrei und ohne zu stottern auf.
Sogleich schwebte eine dünne kleine Wolke allerfeinsten Sternenstaubs in seine Richtung. Lumanta streckte ihre Hand aus und fing den Staub auf.
„Danke, herrlicher Stern, dass du so gütig bist!“, rief sie und bedankte sich auch herzlich bei dem hilfreichen Menschen. Sie hatte in ihrem Leben nicht gar so hässliche Erfahrungen mit den Menschen gemacht und stand ihnen freundlicher gegenüber. Sie hoffte, dass ihre kleine Schwester in Zukunft auch mehr Nutzen als Schaden auf Erden anrichten würde.
Dann schwebten sie in Richtung Erde, jeder zu dem Ort seiner Wahl. Lumina mit Johannes zu dem Wald, wo sie einander begegnet waren und Lumanta zu dem kleinen Dorf, wo das kranke Kind bereits in schwere Fieberfantasien gefallen war. Es träumte, dass es im kalten Novemberwind zur Muhme ging und auf dem Wege begegnete sie einer Horde bösartiger Gnome, die sie in den Wald zerren wollten, um sie bei lebendigem Leibe zu vergraben und gemeinsam mit Käfern und Würmern ein Festmahl an ihr zu haben und sie gaaanz langsam aufzufressen.
Das kleine Mädchen schrie vor Angst. Sie spürte bereits die Kälte der Erde und die kleinen, spitzigen Zähne der schrecklichen Gnome in ihrem Fleisch und wimmerte vor Schmerzen.
Lumanta trat an das Krankenlager, öffnete ihre Hand und ließ den Sternenstaub herausrieseln. Als dünne kleine Wolke legte er sich über das Bett des kranken Kindes und sickerte durch die Bettdecke. Die Nachtelfe sang leise eine beruhigende Melodie und allmählich verschwanden die bösen Träume. Bald schlief das Kind ruhig und gleichmäßig atmend seiner Genesung entgegen.
Die Eltern, die Ärzte und alle anderen sprachen später von einem Wunder, ohne zu wissen, dass es wirklich eines war.

Lumanta war längst zum Fenster hinaus geflogen und befand sich in einem ganz anderen Teil der Erde, aber Andreas sah sie noch immer. Wahrscheinlich, weil die Schwestern einander so nahe standen, als wären sie durch ein unsichtbares Band auch auf größte Entfernungen miteinander verbunden.

Lumina und Johannes setzten sanft am Waldesrand auf. Sie sagte: „Vielen Dank, Menschensohn, dass du meiner Schwester bei ihrem guten Werk geholfen hast.
Aber hättest du es auch getan, wenn es sich dabei nicht um ein Menschenkind gehandelt hätte, sondern um ein . . . sagen wir mal, um ein Einhorn?“
Tief blickte die Sternenelfe in die Augen des jungen Mannes. Der antwortete ohne zu zögern: „Natürlich. Ein Einhorn auch nur zu erblicken, ist schon ein großes Glück. Ihm dann auch noch helfen zu können, ist so ziemlich das Größte, was einem begegnen könnte.
Aber du sprichst das so locker hin, als sei es für dich alltäglich, Umgang mit einem Einhorn zu haben“.
„Ist es auch“, warf Lumina leicht hin. „Wir Elfen sind mit Einhörnern sehr vertraut. Auch mit der Familie Pegasus und den Nixen und ganz besonders mit den Feen. Manchmal treffen wir uns sogar mit Gnomen, Wichteln, Trollen, Orks, Zwergen und Riesen, aber viel lieber mit anderen Märchengestalten wie zum Beispiel Frau Holle, dem Froschkönig, Aschenputtel, Schneewittchen, Rapunzel, Aladin, dem kleinen Muck, Zwerg Nase, der Schneekönigin, Rübezahl, dem kleinen Hävelmann, Däumelinchen, dem tapferen Zinnsoldaten, Hans im Glück, dem gestiefelten Kater oder Rumpelstilzchen und allerlei Hexen“.
„Das ist toll“, nickte Johannes. Er hatte schon befürchtet, dass die Aufzählung nie ein Ende findet.
„Von all diesen Geschöpfen habe ich schon gehört, aber noch nie von Sternenelfen. Mir waren bisher nur Blumenelfen vom Hörensagen bekannt“.
„Ach ja?“, höhnte Lumina. „Nur Blumenelfen? Nicht mal von den Weihnachtselfen hast du gehört?“
Von fern kam ein sanfter Lichtschein her und wurde zu einem Bildfenster. Eine goldlockige Weihnachtselfe saß auf einer Schaukel aus Weihnachtskugeln und sang mit lieblicher Stimme verhalten und leise: „Ihr Kinderlein, kommet“.
Verlegen erwiderte Johannes: „Doch, schon. Wie konnte ich sie jetzt nur vergessen! Wahrscheinlich, weil es hier so heiß ist, wie es zu unseren europäischen Weihnachten nicht passt“.
Lumina fuhr fort: „Es gibt außer den Weihnachtselfen noch Schmetterlingselfen, Katzenelfen und Vogelelfen. Für fast jede Tierart gibt es Elfen und für jede blühende Pflanze, wenn auch die meisten von ihnen lieber im Verborgenen leben und sich namentlich vor Menschen nicht blicken lassen“.
„Auch für Kakteen?“, lachte Johannes.
„Auch für Kakteen“, erwiderte Lumina mit gerunzelter Stirn.
Johannes entschuldigte sich sofort: „Ich wollte mich nicht lustig machen. Ich weiß, was für herrliche Blüten ein Kaktus haben kann. Ebenso reizend werden auch die entsprechenden Elfen aussehen“.
Lumina war versöhnt. „Komm“, flüsterte sie geheimnisvoll, „ich zeig dir was. Aber du musst ganz leise sein, hörst du? Sie dürfen uns nicht bemerken, sonst müssen wir für ein paar Monate ihre Farbe annehmen!“
Sie zog Johannes ein Stück in den Wald hinein, den Zeigefinger auf die Lippen gepresst.
Auf einer kleinen Lichtung spielten ausgelassen ein paar Kinder. Die meisten hatten blaue Haut, schienen aber durchaus gesund zu sein. Ein kleiner Junge vollführte sehr übermütig einen Salto. Er hatte dazu so viel Schwung geholt, dass er nicht sicher war, wieder auf den Füßen zu landen. Eine größere Elfe bemerkte das Dilemma und griff helfend ein.
Lumina und Johannes sahen den Kindern noch ein paar Minuten zu, dann kehrten sie an den Waldrand zurück.
„Das war ein Elfenkindergarten“, erklärte Lumina.
„Aha. Sind etwa alle Elfenkinder blau?“, verwunderte sich Johannes.
„Nein, nur in der Freizeit, wenn sie nichts weiter tun als spielen. Sowie sie lernen oder eine Arbeit verrichten, nehmen sie eine dazu passende Farbe an. Zum Beispiel rot für schwere Arbeit und gelb beim Lernen. Die Fähigkeit, sich zu verfärben, behalten Elfen ihr Leben lang, damit sie sich im Falle eines Falles tarnen können, um nicht entdeckt zu werden“.
„Aha. Darum sieht man sie auch so selten.
Der Anblick eben erinnert mich an ein Gedicht, das meine Tante manchmal hersagte:

Ichtel

Es stand einmal ein Wichtelkind
allein im tiefen Wald,
und fragte, wo die Ichtel sind –
der Ruf verhallte bald.

Die Ichtel sind – ja, ja, ihr lacht,
weil ihr sie nie gesehn,
von meiner Mutter einst erdacht,
als Schlimmes war geschehn.

Es fielen Bomben, es war Krieg,
ich Bübchen weinte viel,
da gab die Mutter, dass ich schwieg
die Ichtel mir zum Spiel.

Sie flüsterte, ich nickte stumm
und bald erblickt ich sie –
die Ichtel standen um uns rum,
so munter wie noch nie.

Tritt die Verzweiflung an mich ran,
denk ich an jene Nacht,
wo mir die Ichtel, Mann für Mann,
so reichlich Freud gemacht.

„Das ist aber hübsch“, meinte Lumina. „Deine ganze Familie scheint unsereinem sehr zugetan zu sein“.
„Ja, ich glaube schon“, entgegnete Johannes. „Meine Geschwister und ich liebten Märchen und Sagen sehr und meine Mutter und meine Großmutter hatten auch Talent, sie nicht nur zu erzählen, sondern auch auszudenken.
Zum Beispiel die Geschichte von der Dunkelelfe, die dem Gott der Meere einige Perlen aus seiner Schatzkammer stehlen wollte und von drei Seeschlangenwächtern verfolgt und eingefangen wurde. Da nützten ihr weder ihre Flügel noch ihre Zauberkräfte etwas, die Schlangen waren stärker und zogen sie unter Wasser, wo sie bleiben musste, bis sie sich gebessert hatte“.
„Das geschah ihr recht“, nickte die Sternenelfe. „Stehlen tut man nicht“.
„Genau. Und so haben Märchen eine gewisse erzieherische Wirkung auf Menschenkinder. Darum werden sie auch nie vergessen werden, man wird sie ewig weitererzählen. Das hoffe ich zumindest“.
Johannes kam sich zwar ein wenig altklug vor bei diesen Worten, aber sie mussten gesprochen werden.
Dann fragte er: „Bei allen Verwandlungskünsten müsst ihr aber doch eine Grundfarbe haben. Wie sieht die aus?“
„Auch das ist von Art zu Art verschieden. Die Blumenelfen sind meist so gefärbt wie ihr Menschen, aber die Tierelfen sind häufig von einem für euch sonderbaren Braun. Die Dunkelelfen sind natürlich von dunkler Farbe. Das geht von Dunkelrot über Dunkelgrün bis hin zum finstersten Schwarz, weshalb so ein Elf auch schon Mal mit dem Teufel verwechselt werden kann“.
Lumina strich ein paar Rockzipfel zurecht und fragte ihrerseits plötzlich sehr streng geworden: „Nun mal im Ernst, junger Mann, was habt ihr hier zu suchen in dieser gottverlassenen Gegend?“
„Na, wie ich schon sagte, wir wollen Urlaub machen. Einige Tage Natur pur erleben, fern von allem Weltgetriebe“.
„Aha. Also keine Bodenschätze aufspüren oder eine Trasse vermessen für eine breite Straße ins Landesinnere?“
„Aber nein. Wir haben auch gar keine dazu geeigneten Geräte bei uns“.
„Schön. Und wenn ihr Einheimischen begegnet?“
An der Stelle, wo Johannes vor Minuten noch die Weihnachtselfe auf ihrem Baumschmuck schaukeln sah, bildeten sich rote Kreise, die sich rasch zum Kopf eines Indianerhäuptlings formten, der am Amazonas lebt. Er blickte recht grimmig. Aber das schreckte Johannes nicht. Man würde sich schon verständigen können!
„Dann sagen wir Guten Tag. Wenn sie uns durchsuchen, werden sie ja sehen, dass wir völlig ungefährlich sind. Wir haben nur drei Macheten, um die Lianen, die unseren Weg etwa versperren sollten, ein einziges Handy, einen Revolver und eine Pistole, falls wir uns gegen ein Krokodil verteidigen müssen, den Kompass und jeder ein Taschenmesser bei uns“.
Die Nachtelfe schien zu grinsen: „Aber auf einen Elefanten seid ihr nicht vorbereitet, was?“
In Johannes Hirn begann es zu pochen: Elefant und Krokodil, Krokofant und Eledil, bis sich Verse formten:
Krokofant und Eledil
trafen sich am schönen Nil.
Da sprach der Eledilerich:
„Liebe mich! Liebe mich!
Und kannst du mich nicht lieben,
so muss ich mich versieben."
Der Krokofant, der sprach darauf:
„Hör bloß mit deinen Witzchen auf!
Wir sind doch schon vermengt genug,
da wird bald keiner mehr draus klug!"
So tanzten brummig umeinand
Eledil und Krokofant.

Johannes grinste mit gesenktem Kopf, schon, weil es am Amazonas gar keine Elefanten gibt, jedenfalls keine frei lebenden. Als er sich umsah, war die Nachtelfe verschwunden.
Er versuchte, die Richtung zu ermitteln, in die er nun gehen musste, um seine Freunde zu finden. Ein Blick zum Himmel sollte ihm dabei helfen. Er hatte den Kompass in seiner Tasche völlig vergessen. Mit Erstaunen sah er, wie sich Lumina in Richtung Mond entfernte, völlig nackt und sehr beschwingt.
Was muss das erst für ein Anblick sein, wenn sie mit ihren Schwestern zusammen im Mondlicht tanzt!
Dann fiel ihm ein, dass es ihr vielleicht gar nicht recht ist, wenn er sie so sieht. Schnell senkte er seinen Blick wieder, denn was Elfen sich so alles für ihre Rache ausdenken, davon hatte er schon gehört.

