seefeldmaren
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Johnny hat eine Kruste auf der Stirn, die aussieht wie die Umrisse Liechtensteins. Niemand weiß, woher sie kommt, sie ist einfach da. Wie ein Zitat, das niemand wirklich zuordnen kann, aber das Gespräch irgendwie vertieft. Wenn man sie berührt – was Johnny duldet, solange man ihn dabei nicht beim Schmatzen stört – fühlt es sich an wie alter Ton, leicht bröselig, ein bisschen wie Schule. Neulich sagte Peter, die Kruste sei vielleicht ein zweites Gehirn, das sich vorsichtig nach außen taste. Ich glaube, er meint das ernst.
Am Dienstag, gegen halb fünf, griff Johnny an. Er war bis dahin auffällig ruhig gewesen, hatte sich sogar – unter Mithilfe zweier halber Leberwurstbrote – auf seine Decke überreden lassen. Dann, ohne Vorwarnung, fixierte er Peter mit einem Blick, der wie eine deutsche Hausverwaltung in Tierform wirkte, stürmte auf ihn zu, schnappte in die Luft (knapp rechts von Peters Schulter), knurrte wie ein Stromkasten im Januar und rannte anschließend elegant ins Bücherregal. Dort blieb er mit der Hüfte an einem Band über Matrizenrechnung hängen, pinkelte im Rückwärtsgang in einen Zeitschriftenhalter und sprang mit einer flüchtigen Pirouette aufs Sofa. Wo er – natürlich – einschlief. Tief und traumlos, mit dem Ausdruck eines pensionierten Opernsängers, der niemandem mehr etwas beweisen muss.
Peter hatte in der Zwischenzeit einen Ziegelstein aus der Garderobe geholt und wie ein Hostienplättchen auf die Zunge gelegt. Na, er hat's versucht! Das macht er, wenn er „zu viel denken muss“. Manchmal murmelt er dann Zahlen. An diesem Tag sagte er: „Vierkommadrei. Vierkommadrei. Das ist genau die Zahl, die mich überleben könnte.“ Ich habe mich nicht getraut zu fragen, was er meint. Bei Peter ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Antwort eine Gleichung ist, bei der man zuerst seine eigene Mutter kürzen muss.
In der Küche herrscht übrigens eine Art offener Waffenstillstand. Johnny meidet die Fliesen, als seien sie ideologisch kontaminiert. Peter wiederum redet mit dem Wasserkocher, wenn er glaubt, dass ich es nicht merke. Er sagt Dinge wie: „Wir beide wissen, dass Tee eine Notlüge ist.“ Und der Wasserkocher antwortet durch gelegentliches Klicken, das man als Zustimmung deuten kann, aber nicht muss. Es ist eine fragile Allianz.
Später, draußen im Garten, steht Johnny auf drei Beinen unter dem Haselnussstrauch und blickt in eine Richtung, ja, in keine Richtung. Er steht dort lange. Dann, mit einer gewissen Feierlichkeit, hebt er den Rest des verbliebenen Hinterbeins an und markiert die Luft. Nicht den Baum. Nicht den Zaun. Die Luft. Ich bewundere das. Es ist die reinste Form von Geste: bedeutungslos, unnötig, und doch irgendwie triumphal. Als hätte er gerade ein Stück Welt als „nicht sein Revier“ deklariert, aus Trotz.
Peter lehnt sich an die Regenrinne und schaut ihm dabei zu. „Er wird langsam seltsam“, sagt er. Ich antworte nicht. Beide wissen, dass das nicht nur Johnny meint.
Am Samstag kam Besuch. Doris. Eine Frau mit der Statur einer zornigen Regenwolke und dem Temperament einer Steuerprüfung auf zwei Beinen. Sie hatte angekündigt, „nur kurz“ vorbeizuschauen, was im Doris-Vokabular eine zeitliche Spannweite zwischen einem Niesen und einem Wochenendseminar bedeutet. Sie brachte ein Geschenk für Johnny mit. In Geschenkpapier. Mit Schleife. Und dem Ausdruck einer Frau, die Hunde grundsätzlich für ehemalige Menschen hält, die sich in ihrer letzten Inkarnation schlecht benommen haben.
Peter hatte extra einen neuen Ziegel poliert. Einen mit Geschichte, wie er sagte. Aus einer Brache in Niederwürschnitz. Manchmal legt er besonderen Ziegeln Namen bei. Dieser hieß „Kant“. Ich fragte nicht. Doris sah ihn an wie ein Möbelstück, das nur stört, weil es nicht brennt.