Aus dem moosigen Boden, auf dem er stand, lugten blasslila Blümchen hervor. Eines dieser Blümchen – Johannes wollte seinen Augen nicht trauen – begann plötzlich zu wachsen und wuchs und wuchs und verwandelte sich, bis aus dem Blümchen eine hübsche Elfe geworden war. Sie lächelte: „Na, magst du mit mir spazieren gehen?“
Wieder erlag Johannes dem Zauber. Die Elfe erhob sich und von irgendwoher rieselte ein Bächlein neben ihr her. Das war vorher gar nicht da!
Sie gingen ein Stück an dem Bach entlang. Er hörte etwas und sagte: „Da vorn scheint ein Wasserfall zu sein!“
„Ja“, bestätigte sie, „da fällt das Wasser nach unten“.
Er wollte das gerne sehen, aber man konnte nicht bis an den Rand vordringen, das Wasser hatte eine so tiefe Rinne in den Stein geschnitten, dass man einige Meter vorher Halt machen musste.
„Von hier oben siehst du sowieso nicht viel. Das Schönste an diesem Wasserfall kannst du nur von unten sehen. Komm, nimm meine Hand, ich zeig es dir“.
Er ergriff die Hand der Elfe und sie flog mit ihm über die Klippe hinunter zum Waldboden. Nun konnten sie den Wasserfall in aller Ruhe betrachten. Es war nicht nur ein Naturschauspiel, sondern Bildhauer hatten Fische, Frösche, Krokodile, Schlangen und Nixen aus der Felswand geformt. Ihre Körper waren mit Perlen besetzt, die wie Wassertropfen wirkten. Die Nixen trugen außerdem wunderschöne, kunstvoll gearbeitete Perlenkolliers.
Die Tiere waren so gearbeitet, dass man nicht sah, wie oben das Wasser in sie hineinlief, damit sie es aus ihren Mäulern weit von der Steinwand hinweg spucken konnten. Die Nixen trugen große Gefäße, wo das Wasser hinten – also in den Boden – hineinlief und vorn als breiter Strahl hervor schoss.
Bevor all dies aber geschah, musste das Gebirgsflüsschen erst einmal vier riesige weiße Muschelschalen passieren, die mit funkelnden Edelsteinen geschmückt waren. Unten fiel alles Wasser in eine gewaltige polierte Granitschale, die mit einem zierlichen Mäander aus Gold versehen war. Aus der Schale floss das Bächlein sanft auf den Boden und schlängelte sich weiter durch das Land.
„Wohin führt der Bach?“, wollte Johannes wissen.
„Sei nicht so neugierig!“, rügte die Elfe und schwupps! war sie verschwunden.
Johannes folgte weiter dem Bache, er trottete einfach so dahin, ohne an irgendetwas zu denken. Da fiel ihm auf, dass auf seiner Seite des Baches überall Bergkristalle empor wuchsen. Sie wuchsen so dicht, dass er mit knapper Not einen Weg fand. Während er also aufpassen musste, wohin er trat, bemerkte er nicht, wohin der Weg ihn führt, bis er sich mitten in einer gewaltigen Amethystdruse befand.

Er blieb erst einmal verwundert stehen und das war gut so. Denn soeben betraten zwei sonderbare Geschöpfe die Druse von der anderen Seite. Johannes schmiegte sich in eine Nische, in der Hoffnung, dass er nicht entdeckt würde, denn die beiden sahen gar zu abenteuerlich aus. Er glaubte nicht, dass sie mit Menschen sanft umgehen würden.
Das eine war eine riesengroße Spinne mit haarigen Beinen, die aber dennoch aus Metall zu sein schienen. Sie glänzten jedenfalls metallisch und ihre Gelenke traten hervor, als wären sie mit Schrauben versehen. Am Kopf hatte diese Spinne ebenfalls dünne, wie Spieße abstehende Haare, zwei große, für Spinnen völlig untypische Ohren und drei Augen, die so beweglich waren wie die eines Chamäleons. Ihre Facetten funkelten trotz des geringen Lichtscheins, was die Szene noch gespenstischer machte.
Das andere Wesen war eine Frau, die einmal sehr schön gewesen sein musste, bevor irgendwer sie verhext hatte, wodurch nun ihr halbes Gesicht von einer Raubtiermaske bewachsen war.
Die beiden machten ein paar Schritte in die Mitte des Raumes, dann sprach die Tigerlady: „So, Rachmoto, hier dürften wir vor aller Augen und Ohren sicher sein. Sprich, wird dein Herr Olgromuz herkommen und diese Welt überfallen?“
„Ja, schöne Tziara, das wird er. Das Heer steht bereit und ist sehr gut ausgerüstet, es sind Waffen dabei, von denen man hierzulande gar keine Vorstellung hat. Die ahnungslosen Elfen werden zu Tausenden sterben. Aber eine will er lebend – die niedliche Lumina. Er hat sie gesehen, wie sie – völlig nackt übrigens – im Mondlicht tanzte. Nun will er sie haben, unbedingt“.
„Lumina interessiert mich nicht. Ihr Schicksal ist mir gleichgültig. Für mich und mein Volk sind nur die Amethyste wichtig. Ihr Spinokers werdet uns nicht so wie die Elfen damit versorgen und wenn, dann unter unannehmbaren Bedingungen. Wir brauchen die Kristalle! Und nirgends gibt es so schöne und reine wie hier. Also muss ich mir was einfallen lassen, wie die Gefahr abzuwenden ist“.
Sie trat einen Schritt zur Seite, als würde sie stark überlegen. Plötzlich zog sie ein Stilett und stach es der überraschten Spinne von unten in den ungeschützten Bauch. Grünes Blut spritzte nach allen Seiten und die Kreatur quiekte jämmerlich. Dann sackte sie zur Seite weg, zappelte noch einen Moment mit den langen Beinen und krepierte. Die Tigerlady hatte entweder einen Glückstreffer gelandet oder kannte sich in der Anatomie dieser Geschöpfe bestens aus. Sie beachtete das Spinnetier nicht weiter und verließ die Grotte.
Johannes überlegte, ob er etwas zur Rettung der Elfen beitragen könnte und dachte intensiv an Lumina in der Hoffnung, dass sie ihn höre, wenn er innerlich nach ihr rief. Aber das war natürlich Unsinn. Jedoch – seine Bemühungen blieben nicht vergebens. Er hörte ein leises Kichern neben sich: „Was ist los, du großer Mensch, fürchtest du dich vor der toten Kreatur dort?“
Johannes blickte neben sich und sah eine winzige Elfe mit durchscheinenden Flügeln, die verschmitzt lächelnd zu ihm aufschaute.
„Euer Land und Leben ist in Gefahr!“, sprudelte er flüsternd heraus. Er fürchtete, die Tigerlady könnte noch in der Nähe sein und wagte nicht, laut zu reden. Auch die Elfe wird ja wohl ihren Grund gehabt haben, warum sie nur leise gekichert hatte.
„Ach ja?“, höhnte das Elflein, „echte Gefahr?“
„Ja“, entgegnete Johannes etwas unwirsch. „Hier war noch eine zweite Person. Ich habe gesehen, wie diese grässliche Spinne getötet wurde und habe gehört, dass ein gewisser Herr Olgromuz herkommen wird mit schrecklichen Waffen und euer Land mit Krieg überziehen wird. Ihr werdet alle sterben!“
Schlagartig wurde das Elflein ernst. „Dann muss ich die anderen warnen. Zum Glück sind wir nicht völlig unvorbereitet. Wir haben schon was munkeln hören und unsere Waffen ein wenig verbessert“.
Das kleine Wesen erhob sich in die Luft und flog schnurstracks zur Grotte hinaus. Johannes aber wurde mitgezogen. Er fühlte sich plötzlich leichter als eine Feder und schwebte willenlos hinter der kleinen Elfe her. Aber es war ihm keineswegs unangenehm. In gewisser Weise genoss er den Flug.

Nach kurzer Strecke ließ die kleine Elfe sich auf einem großen Fliegenpilz nieder und begann einen auf- und abschwellenden Singsang. Es klang ziemlich gruselig. Johannes, der solche Klänge ähnlich einem Didgeridoo bei dieser zierlichen Person niemals vermutet hätte, bekam eine Gänsehaut.

Nach und nach versammelten sich sonderbare Geschöpfe um den Pilz. Als mehr als fünf beisammen waren, begann das Elflein zu reden: „Hört, Brüder und Schwestern, wie man bereits ahnte, kommt der böse Herr Olgromuz nun tatsächlich mit seinen Söldnern her und will unser Land zerstören und uns alle töten“. Dies kam beinahe leise und traurig aus ihrem Mund. Dann erhob sie die Stimme zu einem kraftvollen Alt: „An die Waffen, Kameraden! Schützt und verteidigt unsere Heimat! Werft den alten Bosnickel hinaus! Jagt ihn bis in die Hölle, wo er bleiben sollte bis in alle Ewigkeit!“

Die Märchengeschöpfe, die anfangs noch dachten, dies sei ein neues Spiel, wurden ernst und zogen fort, um alle anderen zu warnen und zu mobilisieren.
Bald wimmelte der Wald von Spießen, Speeren, Pfeil und Bogen sowie Hellebarden. Johannes hoffte mit wild klopfendem Herzen, dass das gegen das Heer des Herrn Olgromuz ausreichen wird.

Der ließ nicht lange auf sich warten. Seine bis an die Zähne bewaffneten und stark gepanzerten Orks drangen mit Kriegshörnerklang und wüstem Gebrüll auf die Elfen ein. Der Gestank ihrer ungewaschenen Leiber verursachte nicht nur bei Johannes einen Brechreiz.

Den Orks folgten Schwärme riesiger Hornissen, die mit ihren langen Stacheln wahllos auf die zarten Elfen einstachen. So manch tapferer Elfenkrieger ließ seine Waffen fallen und flüchtete ins Unterholz.
Aber das waren auch die Momente, in denen kleine Mädchen zu heldenhaften Kriegerinnen wurden und sanfte Lyrikerinnen zu listenreichen Furien.

Die Schlacht wogte auf und nieder und bald bekam der Feind die Oberhand. Die Nachtelfen griffen in ihrer Verzweiflung zu der List, die Welt restlos zu verdunkeln, aber da kam es vor, dass Freunde ihre Freunde nicht erkannten und niederstachen.

Als die Verzweiflung auf ihrem Höhepunkt war, kam ein breiter Lichtstrahl vom Himmel herab. Die allerhöchste Göttin der Tierelfen mischte sich von ihrem Schiff aus in das Geschehen ein. Als erstes sendete sie einen Zauberspruch zu den wütenden Hornissen, damit sich diese gegen Olgromuz und sein Heer wendeten und die Elfen in Ruhe ließen. Dann leitete sie ihre Helden und Heldinnen mit weiser Hand zu strategisch wichtigen Punkten, damit sie die Angreifer wirkungsvoll bekämpfen können.

Die Tigerlady war auch nicht untätig, sie hatte all ihre Kameradinnen zusammengetrommelt. Tigra, die Herrin aller Tiger, Löwka, die Herrin aller Löwen, Leopra, die Herrin der Leoparden, Irba, die Herrscherin über die Irbisse, Gepra, Herrin der Geparden, Luchsa beherrscht die Luchse, Panthera die schwarzen Panther, eine jede mit zahlreichem Gefolge und speziellen Gehilfen wie zum Beispiel Munga, die treue Dienerin der Tigerkönigin.
Löwka hatte sogar die Geier mitgebracht und Gepra die Hyänen. Auch die Wölfe waren herbeigerufen worden, jedoch sie trafen nicht rechtzeitig ein, weil ihnen eine Schafherde in den Weg gekommen war. Da machten sie erst einmal Mittagspause. Und als sie dann endlich eintrafen, waren sie wegen ihrer vollen Bäuche zu langsam im Kampf und wurden reihenweise abgeschossen. Das gab ein Geheule!

Während Johannes auf das Gemetzel schaute, wünschte er sich, ebenfalls bewaffnet zu sein, um den Elfen beistehen zu können. Er wünschte sich, in einem Kampfflieger zu sitzen und Raketen und Laserkanonen abfeuern zu können. Aber leider ging bei ihm der Wunsch nicht in Erfüllung wie für einen Piloten in der Scifi – Serie „Babylon 5“.
Darum beobachtete er weiter die tapferen Krieger und Kriegerinnen. Besonderen Reiz hatte für ihn Leopra mit ihrer knappen Bekleidung. Aber auch ihre Geschicklichkeit und Treffsicherheit waren beeindruckend.
Nachdem sie alle Pfeile verschossen hatte, von denen kaum einer sein Ziel verfehlte, kämpfte sie mit ihrem Langschwert weiter. Eine Waffe, die zu führen einem Manne manchmal schwer fiel. Sie aber schwang das schwere Gerät mit einer Leichtigkeit, als wäre es eine Nadel. Gut gezielt trennte sie den Orks Arme und Köpfe ab, je nachdem, wie der Feind erreichbar war.
Zwischendurch hatte sie sogar noch Zeit, ihre tapfere Mitstreiterin Panthera mit einem Lächeln zu begrüßen. Dass die beiden nach der Schlacht noch einen ausgiebigen Plausch halten werden, war somit vorprogrammiert.
Panthera wütete ebenso mit ihrem Schwert wie Leopra. Die beiden waren schon als kleine Kinder von dem legendären Schwertkampf – Lehrer Daisho unterrichtet, nach welchem später das Langschwert der Samurai benannt wurde.
Vor der Schlacht hatte sie hingebungsvoll um Kraft und Ausdauer gebetet, was ihr offensichtlich gewährt wurde, denn sie schlitzte die Orks auf, ehe sie es sich versahen.
Bald kam der Zeitpunkt, wo ein vernünftiger Mensch den Rückzug befohlen hätte. Nicht so Olgromuz. Er ließ seine Geschöpfe kämpfen bis zum letzten Blutstropfen, flüchtete aber selber auf einem mechanischen Drachen, dessen Flügelgelenke entsetzlich quietschten.

Eine Elfe hatte ihren jungen Sohn losgeschickt, das Wasser des Lebens zu holen. Am Ende der Schlacht traf er tatsächlich ein mit einem Beutel voll Wasser, aber ein letzter Schuss traf den Beutel und der Segen ergoss sich über den Urwald. Es gab eine Vegetationsexplosion, wobei ein rasant wachsender Dorn ein Elfenkind aufspießte. Dieses unnötige Kriegsopfer sollte in die Geschichte eingehen als Mahnung gegen Feindseligkeiten.


Johannes vernahm ein Rauschen, das nur von großen Flügeln herrühren konnte. Er blickte zum Himmel auf und sah, dass ein merkwürdiges Tier sich nahte. Ein Pegasus mit einem Einhorn – Kopf! In einem eleganten Bogen flog er auf Johannes zu und rief: „Ich weiß, wo deine Freunde sind“.
„Ja?“, freute sich Johannes. „Bitte sag es mir!“
Das Zauberwesen drehte eine Runde um Johannes herum und setzte dann zur Landung an. Natürlich musste es nun noch eine Strecke traben, bevor es vor Johannes zum Stehen kam, ohne ihn von oben bis unten mit Erde und Grashalmen zu überschütten. Es schnob durch die Nüstern: „Erst musst du dir eine ganz unglaubliche Geschichte anhören“.
Johannes runzelte die Stirn und biss sich auf die Lippe. „Gut, erzähle“, resignierte er schlussendlich und hoffte, dass die Geschichte nicht allzu lang sein würde.
Der Einhorn – Pegasus scharrte mit den Hufen, ging ein paar Schritte im Passgang und machte es sich im Grase gemütlich. Er faltete umständlich seine Flügel zu den Seiten und brachte seinen buschigen Schwanz in eine für ihn angenehme Position. Bei alldem nahm er seine langen, tadellos weißen Zähne zu Hilfe.
Auch Johannes legte sich ins Gras, kaute an einem Grashalm und die Geschichte begann:
In einem fernen Land lebte einst ein reicher Bojar mit seiner Familie. Als seine Frau ihm nach sieben Töchtern – Aglaja mit den Sternenaugen, die schöne Natascha, Clarissa mit der Sammethaut, Warwara mit der hohen Stirn, Ludmila mit den sanften Händen, Nadja mit den flinken Beinen und die kleine Sonja - endlich einen Sohn, der selbstverständlich Iwan getauft wurde, gebar, war die Freude riesengroß.
Aber wo viel Freude ist, ist manchmal auch viel Leid. So war es auch in diesem Fall. Ein böser Zauberer hatte ein Auge auf die zweitälteste Tochter geworfen, denn sie war wunderschön. Sie wollte jedoch nichts von dem hässlichen alten Mann wissen, schon weil sie sich in einen jungen Recken verguckt hatte. Der allerdings wusste gar nichts davon, aber das spielt in dieser Geschichte eigentlich auch gar keine Rolle.
Also der böse Zauberer war beleidigt, dass die schöne Natascha für ihn nicht zu haben war und er entführte den kleinen Iwan, das herzige Brüderchen der schönen Natascha. Das tat er nicht etwa höchstpersönlich, nein, für so etwas hatte er seine garstigen Gehilfen.
Er hatte viele Gehilfen: die Spinne Haltdichfest, die Krake Schlenkerum, die Ratte Raubzahn, den Geier Schmutzfraß und viele andere. Da war schnell einer gefunden, der für ein paar Streicheleinheiten bereit war, diese schändliche Tat zu begehen!
Mir ist nicht erinnerlich, wer den kleinen Jungen entführte, ich weiß nur, dass er an einem Ort versteckt wurde, der natürlich streng geheim war. Nur der Zauberer wusste, wo der Junge war und wie man zu ihm gelangen kann. Natürlich mit einem Zauberspruch, der nur ihm allein bekannt war.
Hin und wieder hexte er sich in das Versteck, um dem Jungen Nahrung zu bringen oder um ihn zu quälen. Es machte dem ausgewachsenen Mann Vergnügen, den kleinen Jungen immer wieder im Zweikampf zu besiegen. Er rang nicht nur des Kampfes wegen mit dem Schwächeren, sondern auch, um seinen zarten Körper unter sich zu spüren. Das sollte ihm Nataschas Nähe ersetzen.

Jeder Ort auf der Welt ist auch auf normalem Wege zu erreichen. Also machte sich Natascha auf den Weg, um das geliebte Brüderchen wieder zu finden. Die Eltern und Geschwister weinten sich ja schon die Augen aus!
Sie nahm genügend Wegzehrung mit, zog sich wetterfest an und wickelte sich auch noch in den langen Schal, den ihre Amme einst für sie gestrickt hatte. dieser Schal hatte ihr schon oft Glück gebracht und vielleicht half er ja auch diesmal.
Sie verbeugte sich bis zum Gürtel vor allen Familienangehörigen und verließ das Elternhaus. Alle winkten ihr noch lange nach.
Die kleine Hündin Belka lief ihr solange hinterher, bis sie endlich bemerkte, dass Natascha nicht nur einen kleinen Spaziergang machen wollte, sondern weit in die Welt hineinlief. Da kehrte sie traurig um.
Am Ortsausgang traf Natascha eine alte Frau, die als weise Seherin galt. Aber diese Frau war neidisch auf den Kindersegen der Bojaren – Familie. Namentlich den kleinen Iwan hätte sie lieber selber gehabt, als ihn bei seiner Mutter aufwachsen zu sehen, wegen der sie der Bojar seinerzeit verstoßen hatte. Nicht mal als Geliebte hatte er sie behalten wollen!
Als Natascha nun fragte, ob sie wohl wüsste, wer ihren kleinen Bruder entführt hat, höhnte sie nur: „Entführt? Blödsinn! Der Bengel is abgehauen, weil er das ewige Verhätscheln satt hatte! Ein Junge muss auch mal was unternehmen dürfen und die Sau rauslassen, er muss es auch mal krachen lassen dürfen! Darum is er weggegangen von euch!“
Was sollte Natascha dazu sagen? Iwan war erst sieben Jahre alt und hatte mit Sicherheit noch keine derartigen Ambitionen. Sie verneigte sich stumm und ging weiter. Sie wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit das Gebirge erreichen, wo ebenfalls eine weise Frau lebte. Sie hoffte ebenso wie ihre Eltern und Geschwister, dass diese ihr weiterhelfen würde.
Sie schritt tapfer fürbass, doch ehe sie es sich versah, sank die Nacht hernieder und sie schien den Bergen nicht einen Schritt näher gekommen zu sein. Es war, als hätte ein Zauber das Gebirge verpflanzt.
Da sie in der Finsternis nicht weiterkonnte, bettete sie ihr müdes Haupt auf einer Moosbank und unversehens war sie auch schon eingeschlafen. Im Traum erschienen ihr die Geschwister. Manche nur schemenhaft, andere klar und deutlich. Sie wandelten umeinander und wisperten unverständliche Worte. Natascha musste sich stark konzentrieren, um endlich zu verstehen, was sie sagten: „Geh nicht zum Gebirge! Da kommst du dem Zauberer Kokomos zu nahe, er hat dort eine kleine Burg, das haben wir heute zufällig erfahren. Wende dich nach Süden, da lebt der weise und gütige Bragomil, der wird dir sicher weiterhelfen“.
Am anderen Morgen wusch Natascha sich am nahen Bache, trank von dem kühlen Nass und aß von ihrer Wegzehrung. Dann lief sie wieder auf das Gebirge zu. Bald jedoch stoppte sie ihre Schritte, denn sie erinnerte sich daran, was sie in der Nacht von ihren Schwestern erfahren hatte. Sie blickte zum Himmel auf, um festzustellen, wo Süden ist. Die Sonne steht mittags im Süden, aber es war ja früher Morgen. Die Sterne waren auch schon verblasst und konnten ihr mit ihren Bildern nicht weiterhelfen. Da schaute sie zu den Bäumen. Die sollen ja immer an ihrer Nord – West – Seite bemoost sein. Nun hatte sie wenigstens eine halbwegs genaue Richtungsbestimmung und lief drauflos. Zu Mittag würde ihr die Sonne einen klareren Hinweis geben.
Gegen Mittag kam sie an einen Buchenhain, wo die Bäume voller Früchte waren. Sie beschloss, ihre Vorräte durch ein paar Bucheckern zu bereichern und sammelte eine erkleckliche Menge in einem Zipfel ihres Schals. Plötzlich sprang ein sonderbares Wesen hinter einem der Bäume hervor und keifte: „Was tust du hier in meinem Haine?“
Vor Schreck ließ Natascha den Schalzipfel los und die Bucheckern purzelten auf die Wiese. Schwupp! hingen sie wieder an den Bäumen, unerreichbar für Menschenhand.
„Iiich . . . ich . . .“, stammelte Natascha und wusste nicht, was sie dem Geschöpf, das halb Wiesel und halb Mensch war, antworten sollte.
Etwas freundlicher fragte der Gnom: „Wozu brauchst du meine Bucheckern?“
Natascha senkte die Lider und erwiderte schüchtern: „Ich wollte damit meine Wegzehrung strecken, denn ich habe einen sehr weiten Weg vor mir“.
„So, so“, murmelte das Zauberwesen. „Wo soll s denn hingehen?“
„Ach, wenn ich das wüsste“, schluchzte das Mädchen. „Der böse Zauberer Kokomos hat mein Brüderchen entführt und meine Eltern und Geschwister weinen sich die Augen aus. Ich muss Wanja finden und zurückbringen, unbedingt!“
Sie wischte mit dem Ärmel die Tränen fort und blickte hilfesuchend in das behaarte Gesicht ihres Gegenüber.
Der wiegte den kleinen Kopf, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und scharrte mit dem Fuß im Sande. Dann sprach er: „Kokomos ist wirklich ein ganz böser. Dein Bruder muss schnellstmöglich aus seinen Klauen befreit werden. Ich leihe dir meinen Schimmel, der bringt dich zu dem weisen und gütigen Bragomil, der wird dir sicher weiterhelfen“.
Natascha freute sich: „Das haben meine Schwestern heute Nacht im Traume auch gesagt!“
„Na, dann kann ja nichts mehr schief gehen“, schmunzelte der Gnom und pfiff nach seinem Schimmel Ataranas. „Steig auf, Bojarentochter, das Pferd bringt dich im Handumdrehen ans Ziel“.
Und wirklich – kaum, dass Natascha aufgesessen war, befanden sie sich schon vor einem kleinen Schlösschen. Hier wohnte der weise und gütige Bragomil, aber er war gerade nicht zuhause. Natascha verabschiedete sich von dem braven Ataranas, der im selben Augenblick auch schon verschwunden war.
Am späten Nachmittag kam Bragomil vom Kräutersammeln zurück. Endlich konnte Natascha ihr Anliegen vortragen. Der weise Mann lud sie zu einem Tee ein und hörte sie an. Dann bot er ihr an, bei ihm zu übernachten, denn der Morgen ist klüger als der Abend. Am anderen Tag wollten sie schon weiter sehen, wie Natascha ihr Brüderchen befreien könnte.
In der Nacht hatte sie einen sonderbaren Traum: Sie ging in der Tundra am Ufer eines sehr großen Sees spazieren, da begegnete sie einer Gänsefamilie. Die Gänse schnatterten durcheinander, wie es nun mal ihre Gewohnheit ist, aber sie verstand jedes Wort. Es war die Rede vom Futtersuchen, von schönen Gänserichen und davon, dass die Jungen recht bald das Fliegen lernen müssen, weil sie sonst im Herbst den Umzug nach dem Süden nicht bewältigen könnten. Das Meer, das es zu überqueren galt, war riesengroß, da durfte keiner müde werden!
Endlich bemerkten die Gänse das Menschenkind. „He, du große Gestalt, hebe dich von hinnen! Hau ab! Wir zwicken dich tot, wenn du uns zu nahe kommst!“, kreischten sie.
Natascha versicherte ihnen, dass sie niemandem etwas tut und nur auf der Suche nach dem kleinen Iwan sei, ihrem Brüderchen.
„So, so, Brüderchen“, schnatterten die Gänse besänftigt. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und berieten sich. Natascha überlegte, ob sie den um sie versammelten Jungtieren das Märchen von der Gänsemagd erzählen sollte oder lieber das von Zwerg Nase, wo ja eine Gans das Kräutlein Niesmitlust fand oder das von Hänsel und Gretel, die von zwei Gänsen über den Fluss getragen worden waren. Nebenbei sang sie ihnen ein altes Kinderlied vor:
Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh?
Das sind die lieben Gänslein, die haben keine Schuh.
Der Schuster hat’s Leder, keinen Leisten dazu,
er kann den lieben Gänslein auch machen kein’ Schuh.
Nach einiger Zeit trat die würdigste Gans auf Natascha zu und sprach: „Hör zu, du braves Menschenkind, du kannst uns helfen und wir dir. Gestern landete hier bei uns ein komisches Muschelschiff. Wir hatten so was nie zuvor gesehen und wollten es sofort zerstören, aber es hatte einen durchsichtigen Schutzpanzer um sich und versank im See und sagte dabei: „Ruft mich, wenn das Mädchen kommt!“
Nun vermuten wir, dass du damit gemeint bist. Wir werden das Schiff rufen und dich ein Stück begleiten, da können unsere Jungen wunderbar das Fliegen lernen“.
Natascha war hocherfreut, solches zu hören. Die Gänse liefen in das Wasser und riefen die kleine Nautilus. Sie stieg empor und Natascha stellte sich in den Bug des Schiffes. Sie schlang ihren Schal fest um ihren Kopf, denn es wehte ein kräftiger Wind. Der war auch nötig, denn der klitzekleine Propeller schaffte nicht viel. Darum hatte das Boot ein Segel. Ein wunderbares Segel, in das der Traumzauberbaum hineingewebt war.
So flogen sie einige Zeit über den See bis hinüber ans andere Ufer. Da kehrten die Gänse um und wünschten Natascha viel Glück.
Das konnte sie auch brauchen, denn noch wusste sie ja nicht, wohin das Schifflein sie tragen wird. Sie konnte nur hoffen, dass alles gut endet.
Am anderen Seeufer tat sich ein Gebirge auf. Je näher sie den Bergen kamen, desto dicker wurde die Luft. Aber nein, das war kein böser Nebel, es war ein Zauber, der die Nautilus unsichtbar machte, das Gebirge dafür aber durchsichtig. Natascha konnte tief in den Berg hinein blicken.
Dort sah sie ihren Bruder. Er trug nicht mehr das feine Bojarenkleid, sondern grobes Nesselleinen, das seine zarte Haut aufscheuerte. Natascha weinte, als sie das Blut sah.
Aber wie konnte sie ihren Bruder aus den Tiefen des Berges befreien? Zu allem Überfluss wurde er noch von zwei Monstern bewacht, die direkt aus der Hölle zu stammen schienen. Riesige Kreaturen, deren hässlich gezackte Schuppen weit abstanden. Ihre Augen funkelten glutrot, den Kopf zierten spitzige Hörner und aus dem schartigen Maul troff der Geifer. An diesen entsetzlichen Monstern kam keiner vorbei!
Da betrat Kokomos den Raum. Er stampfte mit dem Fuß auf und schon hingen die Monster kreischend an eisernen Ketten. Ihre Köpfe befanden sich plötzlich so hoch oben an der Wand, dass ihre Beine kaum noch den Boden berührten. Kein Wunder, dass sie vor Schmerzen jaulten!
Natascha dachte: Wenn er schon so grausam zu seinen Dienern ist, was wird er dann wohl alles dem armen kleinen Iwan angetan haben? Sie schluchzte leise.
Der Zauberer begann sich tanzend zu drehen. Er schwenkte die Arme hin und her und aus den weiten Ärmeln seines Zaubermantels schwebten reihenweise brennende Kerzen heraus. Während er sich so bewegte, sprach er in einem eintönigen Singsang:
Tausend Kerzen und ein Licht,
Zauber, tue deine Pflicht,
dass kein Lichtlein mir verlischt
und das Bübchen nicht entwischt.