Das Geschenk entpuppte sich als Wurst. Eine Art Hybrid aus Fleischwurst und Designobjekt – länglich, glatt, fast zu hell. Ich hätte sie auf eine dänische Anrichte gelegt, nicht in einen Hund. Johnny allerdings war skeptisch. Er trat heran, beäugte das Ding, tappte zwei Mal mit der Vorderpfote dagegen und schielte dabei zu Peter, als wolle er fragen: „Ist das jetzt eine Drohung?“ Dann, ohne weiteren Kommentar, drehte er sich im berühmten Halbkreis seines Eckdralls und pinkelte diskret in einen Plattentellerkarton.
Doris war empört. Nicht über den Urin – das ist bei ihr unter „Biologie“ abgeheftet – sondern über die Verweigerung der Wurst. Sie nannte Johnny einen „arroganten Misthund“ und Peter einen „unerzogenen Kartoffelkasper“. Peter lächelte höflich, stellte die Wurst aufs Bücherregal und sagte, Johnny sei „momentan in einer Phase“. Ich glaube, er meint das ernst.
Das Gespräch zwischen Doris und Peter verlief wie ein Unfall zwischen einem Wasserfall und einem Spiegelkabinett – laut, nass und voller irritierter Wiederholungen. Ich entschied mich, kurzzeitig den Beruf des Gaszählers anzunehmen. Johnny folgte mir, sehr langsam, mit einem Gesichtsausdruck, der in einer anderen Zeit als Ikone der Duldsamkeit gegolten hätte.
Draußen auf der Terrasse lag eine kleine Spinne im Sterben. Johnny schnüffelte kurz, setzte sich dann mit einem ächzenden Geräusch daneben und begann, mit dem noch vorhandenen Hinterbein in die Luft zu kratzen. „Er hat einen abstrakten Umgang mit Trauer“, sagte Peter später. „Vielleicht will er einfach nur sicherstellen, dass nichts wiederkommt.“
Als Doris schließlich ging – mit dem Geräusch von Absätzen, die gewisse Absichten haben – sagte sie zum Abschied: „Das mit dem Hund wird auch nicht mehr besser.“ Johnny nieste.
Wir blieben lange still. Dann fragte Peter, ob man einen Ziegelstein adoptieren könne. Ich sagte: „Sicher. Solange er nicht Doris heißt.“
Und Johnny? Schlief auf dem Sofa ein. Direkt auf der Wurst. Als wolle er sagen: Ich bin nicht gegen Geschenke. Ich bin nur gegen Timing.
Am Mittwochmittag – die Uhr zeigte zwölf, obwohl man ihr das nicht ganz glaubte – erschien ein Mann mit Hut. Einfach so. Ohne Ankündigung, ohne Klopfen, ohne das übliche Räuspern, das höfliche Fremde sich zulegen, um das eigene Erscheinen sanft in die Welt einzufädeln. Er stand plötzlich auf dem Rasen, direkt neben dem Lavendel, der dort aus Prinzip nicht wächst.
Der Hut war breit, strohfarben und saß auf dem Kopf wie eine Laterne. Darunter ein Gesicht, das etwas vom Wetter wusste. Nicht vom Wetter draußen, sondern vom inneren. Ein Gesicht wie ein Barometer mit integriertem Tiefdruckalarm.
Johnny bellte nicht. Er hob nur den Kopf, neigte ihn um exakt neun Grad nach links (seine sogenannte Denkerpose) und begann, mit dem Vorderlauf in einem Muster zu scharren, das mathematisch verdächtig wirkte. Peter stutzte. Und schwafelte leise "heavyside, heavyside... heavyside ableiten".
„Ich glaube“, murmelte er, „Johnny k-k-k-kennt den Mann.“
Ich fragte, ob das möglich sei? schließlich hatte Johnny einen eher überschaubaren Bekanntenkreis: zwei Tauben, eine lügende Krähe und einmal einen Maulwurf, der ihn wütend angefaucht hatte, weil Johnny versehentlich in dessen Loch gepinkelt hatte. Und jetzt dieser Mann mit Hut. Schön und gut.
Peter, inzwischen sichtlich nervös, rückte seinen Ziegel „Nietzsche“ von der Fensterbank ein paar Zentimeter nach links – ein Ritual, das er bei erhöhtem Denkaufkommen vollzieht. Dann öffnete er das Fenster.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann blickte auf. „Ich suche einen Hund“, sagte er.
Stille. Johnny nieste. Es klang, als hätte jemand versucht, einen Radiergummi durch ein Faxgerät zu schicken.