Wozu braucht er einen Kerzenzauber?, überlegte Natascha. Er hat doch diese Höllenmonster, reichen die etwa nicht? Dienen die etwa nur dazu, meinen kleinen Bruder zu ängstigen? Wenn man sie da so hilflos an der Wand zappeln sieht, bekommt man ja geradezu Mitleid mit ihnen.
Indessen war Kokomos zu dem Jungen heran getreten: „Na, du zuckersüßes Muttersöhnchen, was meinst du, wird einer kommen, um dich zu befreien? Ich geb dich nur her, wenn ich dafür deine Schwester Natascha bekomme!“
„Die bekommst du nicht, und wenn ich deswegen sterben muss!“, grollte der kleine tapfere Held.
Als Natascha diese Worte vernahm, ging ihr das Herz auf. Sie war wild entschlossen, den Bruder zu befreien, koste es, was es wolle.
„Gemach, gemach“, säuselte die Nautilus. „Erst denken, dann handeln“, gemahnte sie. Natascha setzte sich hin und dachte nach. Sie wiederholte im Geiste das Sprüchlein, das der Zauberer zu den Kerzen gesagt hatte. tausend Kerzen und ein Licht . . .
Ja, in dem Kerker schwebten wohl tausend dicke Kerzen mit großen, rußenden Flammen. Aber nahe den Ungeheuern stand eine kleine weiße Kerze mit klarer, goldener Flamme. Das konnte das Licht sein! Sie konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf diese Kerze, wollte das Licht ergründen.
Sie konzentrierte sich, bis ihr ganz warm wurde. Plötzlich durchdrang ein Brüllen den Kerker, als sei die Hölle los.
Sie öffnete die Augen und sah, dass die Monster ihrer Ketten ledig waren und sich auf den Zauberer gestürzt hatten. Sie zerfetzten ihn in kleine Stücke. Iwan sah das mit Schrecken an – was würde danach geschehen?
Die dicken Kerzen fielen um und trudelten zu Boden, verloschen und rollten auf Natascha zu. Ein Tunnel entstand. Iwan entdeckte ihn und ergriff die Flucht. Natascha lief auf ihn zu und bald lagen sich die Geschwister in den Armen. Da bemerkten sie die Monster. Die wollten auch aus dem Kerker heraus! Schnell nahm Natascha das Brüderchen auf den Arm und rannte Richtung Nautilus. Aber die Monster holten sie ein, gerade in dem Augenblick, als die ersten Sonnenstrahlen am Horizont erschienen. Da verwandelten sich die Höllentiere in kleine schillernde Eidechsen, die munter über den See an Land schwammen. Dort angekommen, wedelten sie mit den Schwänzen, als wollten sie dankend „Lebewohl“ sagen.
Das war noch mal gut ausgegangen! Zuhause freuten sich alle über die glückliche Heimkunft des geliebten Sohnes und die kleine Hündin Belka sprang laut schnarchend an Natascha hoch. Quatsch, sie bellte laut vor Freude“.
Der Pegasus unterbrach seine Erzählung mit einem erstaunten Ausruf: „Wer schnarcht denn hier? So eine Unverschämtheit! Johannes, du hattest doch versprochen, mir zuzuhören?“
Er stupste den Schnarchenden in die Seite.
„Oh, Verzeihung“, stotterte der, „du duftest so gut nach Lavendel, darum bin ich eingeschlafen. Es ist der Duft meiner Bettwäsche, ich kann nicht dafür, es ist die reine Gewohnheit . . .“.
Der einzigartige Pegasus aber knurrte: „Faule Ausrede! Zur Strafe dafür, dass du eingeschlafen bist, sage ich dir nicht, wo deine Freunde sind, so!“, und er erhob sich flügelschlagend in die Lüfte.
Johannes blieb tief enttäuscht zurück und überlegte, wie das Märchen wohl ausgegangen sein könnte, von dem er nur den Anfang vernommen hatte.


Johannes schritt weiter auf dem Waldweg aus. Plötzlich hörte er ein helles Klopfen, ähnlich dem Klange einiger Fernseh – Werbespots, wo jemand von innen an die Mattscheibe klopft.
„Das kann doch wohl nicht möglich sein, dass hier irgendwo ein Fernseher steht!“, dachte er und blickte sich aufmerksam suchend um. Schräg links von sich sah er eine überdimensionale Flasche, auf deren Boden ein junger Mann in edler Kleidung stand und verzweifelt mit den Armen ruderte. Schnell lief Johannes zu ihm.
„Was ist Ihnen denn passiert?“, fragte er den Unglücklichen.
„Ach, ich mag gar nicht darüber reden! Ich wollte eine Königstochter freien – du musst wissen, dass sie WUNDERSCHÖN ist – aber leider ist sie auch hochmütig. Sie forderte, dass ich ihr eine Feder vom Feuervogel hole. Der aber lebt bei dem Zauberer Hardadobranski in Siebenbürgen. Nach Siebenbürgen zu gelangen, war nicht schwer, aber dass der Weg durch das Gebirge immer steiler und unwegsamer wurde, je näher ich der Burg des Zauberers kam, hätte mir eine Warnung sein sollen. Sicher war ich längst entdeckt und würde keine Chance bekommen, in die Burg hinein zu gelangen. Aber was tut man nicht alles für eine schöne Frau!
Du hast diese Erfahrung sicher auch schon gemacht, nicht wahr, mein Freund?“
Johannes seufzte. „Ja, schon, aber wie kamst du in diese verflixte Flasche?“
Der Jüngling verzog das Gesicht: „Für einen Zauberer scheint so was keine Schwierigkeit zu sein. Als ich endlich vor dem Tor seiner – übrigens recht zierlichen – Burg stand, trat er mit dem Feuervogel auf der Hand auf seinen Balkon und rief mir von dort aus zu: „An meinen Feuervogel kommst du nicht heran!“
Ich entgegnete mutig: „Ich brauche aber eine Feder von dem Vögelchen!“
Darauf lachte er: „Du Flasche willst ein Held sein? Vergiss es!“
Dann grinste er und meinte: „Flasche ist gut. Darin kannst du die nächsten Jahre leben. Ab mit dir in den Dschungel!“
Und im selben Moment fand ich mich hier wieder. Sieben Jahre sind seitdem vergangen und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich wieder hier heraus zu kommen, was anderes sehen und erleben und vor allem was anderes essen und trinken als diese mit Nährstoffen angereicherte Luft!“
„Mein Gott, sieben Jahre? Wie hast du das nur ausgehalten?“
„Ich hab Gedichte gemacht, zum Beispiel dieses:
Das Lied von der Freiheit
Sing mir ein Lied von der Freiheit,
der Freiheit, die jedermann kennt.
Ein Lied von besonderer Reinheit,
die tief in uns allen doch brennt.

Sing mir das Lied voller Süße.
So sanft wie ein Frühlingshauch
belebt es die trockenste Wüste
und mein müdes Herze mir auch.

O Freiheit, du teure, du holde,
wer je dich im Leben erblickt,
fühlt von dir sich viel mehr als vom Golde
im Herzen sich selig erquickt.“
„Toll!“, zollte Johannes Beifall. „Das könntest du glatt drucken lassen. Aber erst müssen wir herausfinden, wie du befreit werden kannst. Hat der Zauberer mit dem unaussprechlichen Namen auch dazu was gesagt? Das würde uns die Sache sehr erleichtern“.
„Ja, hat er. Es müsste jemand reinen Herzens und ohne sich einen Vorteil daraus zu schaffen, dreimal um die Flasche gehen und dabei zehn Zungenbrecher fehlerfrei hersagen, dann verschwindet die Flasche und ich bin frei“.
„Hm, zehn Zungenbrecher. Die soll man erst mal zusammen bekommen! Mal überlegen. Was kenne ich denn so an Zungenbrechern?“
Er zählte an seinen Fingern mehr als zehn auf.
„Schön, aber denke daran, du darfst dich nicht nur nicht versprechen, du musst auch in gleichmäßigem Tempo gehen und es so einrichten, dass du beim letzten Schritt die letzte Silbe sagst“.
„Olala, das dürfte der schwierigste Teil deiner Befreiung sein. Sei mir bitte nicht böse, wenn das erst beim zehnten Versuch klappt!“
„Ach, ich bin ja schon glücklich, dass du es versuchen willst . . .“, sprach der junge Mann mit Tränen in den Augen.
Und Johannes versuchte es. Ziemlich zügig kamen die verschachtelten Sätze aus seinem Mund und er achtete auch auf sein Schrittmaß. Intelligenter Weise zog er seine Kreise nicht zu nah an der Flasche, sodass er wohl genügend Zeit hatte, die schwierige Aufgabe zu erfüllen. Dennoch hatte er auf einmal nur noch fünf Schritte, aber drei Zungenbrecher noch dreimal aufzusagen. Er versuchte es in der Hoffnung, dass er den Versuch wiederholen könnte.
Natürlich war der Weg zu Ende, bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte.
Da grollte es aus den Wolken: „Noch so ne Flasche! Aber du hast mich amüsiert und ihr seid weit genug von meiner Burg entfernt. So sei der törichte Jüngling frei!
Außerdem habe ich mir längst etwas wesentlich Hübscheres eingefangen, was jetzt an seine Stell treten kann.“
Mit einem hellen Klingeln zerstob die riesige Flasche zu glitzerndem Staub. Der Staub rieselte zu Boden, aber auch der Mann. Kein Mensch kann sieben Jahre nur von Luft und schönen Gedanken leben . . .
Johannes sah es mit Entsetzen, aber dann senkte sich ein neues, viel größeres gläsernes Gefäß herab. Darin befand sich eine junge Frau, die sich ihrer Gefangenschaft anscheinend gar nicht bewusst war. Sie drehte sich hin und her und redete dabei mit allerlei Geschöpfen, die sie sich ausdachte und teilweise realisierten sie sich sogar. Da half sicher der Zauberer nach, aber so genau wollte Johannes das gar nicht wissen. Er wollte nur schnell weg von hier!
Und so rannte er so schnell er irgend konnte auf s Geratewohl in den Wald hinein. Er sprang über Wurzeln und abgefallene Äste und es war schon ein kleines Wunder, dass er nicht stolperte und hinfiel.


Johannes hatte indessen nicht aufgegeben, nach seinen verschollenen Freunden zu suchen. Aufmerksam blickte er sich nach allen Richtungen um, ob irgendein Zeichen von ihnen zu sehen wäre. In regelmäßigen Abständen rief er ihr Losungswort „Jajak!“ und auch alle kompletten Namen, doch keine Menschenseele antwortete.

Dann ertönten liebliche Klänge. Johannes ging in die Richtung und hoffte, dort auf ein Wesen zu treffen, das ihm Auskunft über seine Freunde geben könnte.
Nach einer Weile bemerkte er, dass der Waldboden in einen flachen Stein überging, der beinahe wie eine Zunge aussah. Gleichzeitig entdeckte er ein Elfchen, das angestrengt seine Ohren spitzte und wie in Trance auf der Steinzunge entlang ging. Johannes erkannte gerade noch rechtzeitig, dass der Stein tatsächlich eine Zunge war, die in einen Schlund führt, aus dem die lieblichen Klänge kamen. Ein übler Trick, um an zartes Elfenfleisch zu kommen!
Er rannte an der Seite so schnell er konnte zu dem Elfenkind und riss es von der mörderischen Zunge herunter. Sofort schnappte das gewaltige Maul zu und ein widerliches Gurgeln kam aus dem Schlund.
Zum Glück handelte es sich nicht um ein Raubtier, sondern um eine Fleisch fressende Pflanze bisher unbekannter Art, die sich nicht fortbewegen konnte, aber eine total täuschende Mimikry annehmen.
Die kleine Elfe schrie erschreckt auf, trat um sich, kratzte, biss und spuckte, bis sie endlich begriffen hatte, dass „der garstige Mensch“ ihr soeben das Leben gerettet hatte. Da lief sie grün an und schämte sich sehr.
„Ist ja alles wieder gut“, tröstete Johannes das Kind. „Ist ja nichts Schlimmes passiert“.
„Doch“, wisperte die Kleine, „ich hab dich gebissen, das kann ganz böse enden für einen Menschen, denn Elfenspucke ist hoch giftig. Es tut mir aufrichtig leid. Ich werde meine Eltern rufen, vielleicht können sie das Schlimmste verhindern“.
Nun wurde Johannes blass. Er spürte bereits ein Gift in seinen Adern kreisen, da half es auch nichts, dass er heftig mit dem Handrücken über die kleinen Wunden strich.
Das Elflein verzog auf sonderbare Weise den Mund. Es war anzunehmen, dass es nach seinen Eltern rief, aber es war nicht das Geringste zu vernehmen. Offensichtlich verständigten sich die Elfen mit Ultraschall. Wahrscheinlich hatten sie deshalb so lange und spitze Ohren.
Nach einer Minute wendete die Kleine sich wieder Johannes zu und sagte: „Meine Mutter ist zufällig die Königin der Blauelfen. Erschrick also bitte nicht, wenn du sie jetzt gleich siehst. Sie ist, wie der Name schon sagt, völlig blau“.
Johannes lächelte, denn „völlig blau“ konnte auch ein Mensch manchmal sein . . .
Zu dem Kinde aber sagte er, gerade noch ein Lachen verbeißend: „Ich werde mich zusammenreißen“.
Und da erschien die anmutige Königin auch schon. Hastig schritt sie mit zornrotem Gesicht auf Johannes zu, bereit, ihm die Augen auszukratzen, denn ihr Kind konnte sie ja wohl nur deshalb zu Hilfe gerufen haben, weil der Kerl ihm etwas angetan hatte!

Gerade noch rechtzeitig klärte die kleine Prinzessin die Situation auf und die Königin schlug die Hand vor den Mund. Dann ächzte sie: „Bei Oberon! Dagegen ist kaum ein Kraut gewachsen! Du musst ganz schnell etwas vom Wasser des Lebens bekommen, sonst ist es aus mit dir“.
Johannes erwiderte gelassen: „Vom Wasser des Lebens? Ich glaube, davon habe ich vorhin schon ein paar Spritzer abbekommen. Vielleicht wirkt das ja nach?“
„Das können wir nachprüfen“, meinte die Hoheit und rief nach ihrem Medicus. Der erschien auf der Stelle, hielt sein linkes Ohr an Johannes Brust, horchte einen Moment und verkündete dann: „Es besteht nur eine geringe Gefahr. Dieser Mensch hat tatsächlich etwas vom Wasser des Lebens abbekommen, das neutralisiert das Gift zum größten Teil. Er ist jung und gesund, er wird das überleben, aber hin und wieder unerklärliche plötzlich auftretende Schmerzen haben“.
Die Königin dachte einen Moment nach, dann sagte sie: „Eine solche unangenehme Erinnerung an uns hat er nicht verdient, nachdem er meiner Tochter das Leben gerettet hat. Gib mal kund im ganzen Wald, dass wir heute noch ein großes Fest feiern ihm zu Ehren“.

Johannes wollte dankend ablehnen und sich lieber nach seinen Freunden erkundigen, aber das konnte er ja wohl ebenso gut während des Festes tun und außerdem konnte er da mehr als eine Elfe befragen. So folgte er der Königin zur großen Festwiese, wo viele, viele Elfen herumwuselten und alles schön dekorierten. Alle Blumen wurden vergrößert, alle Blätter bekamen Glanzlichter und die Stängel wurden teilweise versilbert.

Die sehr lange Tafel war mit Girlanden geschmückt, in denen etliche Edelsteine funkelten. Johannes erblickte Diamanten, Saphire, Smaragde, Rubine, Aquamarine, Türkise, Turmaline, Opale, Amethyste, Chalcedone, Achate, Granate, Lapislazulis, Quarze und Spinelle. Das Gefunkel, wenn ein Sonnenstrahl auf sie traf, war kaum zu ertragen. Aber Elfenaugen sind wohl anders gebaut als Menschenaugen . . .

Obwohl die Tafel bereits reichlich gedeckt war mit allem Guten an Speis und Trank, eilten doch noch immer reizend anzuschauende Elfen herbei mit immer neuen köstlichen Leckereien. Dann ließen sich alle im Grase nieder, wo sich sofort große, kräftige Pilze erhoben, auf denen man sehr bequem sitzen konnte. Das Fest konnte beginnen!
Hier und da sah man Akrobaten und Jongleure, die ihre Kunststücke darbrachten und im Handumdrehen hatte sich eine Musikkapelle von Libellen, Grillen und großen Käfern gebildet. Alle Instrumente waren vertreten!
Doch diese Kapelle gab nur ein kurzes Ständchen, dann umrundete ein Fanfarenzug die Wiese und verlor sich am Bachufer. Von dort erschien wie aus dem Nichts eine Dudelsackpfeifergruppe, die hinreißende Melodien spielte. Sie entschwand danach in den Wald. Von dort aber kamen Elfen, die auf ihren schillernden Libellen die gewagtesten Kunstflugmanöver vorführten. So manches Mal schrieen die Zuschauer erschrocken auf, wenn sie ein Unglück befürchteten. Jedoch es ging alles gut, die Kunstflieger hatten lange geübt und ihren Sport bis zur Perfektion gebracht.

Nun formierte sich das große Orchester wieder und spielte zum Tanz auf. Auch Johannes bewegte sich zu der harmonischen Musik. Die Elfen nahmen seine Hände und führten ihn in ihren Kreis, wo er jetzt sehr vorsichtig sein musste, um nicht versehentlich einem von diesen zarten Wesen auf die Füße oder sonst was zu treten.
Etwas später – die Tafel war noch immer nicht geleert, weil ständig nachgelegt wurde – tanzten nur noch die jüngeren Elfen, die älteren setzten sich zu einander und es wurde geredet und geschwatzt. Jetzt konnte Johannes ganz in Ruhe jede Elfe nach seinen Freunden fragen. Aber er erhielt ständig negativen Bescheid.
Erschöpft vom Tanzen und Herumlaufen setzte er sich letztendlich zu den Elfen. Sie beachteten ihn nicht weiter und eine begann zu erzählen, dass sie kürzlich bei Gnomen zu Gast gewesen sei, wo sie gut bewirtet wurde und man ihr allerlei kurzweilige Geschichten erzählte. Es war so lustig, dass sie schallend lachen musste. Alle waren so nett zu ihr, wie man es sonst kaum von Gnomen kennt.
Das hätte sie warnen sollen, aber gutgläubig, wie manche Elfen sind, fühlte sie sich wohl und ahnte nichts Böses. Das aber lauerte in Gestalt eines alten, nahezu zahnlosen Löwen hinter einem Gebüsch. Der alte Gelbpelz freute sich schon so auf den leckeren Happen, dass er auf eine trockene Wurzel trat. Die knackte natürlich und so war die Erzählerin gewarnt und konnte sich mit einem Flieh – Zauber entfernen.
Beifälliges Gemurmel folgte dem glücklichen Ende der Geschichte und wieder mal war festgestellt, dass man sich mit Gnomen lieber nicht einlassen sollte!
Die jungen Elfen tanzten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann wurde die Festwiese in Windeseile aufgeräumt und verlassen. Schnell begab sich ein jeder in sein Schlafgemach.



Johannes durfte mit großer Verwunderung feststellen, dass so eine Nacht in der Welt der Elfen nur eine Stunde dauert. Es wurde wieder hell und schon tummelten sich wieder alle auf der Wiese. Die Dudelsackpfeifer in ihren rot – gelben Uniformen, das große Orchester in dunklen Gewändern und der Fanfarenzug in lila – grüner Uniform übten neue Stücke ein, die Libellenflieger arbeiteten ihre Kunstflugfiguren weiter aus, wobei sie diesmal lederne Schutzhelme trugen, die Jongleure jonglierten mit ihren vielfarbigen glitzernden Bällen und Keulen, die Akrobaten in hautengen Glitzerkostümen feilten an ihren Kunststücken und die Kinder spielten und taten hier und dort mal mit, probierten alles aus, damit sie später wissen, was sie am besten können. Alles in allem ein heiteres Durcheinander mit System.
Plötzlich gab es ein großes Hallo, denn es kam Besuch. Ein drolliges Gnomenkind kam auf einer Libelle angeflogen und wollte an den Übungen teilnehmen. Leider gab es gleich in den ersten Minuten einen Zusammenstoß und der arme Junge zog heulend wieder ab. Na, hoffentlich gibt das nicht demnächst einen kleinen Krieg!
Weiterhin beobachtete Johannes, dass sich jeder sein Frühstück selber suchte und niemand auf ihn achtete.
Endlich trat eine ältere Elfe zu ihm, reichte ihm einen Salat und fragte: „Na, hat dir irgendjemand Auskunft geben können über deine Freunde?“
„Leider nein“, seufzte Johannes.
„Warst du denn schon überall in unserer Welt?“
„Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie groß eure Welt ist. Ich war im Gebirge, im Wald, auf Wiesen – was gibt es noch?“
„Wenn du aufgegessen hast, führe ich dich zu einem Ort, da wirst du staunen!“
Obwohl Johannes sehr gespannt war, nahm er sich die Zeit, sein Frühstück gründlich durchzukauen, denn nichts fördert Verdauungsstörungen so sehr wie hastiges Schlingen.
Die Elfe wartete geduldig, denn Johannes tat genau das, was sie ihren Kindern auch immer geraten hatte. Dann ging sie mit ihm zum Waldrand und stellte sich dort mit ihm zusammen auf einen Feldstein, in den eine flache Mulde geschnitten war. Sie nahm ihn bei der Hand und murmelte eine Beschwörungsformel und sofort sauste der Stein quer durch den Wald zu einem kleinen See.
An einer Stelle führten ein paar Stufen zum Wasser hinab. Die Elfe beugte sich sacht über das Wasser und zwitscherte wie ein Delphin. Zuerst schwammen einige Seerosen auf sie zu, dann tauchte ein Delphin auf.
„Womit kann ich dir dienen, holde Serafima?“, fragte er knarzend und grunzend.
„Ich habe hier einen Menschen, der nach seinen Freunden sucht. Zeige ihm bitte eure Welt, vielleicht findet er sie dort. Hier bei uns war seine Suche vergeblich“.
„Dann musst du ihm aber deine Schuppe geben, die du einst von uns erhalten hattest. Die Schuppe, die einen Lungenatmer vor dem Ertrinken bewahrt!“
„Ja“, erwiderte die Elfe schlicht.
Der Delphin hakte nach: „Es ist ungewiss, ob du sie zurück erhältst, denn du weißt ja, bei uns weht ein anderer Wind als hier oben in eurer lustigen Welt!“
„Ich denke, das ist mir die Sache wert“, meinte sie selbstsicher.
Sie drückte Johannes eine große Schuppe von einem Haifisch in die Hand und sprach: „Die darfst du auf gar keinen Fall loslassen. Sonst würdest du sofort ertrinken, denn er führt dich jetzt in die Tiefsee“.
„In die Tiefsee? Hilft denn die Schuppe auch gegen den Tiefendruck?“ Johannes war skeptisch.
„Du wirst nichts spüren, was schädlich für dich wäre“, beruhigte Serafima. „Du wirst auf dem Meeresgrund spazieren gehen wie hier oben. Du wirst keine Caissonkrankheit bekommen und auch keine Druckkammerbehandlung brauchen“.
Johannes umschloss die Schuppe fest mit seiner Hand, bedankte sich und stieg zu dem Delphin ins Wasser.
„Na endlich“, sagte der. „Viel länger hätte ich mein Maul nicht aus dem Wasser halten können!“
Johannes freute sich, dass das Wasser angenehme Körpertemperatur hatte und ließ sich, als das Wasser tiefer wurde, einfach plumpsen, um dann zu schwimmen.
Der Delphin schwamm langsam neben ihm her und fragte: „Was sind denn deine Freunde so für Leute?“
„Wir sind Studenten und wollten im Urwald Urlaub machen. Dabei haben wir einander aus den Augen verloren. Ich mache mir echte Sorgen, denn es sind auch zwei Mädchen dabei, die vielleicht weniger widerstandsfähig sind als die beiden Jungs“.
„Aha, wieder mal typisch für euch Menschen. Es geht immer nur um Weiber!“
Johannes sah das breite Grinsen im Gesicht des Tieres und zuckte die Schultern: „So kann man s auch sehen. Gibt es denn überhaupt eine Hoffnung, dass ich meine Freunde in deiner Welt finde?“
„Klar doch. Zu uns kommen täglich irgendwelche Menschen. Die meisten allerdings als Leichen“.
„Na, du kannst einen vielleicht aufmuntern!“
Johannes bemühte sich, dem plötzlich schneller schwimmenden Tier zu folgen. Aber er sah nur noch die kräftige Schwanzflosse zum Abschied winken, dann war er auf sich gestellt.
Als er so überlegte, was er nun sollte, tauchte neben ihm eine Nixe auf. Ihm blieb vor Staunen die Spucke weg, aber wo es Elfen und sprechende Delphine gibt, da kann ja wohl auch eine Nixe sein, oder?
Das Fabelwesen sagte: „Sei dem guten Bluefin nicht böse. Er hat noch mehr zu tun, als auf einen Menschen aufzupassen. Darum hat er mich gebeten, dich weiter herumzuführen. Ich heiße Meerade. Was möchtest du denn gerne sehen?“
„Ich heiße Johannes und eigentlich möchte ich nur meine Freunde finden, vier junge Menschen, zwei Mädchen und zwei Jungen. Wenn du mir dabei helfen könntest, würde ich mich sehr freuen“.
„Aha, vier Menschen. Wo sind sie denn ertrunken? Wenn ich das weiß, kann ich dich ganz schnell hinbringen“.
„Aber es ist doch gar nicht sicher, dass sie ertrunken sind. Vielleicht sind sie noch an Land, vielleicht haben sie aber auch so eine zauberhafte Schuppe bekommen und gehen hier spazieren!“
„Letzteres wohl kaum. Alle derartigen Vorkommnisse werden sofort an alle Unterwassergeschöpfe gemeldet, damit keiner einen Fehltritt tut. Ich wüsste also davon. Bleibt nur noch die Möglichkeit, dass sie noch an Land sind. Ich zeige dir also den Weg zum Ufer. Folge mir“.
Und sie schwamm los. Sie glitt durch das Wasser wie eine Schlange und Johannes musste seine letzten Kraftreserven aufbringen, um ihr folgen zu können. Bald dämmert ihm, dass sie nicht in die Richtung schwamm, aus der er gekommen war, sonst wären sie längst angekommen. Er rief: „Hallo, wohin bringst du mich?“
„An Land, Süßer!“, trällerte sie.
„Ja, aber wo dort? Wir waren in Brasilien im Urwald gelandet, dort müssen meine Freunde sein!“
„Ja, ja, Amazonas, ich weiß. Nun denke mal ganz scharf an deine Freunde. Wenn sie noch leben, wird sich eine Verbindung ergeben, dann sind wir bald da“.
Johannes atmete auf. Er hatte bereits gefürchtet, dass die Nixe – Nixen können ja auch manchmal recht boshafte Geschöpfe sein– ihn in die Irre führt und irgendwo verrecken lassen könnte. Nun konzentrierte er sich auf seine Freunde, wobei ihm natürlich fast ausschließlich Jane und Annerose in den Sinn kamen.
Auf einmal drang von weit her ein zauberhafter Gesang an sein Ohr. Die Nixe hielt zögernd darauf zu, wurde aber bald immer schneller. Johannes folgte ihr. Nach kurzer Zeit erreichten sie das Ufer, einen Nebenarm des Amazonas. Da stand ein kleines Mädchen mit gefalteten Händen und sang. Ihre Zuhörer waren Krokodile, die ganz still lauschten und dabei weinten. Echte Tränen, nicht jene, die sie heraus pressen, wenn ein Happen zu groß war für ihr Maul.
Die Nixe war von dem Gesang völlig paralysiert, schwamm weiter auf die Krokodile zu.
„Halt!“, rief Johannes. „Sie könnten dich töten!“
Aber Meerade hörte nicht.
„Was soll ich nur tun?“, barmte er. „Poseidon, eine deiner Töchter ist in Gefahr!“, schrie er.
Und da tat sich tatsächlich etwas: Das Wasser kräuselte sich an einer Stelle und es bildete sich ein Spiegel in einem reich verzierten Rahmen. Aus dem Spiegel sprangen mehrere kleine Delphine mitten zwischen die Krokodile, die in alle Richtungen davon stoben.
Meerade erwachte aus der Trance und schwamm turboschnell davon.
Die Delphine kämpften keckernd und schnaubend gegen die Krokodile, wobei sie bestrebt waren, die Scharfzahnigen an Land zu treiben. Das kleine Mädchen schrie: „Was tut ihr denn, ihr dummen Tiere! Ich hatte die Krokodile doch schon lammfromm bekommen und jetzt sind sie wieder wild!“
Da lachten die Krokodile: „Wild zu sein ist unsere Natur! Du hattest uns lange genug unter der Fuchtel, jetzt wollen wir unsere Freiheit genießen. Mach, dass du wegkommst, sonst landest du in unseren Mägen!“
Johannes machte auch, dass er wegkam und dachte nicht erst lange darüber nach, wie dieses Kind wohl auf die Idee gekommen war, ausgerechnet Krokodile zu missionieren. Denn die wundersamen Gesänge waren allesamt Variationen auf Kirchengesänge.


Johannes war ziemlich kopflos geflohen. Aber wer will sich schon mit Krokodilen anlegen, die plötzlich ihre Freiheit wieder gewonnen hatten?
Nach einer Weile wagte er, wieder gleichmäßig zu atmen und ruhiger zu schwimmen. Er wagte sogar, den Kopf aus dem Wasser zu stecken und sich umzusehen. Er sah, dass er sich einem Ufer näherte. Die Stelle mit dem singenden Mädchen und den Krokodilen war steinig, hier aber säumte eine dichte Moosfläche das Ufer. Es war nur ein sehr schmaler Streifen zwischen dem Flussarm und dem Wald. Johannes beschloss, an Land zu gehen. Er verstaute die wundersame Haischuppe in seiner Hosentasche und ging ein paar Schritte bis zu einem Moospolster, auf welchem er sich etwas ausruhen wollte. Dabei bemerkte er, dass er völlig trocken geblieben war!
Wie er so auf dem Moos einher schritt, erspähte er zwischen den Bäumen ein Gebäude. Neugierig lief er darauf zu. Wo Gebäude sind, sind auch Menschen, so dachte er.
Aber als er das Bauwerk erreichte, war es nur eine Rotunde, die wie ein Bad aussah mit blauen Fliesen, auf denen allerlei Seegetier abgebildet war, alles mit Gold und Edelsteinen verziert. Ermattet ließ er sich auf die Bank aus Carrarischem Marmor sinken, die das gesamte Innere umrundete.
Zwei Meter von dieser Bank entfernt führten Stufen aus schwarzem Marmor in ein Wasserbecken. Gegenüber dem Eingang, durch den Johannes gekommen war, befand sich ein weiterer Zugang. Jeweils im rechten Winkel von diesen kleinen Toren versprühten Wasserfontänen ihr glitzerndes Nass.
Johannes sah den Wasserspeiern eine Weile zu, dann machte es sich bemerkbar, dass er so lange angestrengt geschwommen war. Er sank in einen kurzen, belebenden Schlaf.
Im Hinüberdämmern erblickte er eine junge Frau – eine Elfe oder Nixe – die nur mit einem dünnen Schleier bekleidet war und ebenso wie er gerade ins Traumland hinüber dämmerte. Allerdings lag sie scheinbar auf einer Woge, die sie immer weiter weg von Johannes zog, bis sie im Nichts verschwand.
Jedoch das Plätschern des Wassers nahm kein Ende. War es erst das Geräusch der Fontänen, das sich mit dem der glitzernden Woge mischte, die die Nixe davon trug, so waren es jetzt die Fontänen und ein Wasserklatschen gegen Marmorstufen. Dieses verstärkte sich mehr und mehr und endlich kam noch Kichern und Schwatzen hinzu – aus der Tiefe des Wasserbeckens erschienen fünf Nixen, eine immer noch hübscher als die andere. Schon das Entschwinden der einschlafenden Nixe ließ Johannes ahnen, dass die Rotunde unterirdisch mit dem Meer verbunden ist, jetzt war es offenbar.
Die Nixen entstiegen also dem Becken, setzten sich auf den Rand gegenüber, strichen ihre Gewänder glatt und ordneten ihre Frisuren und bei alledem schwatzten sie munter weiter.
Johannes hörte heraus, dass sie soeben bei einer „Kronenschau“ waren, wo die „Miss Krone“ gewählt wurde.
„Also ich hätte ja wetten mögen, dass Catlorina wieder das Rennen macht. Ihre Krone war viel schöner als im vorigen Jahr!“
„Ja, und so reich mit Diamanten besetzt! Wer weiß, welcher Menschen - Prinzessin die mal gehört hat!“
„Na, das kann uns doch egal sein. Jedenfalls war es nicht originell, sich mit Galeerengut zu schmücken. Nereus hatte extra gesagt, dass in diesem Jahr die originellste Krone gewählt wird und nicht die kostbarste. Alle, die so Menschenkram trugen, konnten gleich wieder gehen“.
„Ja, du mit deinem Diadem auch, obwohl es funkelt wie der Sternenhimmel!“
„Ach, ich hatte mir sowieso keine Gewinnchancen ausgemalt. Ich wollte nur sehen, was sich die anderen so einfallen lassen und ob du, liebe Karmandel, vielleicht einen Preis bekommst für deine Krone, die du aus verzauberten Eiskristallen zusammen gebastelt hast. All deinen Zaubervorrat hast du für diese eine Krone verwendet und dann das enttäuschende Urteil – zu ähnlich den Kronen der Menschen! Dabei ist der Gedanke doch wohl originell, eine Krone aus Eiskristallen! Ich finde sie wirklich wun – der – schön!“
„Danke, liebe Falconetta. Wenigstens einer, der Leistung anerkennt!
Unsere Freundin Brebelona ist ja leider auch durchgefallen mit ihrer originellen Idee, einen kleinen Lampenschirm als Krone umzufunktionieren. Dabei sah das so entzückend aus, wie die Fransen ihre Stirn umschmeichelten!“
„Ja. Aber leider auch Menschenkram und der gilt in diesem Jahr nichts. Wir waren ganz schön in Verlegenheit! Wer soll denn auch auf so was kommen, sich einen mit Perlen und Edelsteinen besetzten Tierschädel aufzusetzen wie die diesjährige Siegerin Achantrija?“
„Ach, kommt, ihr Lieben, werft ab allen Tand! Wir wollen uns wieder mit Muscheln und Seegras schmücken wie eh und je“, sprach Falconetta und entledigte sich ihrer funkelnden Diamantkrone.
Alle anderen taten es ihr gleich und behängten sich mit allerlei Meeresfrüchten und -gewächsen. Johannes sah ihnen schweigend zu. Bei diesem friedlichen Tun fiel ihm spontan die „Barkarole“ aus Hoffmanns Erzählungen ein. Er summte sie unbewusst ganz leise.
Nach einer Weile hob Karmandel eine große Schneckenmuschel an Falconettas Ohr: „Höre mal – kommt die Musik hier heraus?“
Falconetta lauschte und bestätigte: „Da scheint ein Menschenradio drin zu sein!“
„Du Scherzkeks“, kicherte Karmandel. „Ich glaube eher, dass der Mann da drüben gar nicht schläft, sondern uns beobachtet!“
Johannes richtete sich auf. Nachdem er wohl doch etwas zu laut gesummt hatte, war es jetzt zwecklos, sich weiter schlafend zu stellen.
Die Nixen kamen auf ihn zu. Von rechts und links schoben sie sich auf dem Beckenrand immer näher an ihn heran. Laufen konnten sie ja auf ihren Fischschwänzen nicht.
Johannes lächelte ihnen zu und sie lächelten zurück. Er bemerkte, dass eine auf das Kleid der anderen aufrutschte, sprang auf und fragte höflich: „Darf ich behilflich sein?“
Errötend lehnten die Nixen ab.
Brebelona sagte mit gequetschter Stimme: „Du könntest uns vielleicht sagen, wer von uns die schönste Krone hat?“
Verlegen kratzte er sich am Kopf: „Das ist nicht einfach, meine Damen. Jede ist schön und originell. An jeder ist von euch gearbeitet worden mit Geschmack und Sorgfalt und jede ist einmalig. Ich finde solche Wettbewerbe ziemlich . . . wie soll ich sagen . . . „
Er wand sich in großer Not, denn als Fremder sich in so was einzumischen, war meist ungesund. Als Paris der Aphrodite den Apfel reichte, gab es danach einen ziemlich großen Krieg in Griechenland! So was wollte er nicht riskieren.
Die Nixen, scheinbar blutjunge Mädchen, blickten ihn erwartungsvoll an. Er musste seine Rede irgendwie fortsetzen. Also sprach er: „Ich habe kürzlich bei den Elfen auch etwas Kronenähnliches gesehen. Sie hatten einfach Blumen und Blätter zu Kränzen gewunden und in ihr Haar geflochten, genauso wie ihr das Seegras und die Muscheln. Das ist viel hübscher und es schmückt ungemein in seiner Natürlichkeit. Das kann jede Frau tragen, sie kann dadurch nur gewinnen. Natur ist immer schön!“
Er hoffte inständig, dass er mit seiner Meinung richtig lag. Es schien der Fall zu sein, denn die entzückenden Blondinen warfen ihre Kronen weg.
„Eigentlich schade um das Edelmetall und die herrlichen Steine und Perlen“, dachte Johannes. Aber was soll s – er wollte nicht Reichtum, sondern seine Freunde wieder finden. Es wäre absolut märchenhaft, wenn sie jetzt aus den weggeworfenen Kronen springen würden, so wie sich die weggeworfenen Tannenzapfen vom Glasmännlein in „Das kalte Herz“ in blanke Golddukaten verwandelt hatten. Er seufzte tief.
Brebelona fragte: „Möchtest du gern diese Kronen haben?“
Ihre Augen glitzerten tückisch, denn sie wusste in etwa um die Gier nach Reichtum bei den Menschen. Gier aber wurde von den Naturgeistern gnadenlos bestraft. Nixen, Elfen, Zwerge und Gnome sind Naturgeister.
„Nein, nein“, wehrte Johannes ab. „Ich denke, ihr werdet sie noch brauchen. Zum Wegwerfen sind sie doch zu schade und zum Verschenken zu kostbar.
Nein, ich mache mir Sorgen um meine Freunde. Wir haben uns verlaufen und aus den Augen verloren. Ich würde sie allzu gern wieder finden, das würde mich sehr glücklich machen“.
Und er seufzte noch einmal, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Falconetta fragte mitleidig: „Wo hast du sie denn zuletzt gesehen?“
Vorsichtig nannte Johannes den Namen des Sees, zu dem sie wollten. Er hoffte, dass seine Freunde auch ohne ihn den richtigen Weg gegangen waren.
„Das ist ziemlich weit weg von hier“, bemerkte Falconetta. „Zudem hat der See keine Verbindung zum Meer, aber wir könnten dich etwas näher ans Ziel bringen. Den Rest müsstest du aber laufen“.
„Gern. Ich danke euch!“
Er holte die Haifischschuppe aus der Hosentasche und wendete sich dem Becken zu. Da erschien ein gleißendes Leuchten am hohen Himmel. „Ein Feuerdrache!“, kreischten die Nixen und stürzten sich kopfüber in das Becken, wo sie auch sehr schnell in den Tiefen verschwanden.
Johannes blieb fassungslos zurück. Er schmiegte sich eng an eine der Marmorsäulen, denn das gleißende Licht näherte sich mehr und mehr dem Pavillon. Nach einem Drachen sah es eigentlich nicht aus, eher nach einem Kometen. Beides tödliche Angelegenheiten. Darum war Johannes auch sehr froh, als der „Komet“ klitzekleine „Sterne“ in den Pavillon sandte. Sie formierten sich zu einer Säule, einer Säule aus tanzenden Sternchen. Der dadurch entstandene Wirbel sog etwas Wasser aus dem Becken. In den Wasserperlen brach sich das Licht, sodass jede Wasserperle zu einem kleinen Regenbogen wurde.
Johannes bestaunte das zauberhafte Geschehen mit offenem Munde. Dann beruhigte sich der wirbelnde Tanz, die Wasserperlen fielen wieder in das Becken zurück und aus dem fahlen Licht wurde blaue Dunkelheit. Allerdings wurde es nicht ganz dunkel, denn die kleinen Sterne flimmerten weiter und bildeten mal hier, mal dort einen kleinen Wirbel, bis sich die kleinen Wirbel zu einem immer größer werdenden zusammenschlossen. Daraus erwuchs eine Spindel über dem Boden, die plötzlich zu der in der Ferne gleißenden Kugel zurücksprang. Gleichzeitig schwebte eine junge Frau mit blauen Flügeln zu Johannes herab. Mit eleganten Bewegungen, die Tanzschritten ähnelten, näherte sie sich ihm. Vor ihm angekommen, strich sie mit anmutiger Geste eine Haarsträhne aus der Stirn und fragte lächelnd: „Na, du Held, Schwierigkeiten?“
„Ja“, gestand Johannes kleinlaut. „Ich kann noch immer meine Freunde nicht finden. Aber wer bist du denn?“.
„Ich bin Nebulina, eine Sternenelfe. Lumina hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Sie befürchtete, dass du dich in unserem Reich nicht zurecht findest, womit sie scheinbar Recht hat. Na, mal sehen, was ich für dich tun kann“, begütigte die Sternenelfe und Johannes war es zufrieden. Er steckte die Haifischschuppe wieder ein und blickte hoffnungsfroh auf die Sternenelfe. Diese aber setzte sich erst einmal auf den Beckenrand und ruhte sich aus.


Johannes hatte sich zu Füßen der Sternenelfe Nebulina niedergelassen, die Knie mit den Armen umschlossen.
Nach einer Weile sagte sie: „Ich muss gestehen, dass ich mit der Situation völlig überfordert bin. Von hier aus zu dem Ort zu gehen, wo sich deine Freunde wahrscheinlich befinden, würde viele Tage dauern. Leider kann ich dich nicht so einfach bei der Hand nehmen und mit dir davon schweben, weil du diese Haifischschuppe bei dir hast. Wegwerfen darfst du sie aber auch nicht, denn dann würden dir die Elfen und alle anderen Geschöpfe dieser Welt nie mehr helfen, sondern dir feindselig gegenüberstehen, was im schlimmsten Fall deinen Tod bedeuten könnte. Um dieses Problem zu lösen, muss ich mit einer anderen Sternenelfe Kontakt aufnehmen, um mich mit ihr zu beraten. Mach mal ne Weile die Augen zu, du musst nun nicht gleich alle unsere Geheimnisse erfahren“.
Johannes steckte brav den Kopf zwischen die Beine, schloss die Augen und dachte an das System der chemischen Elemente. Er begann sie herzusagen: Argon, Neon, Crypton, Xenon, Radon. Quecksilber, Silber, Platin, Gold. Eisen, Blei, Titan, Kupfer, Zinn, Zink, Bismut, Nickel, Cadmium, Chrom, Uran.
Bevor er von den Schwermetallen zu den Mineralien übergehen konnte, wurde es vor seinen Lidern taghell. „Aha“, dachte er, „das wird wieder so eine Sternen – Spindel sein, so ein kleiner Lichttornado“.
Vermutlich hatte er Recht. Er wagte es, die Lider einen ganz kleinen Spalt zu öffnen und sah, dass Nebulina mit einer etwas älteren Sternenelfe diskutierte. Die andere jonglierte ständig unterschiedlich große Sternkugeln hin und her, es sah aus, als habe sie einen Ring aus Sternen um ihren Rocksaum und einen Sternhaufen über ihrem Kopf.
Endlich hörte sie auf damit und neigte ihren Kopf zu Nebulina, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Danach klatschte sie in die Hände, drehte sich mehrmals rasend schnell um sich selbst und erhob sich flügelschlagend in die Höhe.
Johannes duckte sich rasch wieder zwischen seine Knie und murmelte: „Natrium, Lithium, Francium . . .“
„Schon gut, du Schummler“, unterbrach ihn Nebulina lächelnd.
„Du denkst natürlich, wir hätten nichts bemerkt, nicht wahr? Merk dir mal das eine: viele Fabelwesen können auch nach hinten sehen, ohne sich umzudrehen! Und manche sehen mit ihrem inneren Auge mehr, als einer, der sieben Augen hat“.
Johannes senkte beschämt den Kopf, wagte aber dennoch kleinlaut zu fragen: „Was hat denn euer Disput ergeben?“
Nebulina setzte sich noch einmal auf den Beckenrand. So war sie Johannes auch näher. Sie erläuterte: „Meine Tante Antaglinia war so hilfreich, wie ich es von ihr erwarten konnte. Sie meinte nach Abwägen aller Gegebenheiten, dass wir mit Hilfe eines Vogels, der sowohl schwimmen als auch fliegen kann, schnell von hier fort kommen könnten. Du darfst wählen. Welche Vogelart soll es sein, Enten, Blesshühner, Möwen, Gänse, Schwäne, Pelikane, Kormorane, Tölpel, Pinguine, Lummen oder ein Alk? Überlege gut! Wenn du die falsche Art wählst, dauert unser Flug länger als nötig“.
Johannes dachte scharf nach, welcher Schwimmvogelart er den Vorzug geben sollte und versuchte, sich an alle fantastischen Gelegenheiten zu erinnern, wo derartige Vögel jemals eine Rolle gespielt hatten und antwortete dann: „Ich glaube, die Schwäne haben die beste Stellung im Märchenland und sind sehr beliebt. Sie haben schon anderen Menschen geholfen, zum Beispiel Lohengrin. Dann gibt es bei den Brüdern Grimm sowohl ein Märchen von sechs Schwänen als auch eins von sieben, bei Andersen gibt es das Märchen „Die wilden Schwäne“ und auch im Russischen gibt es ein Märchen, das „Wilde Schwäne“ heißt. Nicht zu vergessen „Das hässliche Entlein“ und Leda mit dem Schwan. Sie dürften also am ehesten ansprechbar sein“.
Nebulina klatschte Beifall: „Eine sehr gute Wahl. Wenn du jetzt noch mindestens fünf Namen von Schwanendamen errätst, werden diese uns zu Hilfe eilen und wir können zu deinen Freunden fliegen“.
Keine einfache Aufgabe! „Das ist ja schlimmer als bei Rumpelstilzchen!“, ärgerte sich Johannes, ließ aber nichts davon verlauten. Er grübelte, wie so eine Schwanendame wohl heißen könnte.
Nach einer Weile meinte Nebulina: „Na, fällt dir kein schöner Mädchenname ein?“
„Klar doch“, brummelte er, „mir fallen auf der Stelle Jane und Annerose ein. Aber Schwäne haben bestimmt ganz fantastische Namen und solche zu finden, darin bin ich nicht besonders gut“.
„Dann gebe ich dir einen Tipp: die Namen beginnen alle mit S und keine Menschenfrau heißt so“.
„Das bringt mich auch nicht weiter!“, dachte Johannes und knirschte mit den Zähnen, wobei ein leises „Ssss“ erklang.
„Prima“, lobte Nebulina. „Den ersten Namen hast du erraten“.
„Upps, so einfach ist das?“
Johannes war verdutzt. Die nächsten Namen waren schnell gefunden: Sssss Ss, Ss Ss Ss, Sssssss und Sss Sss. Nachdem der letzte Buchstabe verklungen war, schwammen fünf Schwäne majestätisch herbei. Nebulina begrüßte sie mit einem Tanz.
Bald begannen auch die Schwäne, sich rhythmisch zu bewegen und kurz danach formierten sie sich zu einem Quadrat. Johannes fühlte sich in die Luft gehoben und schwebte zwischen den Vögeln wie auf einem unsichtbaren fliegenden Teppich mit Windeseile durch die Luft.
Die Rückreise zu der Festwiese der Elfen dauerte nicht lange. Aber wie sah es hier aus?! Alles war verwüstet! Die Tische waren umgestürzt, alle Girlanden zerrissen und fast alle Blumen geköpft. Wie Johannes befürchtet hatte, befanden sich die Elfen tatsächlich in neuerlichem Krieg gegen die Gnome. Als ein Säbelhieb, geführt vom Herrscher der Gnome, Nebulina knapp verfehlte, erhob sie sich schnellstens gemeinsam mit den Schwänen in die Luft und sie flogen eilends davon.
Johannes war wieder einmal auf sich gestellt. Er blickte sich um und suchte nach einem Versteck, in welchem er das Ende der Schlacht abwarten wollte. Sich einzumischen, hätte nichts gebracht, außer zwischen die Fronten zu geraten. Gern hätte er Frieden gestiftet, aber wie?
Er hatte sich hinter einen dicken Baumstamm gerettet und beobachtete die Kämpfer. Die Gnome wüteten mit äußerster Brutalität. Kein Wunder, dass die Elfen zu Zauberwaffen griffen. Diesmal hatte der Hutzauberer Taxalonius einen Zauberspeer angefertigt, dem er den Namen Spieziko gegeben hatte. Jeder Feind, der in seine Nähe kommt oder in dessen Nähe er gebracht wird, verwandelt sich in ein welkes Blatt, das sofort auf seiner Spitze aufgespießt wird. Der Anblick war grauenvoll! Wie die Gnome erst mit grimmigen Gesichtern auf ihre Gegner einschlugen und dann zu ihrem großen Erstaunen hauchdünn wurden und sich auf den nadelspitzen Speer schoben!
Irgendwann bemerkte der Anführer der Gnome das. Er blies in seine Signalpfeife und alle ließen die Waffen sinken, auch die Elfen.
„Was ist los, Grumutzlio, hast du keine Lust mehr?“, höhnte die Elfe, die den Speer Spieziko hielt.
Atemlos keuchte Grumutzlio: „Das ist gegen das Kriegsrecht, dass ihr Zauberwaffen benutzt! Das lassen wir uns nicht gefallen!“
„Ihr hättet ja wegen so einer Lappalie auch nicht gleich mit Kanonen anzurücken brauchen!“, mischte sich die Elfenkönigin ein.
Eine Weile war Ruhe. Dann sagte eine Elfe: „Wenn mein Sohn sich nun in aller Form vor allen für die Rempelei auf der Flugwiese entschuldigt bei dem geschädigten Gnomenkind und seinen Eltern, könnte das vielleicht genügen, um den Krieg zu beenden?“
„Nein. Dafür sind zu viele gestorben!“
Die Elfe blickte sich um und erwiderte dann: „Ich sehe Verwundete auf beiden Seiten, aber keine Toten“.
„Ach, und was ist mit denen, die euer famoser Speer aufgespießt hat?“
„Die können mit einer netten Zauberformel alle wieder zum Leben erweckt werden, putzmunter und in voller Kraft“.
Die Gnome berieten kurz miteinander und willigten dann ein.
Das Elfenkind trat mit rotem Kopf vor die Heere und entschuldigte sich mit rührenden Worten bei den Eltern und dem Gnomenkind und lud es zu neuen Flugspielen auf die Wiese ein und versprach obendrein, dass weder er noch andere Kinder jemals wieder ein Gnomenkind hänseln oder gar schubsen werde.
Alle klatschten Beifall und dann wurde der Zauberspeer Spieziko mitten auf die Lichtung gelegt. Der Hutzauberer Taxalonius sprach die Zauberformel:
„Spritzi fitzi Spieziko,
matzi, mitzi, mach mal so,
gabsi gipsi gabalo,
alle sollen leben froh!“
Und schon sprangen die dürren Blätter, die bereits die Farben des Herbstes angenommen hatten, von der Speerspitze und erhoben sich als zornige Gnome, denen man nun rasch erklären musste, dass der Krieg vorbei ist.
Wie es Elfen- und Gnomenart ist, wurde nun schnell die Lichtung gesäubert und aufgeräumt, ebenso die Festwiese. Die Tische wurden wieder aufgestellt, die Girlanden geflickt und erneuert und die Musikanten – Gnome und Elfen - probten bereits wieder neue Lieder.
Bei Anbruch der Dunkelheit war alles für ein Versöhnungsfest bereit, woran man freudig teilnahm, schon weil der Kampf hungrig gemacht hatte. Elfen und Gnome trugen herbei, was in Küche und Keller zu finden war und es wurde zum Tanz aufgespielt.
Die Elfenkönigin thronte über allem, ließ sich auch einmal vom Gnomenherrscher zum Tanz auffordern, aber die Mehrzahl der Elfen aß nur ein wenig, dann zogen sie sich zurück, um die Blumen zu betrauern, deren Köpfe abgeschlagen worden waren. Da war viel Pflege, Liebe und Sorgfalt vonnöten, damit die Festwiese bald wieder im alten Glanze erstrahlen kann.
Jedenfalls waren alle sehr froh, dass der Krieg vorbei war und den Kindern wurde nochmals eingeschärft, den anderen Kindern mit Achtung zu begegnen, egal, ob Elfenkinder oder Gnomenkinder. Jedes Kind hat ein Recht auf Frohsinn, Frieden und Gerechtigkeit.


Johannes fröstelte auf einmal. Woher kam der kühle Wind? Es war doch Hochsommer! Obendrein spürte er ein sonderbares Ziehen. Er musste unbedingt ans Ufer, sofort!
Wie in Trance schritt er darauf zu. Es wurde immer kälter. Er wollte das nicht! Er wollte im Warmen bleiben! Woher kam nur diese Anziehung?
Da vernahm er eine düstere Stimme:
Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt
Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich.
Komm über den See.
„Puh!“, machte Johannes. „Ich kann mich beherrschen!“
Aber nun befand er sich schon am See. Jedoch – der war nicht zugefroren, nicht die kleinste Eisscholle schaukelte auf den flachen Wellen. Wer mochte die sonderbaren Worte gesprochen haben?
Dafür erblickte er am gegenüberliegenden Ufer eine nackte Frau mit zarten Insektenflügeln. Irgendetwas ließ ihn zu ihr hinüber gleiten. Er schwebte einen Meter über ihr und sah, dass sie versuchte, einen Finger in das Wasser zu stupsen.
„Was tust du da?“, entwich es staunend seinem Munde.
Erschrocken blickte sie zu ihm auf und stotterte: „Keine Ahnung. Jeden Tag muss ich hier her kommen und versuchen, meinen Finger in das Wasser zu stecken und immer kommt mir da schon ein Finger entgegen! Wenn ich nur wüsste, wem er gehört! Aber das ist unergründlich, das Wasser ist – sieh selber – pechschwarz. Ich habe schon sämtliche Namen aufgerufen, die ich kenne, auch die absonderlichsten und fremdartigsten, in der Hoffnung, dass sich die Person beim richtigen Namen erhebt und aus dem Wasser steigt. Aber nichts rührte sich, auch nicht mit Beschwörungsformeln. Stundenlang hab ich s probiert“.
„Hast du ihr schon mal einen Stock hingehalten, damit sie sich daran festhalten kann?“
„Nein. Ich habe zwar schon mal daran gedacht, aber mein Unterbewusstsein sagte mir, dass sie das als Bedrohung auffassen würde und mir nie mehr vertraut. Ich muss etwas anderes tun, aber was? Kannst du mir vielleicht einen guten Rat geben?“
Johannes überlegte und fragte dann: „Wer sagt dir denn, dass du jeden Tag hier her kommen musst?“
„Ach, gesagt hat das keiner, ich hab nur immer so das Gefühl und dann zieht es mich hier her, ich kann gar nichts dagegen tun!“
Nachdenklich meinte Johannes: „Vielleicht will da ja gar niemand heraus. Vielleicht will man nur mit dir spielen. Vielleicht genügt dieses Fingerstupsen ja vollkommen? Mit etwas Geduld wirst du es erfahren. Aber wenn es dir unangenehm ist, dann geh weit, weit fort von hier, denn es könnte ja auch eine Falle sein“.
Da verzog sich ihr Gesicht zu einem hässliche Grinsen: „Eine Falle? Du hast Recht. Aber es ist eine Falle für dich!“
Und schon veränderte sich ihr ganzes Äußeres. Die hauchdünnen Schmetterlingsflügel wurden derbe, rotfleckige Lederhäute, die sich zu Drachenflügeln wandelten und in ihrem Mund funkelten gefährlich lange Vampirzähne.
Plötzlich fletschte auch Johannes die Zähne und ehe er sich noch darüber wundern konnte, woher er ebenfalls solche gruseligen scharfen Zähne hatte, grollte schon eine dunkle Stimme aus ihm heraus: „Du elende Brut meinst, mich in eine Falle locken zu können? Pass auf, dass ich dich nicht verfluche! Weißt du, wer das da ist in dem Wasserloch? Deine Urgroßmutter. Ich habe sie dorthin gebannt für ihre bösen Taten. Bessere dich, sonst darfst du ihr bald Gesellschaft leisten! Berühre sie nie wieder, denn so geht ihre Boshaftigkeit auf dich über. Und jetzt verschwinde!“
Das Geschöpf senkte den Kopf und schlich mit eingezogenen Schultern von dannen.
Johannes aber stand wieder am anderen Ufer und redete sich Kopfschüttelnd ein, dass das nur eine unbedeutende Erscheinung war, die keinen Einfluss auf sein weiteres Leben haben wird. Das hoffte er zumindest.


Johannes schritt weiter fürbass und kam zu einer mit Edelsteinen besetzten Straße. Ungläubig bückte er sich, um die Smaragde, Amethyste, Rubine und Diamanten näher zu betrachten. Da zog ein Reiter auf einem Pegasus an ihm vorbei. Elfen umflatterten ihn und wisperten: „Geh nicht zu der Kleinkönigin, sie ist böse! Sie wird dich in eine Falle locken, aus der wir dir nicht heraushelfen können, und wenn wir uns noch so sehr bemühen!“
Der Reiter aber wehrte ab: „Ich muss zu ihr! Sie hat meine Geliebte in einen Dornbusch verwandelt und nur sie kann sie wieder erlösen!“
Die Elflein besprachen sich untereinander, dann sagte die eine: „Na gut. Drei Tage warten wir hier auf dich. Wenn du bis dahin nicht zurückkommst, werden wir drei Monate nach dir suchen, dann ist alles zu spät!“
Der Ritter verabschiedete sich von den Elfen und Pegasus trabte weiter.
Johannes rieb sich die Augen, denn das war zu unwahrscheinlich, dass er hier gleichzeitig Elfen und einen leibhaftigen Pegasus zu sehen bekam, der auch noch von einem Menschen geritten wurde!
Er blickte sich um und sah den Reiter schon in weiter Ferne auf ein Schloss zu reiten. Er dachte: „Vielleicht wohnt dort ja auch jemand, der mir bei der Suche nach meinen Freunden helfen kann!“ und er beschloss, schnellstmöglich dorthin zu gelangen. Er machte größere Schritte und plötzlich fühlte er sich erhoben – ein ein weißer Pegasus mit herrlichen schwarz-weißen Schwingen hatte sich unter ihn geschoben und flog eilends mit ihm zum Schloss der Kleinkönigin.
„Warum nennt man die Frau Kleinkönigin?“, überlegte er laut. Der Pegasus wusste Antwort: „Sie ist nicht die rechtmäßige Königin dieses Landes, sie hat alles nur durch Zauberei und Intrigen erreicht. Auch uns hat sie hereingelegt, sodass wir jeden, der sich auf den Weg zu ihr begibt, sofort zu ihr bringen müssen. Versuche nicht, abzusteigen! Erstens würdest du den Sturz nicht überleben und zweitens bist du im Moment festgeklebt!“
„Was soll s!“, ergab sich Johannes. „Ich werde schon sehen, was ich davon habe!“
Aber er wollte noch wissen, wie der Pegasus hereingelegt worden war – wenn man Beispiele kennt, kann man eigene Reinfälle vermeiden. Also fragte er das Zauberpferd, und es berichtete: „Meine Brüder Sterndonner, Wolkenschwalbe, Himmelssänger, Klanghuf, Wortflügel, Epiklord, Lyrodin, Prosavers, Limriko, Balladonis, Romanbold, Jambrosius, Hexaminus, Haikuno, Mythiko, Elfaniero, Akrostino, Hacktinius, Sonettino, Kanzonetto, Odeono, Senryoto, Novellino, Elogino, Schmonzetto, Phrasetto, Librettino, Komödito, Tragigolo, Tragikomo, Fantaito, Fantasyno, Romanzietto, Referatio, Possenio, Farcetto . . .“ Johannes unterbrach: „Hast du keine Schwestern?“ – „Nein. Wir paaren uns mit den Einhörnern. Bei uns gibt es keine weiblichen Wesen und bei den Einhörnern keine männlichen. Wenn ein Kind geboren wird und es ist männlich, wird es ein Pegasus. Ist es weiblich, wird es ein Einhorn. Unser jüngster Bruder heißt Diktatio. Er fliegt über alle Schulen. Aber jetzt müssen wir jeden Gast der Kleinkönigin zu ihr fliegen, damit das Edelsteinpflaster auf dem Wege zum Palast geschont wird. Nur sie allein darf darauf wandeln“.
Und schon befand er sich im Palast der Kleinkönigin und wurde zu ihr geführt, bevor er noch irgendjemanden nach seinen Freunden fragen konnte. Die Herrin des Schlosses – trotz ihres zauberhaften Aussehens eine böse Zauberin – bewirtete ihn königlich, ließ ihn im Schloss übernachten und sagte am nächsten Tag zu ihm: „Bring mir die Brosche, die in der Gruft unter dem Silberberg auf der Brust des gefallenen Recken Achorondo liegt. Der Vogel Rock hat sie mir gestohlen. Er bewacht sie, aber es ist kein Problem, ihn auszuschalten, wenn du dreimal in diese Kristallpfeife bläst“.
Sie übergab die Pfeife an den Gnom zu ihrer Linken und wedelte mit der rechten Hand, was so viel bedeutete wie: „Nun hebt euch hinweg, ihr Elenden!“
Der Gnom geleitete Johannes bis zu dem Silberberg und zeigte ihm eine kleine Öffnung in beträchtlicher Höhe. Das war der Eingang zur Gruft. Nun hieß es, den Eingang zu erreichen. Zum Glück war Johannes in einer Klettersport – Gemeinschaft und wusste, wie man so einen Berg angeht. Jedoch hatte er nicht mit dem Funkeln und Gleißen des Silberberges gerechnet. Immer wieder musste er die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden.
Endlich hatte er es fast geschafft, da kam der Vogel Rock geflogen. Er kreischte wütend und hackte mit seinem gewaltigen Schnabel nach Johannes, der mühsam nach einem festen Halt suchte, um die Pfeife benutzen zu können. Nach einer Weile gelang es ihm, die Pfeife, die er an einer Schnur am Halse trug, an seine Lippen zu führen. Kaum hatte er hinein geblasen, da stürzte der Vogel Rock kopfüber in die Tiefe. Aufatmend überlegte Johannes, warum ihn keiner der wuchtigen Schnabelhiebe getroffen hatte und er kam zu dem Schluss, dass wohl der Zaubervogel auch von dem gleißenden Silber geblendet worden war. Später erfuhr er, dass die Kristallpfeife ihn geschützt hatte.
Nur wenige Meter trennten ihn jetzt noch von dem Eingang zur Gruft. Sie waren rasch überwunden. Muffiger Geruch schlug ihm entgegen, wie es nun mal zu einer Gruft gehört. Aber er musste noch etliche Meter in den Berg hineingehen, ehe er zu den Särgen gelangte. Auf jedem Sarg lag ein Held, Recke oder Ritter in voller Kampfrüstung. Alle sahen wie das blühende Leben aus, als wären sie nicht tot, sondern schliefen nur.
Aber welcher mochte wohl der Recke Achorondo sein? Johannes nahm die Toten in näheren Augenschein und bemerkte, dass alle ein großes blutiges Loch in der Brust hatten. Nur einer nicht. Auf seiner Brust prangte die mit riesigen Rubinen besetzte Brosche, welche die Schlossherrin so gerne haben wollte. „Aha“, dachte Johannes. „Da du ja tot bist, werde ich dir wohl die Brosche abnehmen können“.
Allerdings kam ihm der Recke sonderbar bekannt vor. War das nicht der Ritter, der gestern vor ihm auf dem Pegasus zum Schloss wollte, um die Erlösung seiner Geliebten zu erbitten? Ja, das war er! Aber Johannes hatte keine Wahl. Er griff nach der Brosche, umschloss das Kleinod mit seiner Faust und wollte es abziehen, da ließ ein Donnerschlag den Berg erzittern. Der Recke Achorondo schlug die Augen auf und blickte fassungslos und verzweifelt auf Johannes. Zugleich sauste eine Marmortafel durch den Raum und schob Johannes in eine Ecke, wo er halb zerschmettert liegen blieb. Der Recke starrte ihn an und Johannes glaubte zu hören, dass der Tote ihn um Hilfe bat. Aber welcher Art sollte diese Hilfe sein und wie sollte er, dem so viele Knochen gebrochen wurden, überhaupt helfen können? Ein rasender Schmerz durchfuhr ihn und schenkte ihm eine wohltuende Ohnmacht. So verging wohl eine Zeit. Dann vernahm Johannes ein leises Rascheln. Er spähte durch einen dünnen Spalt seiner Lider und sah, dass der Gnom ebenfalls den Aufstieg in die Gruft geschafft hatte. Mit satanischem Grinsen streckte er seine Hand nach der Rubinbrosche aus, packte sie und zog sie in hohem Bogen aus der Brust des Recken. Da sah Johannes, dass es keine gewöhnliche Brosche war, die man sich mit einer Nadel anstecken konnte. Nein, dieses Schmuckstück saß auf einem meterlangen, gebogenen Dorn, der tief in das Fleisch des Recken gestoßen worden war. Der Gnom sprach gehässig: „Du hast das Signum lange genug getragen, jetzt ist ein anderer dran, der wartet schon da hinten auf seine Konservierung. Du kannst jetzt deinen ewigen Schlaf haben, mein Schöner. Du wirst ewig jung und schön aussehen, damit sich die Herrin an deinem Anblick weiden kann“.
Dann ging er mit der „Brosche“ in der Hand in die Richtung, wo Johannes lag. Unter ihm begann es zu knistern und zu rumpeln und Johannes spürte, dass er auf einer Sargplatte empor gehoben wurde. Sonderbarerweise konnte er in alle Richtungen schauen wie ein Chamäleon! Ob das an der Pfeife lag, die er noch immer am Halse trug? Schnell führte er sie an seine Lippen und blies hinein, so stark er konnte! Und das erhoffte Wunder geschah tatsächlich – plötzlich lag er wieder auf der Waldwiese.
 

Doska

Mitglied
Hallo Flammarion

Da hast du uns ja wieder ein schönes Märchen geliefert. Eigentlich ist es nicht nur eines, viele kleine andere Märchen Lieder und Gedichte sind darin enthalten. Es ist also eine Geschichtengedichtegeschichte. Gefreut hat mich, dass dein Held am Schluss dieser Story nun doch nicht sterben musste und, wer weiß? Vielleicht erlebt er ja das nächste Mal weitere Abenteuer?

Liebe Grüße an Dich
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen

dank für s lesen und kommentieren.
ja, es ist geplant, dass er noch einiges erlebt, habe bereits etliche notizen, die darauf warten, verarbeitet zu werden.
herr, gib mir kraft!
lg
 

Josi

Mitglied
Liebe flammmarion,

ein modernes, jugendliches Märchen
mit vielen Elementen die es sehr lebendig machen.
Mir gefällt die Vielschichtigkeit sehr
gut und besonders gefällt mir Dein
Gedicht: O holde Maid….
Liebe Grüße
von Josi
 



 
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