„Wie heißtn der Hund?“, fragte Peter, vorsichtiger als nötig.
„Johnny“, sagte der Mann. „Dreibeinig. Und eigen.“
Ich konnte sehen, wie Peters gesamter emotionaler Unterbau ins Rutschen geriet. „Hier gibt’s keinen Johnny“, sagte er dann, mit der Art von Stimme, die auch beim Postboten Mitleid auslösen würde.
Der Mann nickte, als hätte er das erwartet. Dann sagte er: „Na gut.“ Und drehte sich um. Sein Gang war langsam, würdevoll und leicht schräg. Johnny trottete ans Fenster, beobachtete ihn eine Weile und schien kurz zu überlegen, ob er pinkeln oder heulen sollte. Dann entschied er sich für ein gepflegtes Gähnen und ließ sich wieder auf den Flurteppich fallen.
Später, bei Tee, fragte ich Peter, was das gewesen sei. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war’s ein Rückruf. Oder ein Irrtum. Oder ein ganz normaler Mittwoch.“
Ich sah zu Johnny. Er zuckte leicht im Schlaf. Als würde er laufen. Als würde er rennen, mit allen vier Beinen.
Ich sagte nichts. Manchmal ist Schweigen die freundlichste Lüge.
Peter hatte beschlossen, dass die Küche „neu muss“. Nicht wirklich neu, aber wenigstens anders. „Kacheltapete“, sagte er, „gibt allem einen Hauch von Struktur, ohne gleich funktional zu sein...“. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich nickte. Peter denkt in Sätzen, die klingen, als hätte jemand sie in einer Fußnote zum Teilchenbeschleuniger verloren.
Johnny durfte mit. Peter bestand darauf. „Er liebt die Farben der Fliesen und den Geruch von K-K-Kleister.“ Was schwer zu überprüfen ist, da Johnny alles überblickt, als würde er auf ein sehr langsames Fernsehprogramm warten.
Im Baumarkt herrschte eine seltsame Stimmung – irgendwo zwischen Zweckoptimismus und scheiternder Eheberatung. Die Lichtverhältnisse erinnerten an Fotos von Lebensmitteln, die man besser nicht essen sollte.
Peter verschwand in der Tapetenabteilung, murmelte Sätze wie „Ich brauch was, das an Bad denkt, aber nicht an Hygiene glaubt“, und Johnny trottete hinterher, mit leichtem Eckdrall durch die Reihen. Alles wie immer. Bis zur Kasse.
Sie hieß Mandy, trug eine Namensplakette in Handschrift und hatte die Körperlichkeit eines Menschen, der Gewicht nicht als Nachteil, sondern als Weltanschauung versteht. In ihren Händen: eine gigantische Plastikbox mit Rollschuhen, Dübelsets, einem Sack Blumenerde und – für die Optik – eine Orchidee in Plastik.
Peter zahlte gerade, als Mandy sich beim Hinausgehen überhob. Ein seltsames Geräusch, irgendwo zwischen Quietsch, Zerberstung und Knochensäge, dann fiel sie. Nicht langsam. Es bebte kurz. Lautlos. Nicht langsam genug. Johnny, der sich in Mandys Fallschatten befand, hatte nicht die Reaktionszeit, die ein vierbeiniger Hund gehabt hätte.
Das Geräusch war dumpf und der letzte Zentimeter seines Schwanzes zuckte kurz. Es erinnerte an das, was man hört, wenn ein Kissen in Mett fällt. Keiner sagte etwas. Die Kassenschlange rückte schweigend einen Meter vor.
Peter starrte kurz, nickte, zahlte zu Ende und verließ den Laden mit seiner Kacheltapete. Peter ging. Johnny blieb – präziser: wie ein überholtes Kapitel in einem Lexikon über Bewegung.
Zuhause angekommen, legte Peter die Tapete in die Badewanne. „Soll erst mal ruhen“, sagte er. Dann setzte er sich aufs Sofa, streichelte das Fell, das nur noch in seinem Muskelgedächtnis existierte, und trank seinen Tee. Ich bewunderte seine Konsequenz.
Es war kurz nach sieben, als das Kratzen begann. Leise, bestimmt, von draußen an der Tür.
Peter öffnete die Tür.
Sein Blick wanderte langsam nach unten. Eine unbeirrbare Starre fixierte einen handtellerbreiten Fleck: Ein fremder Hund.
Vier Beine. Graues Fell. Kein Halsband.
Er sah Peter an, setzte sich hin – genau auf die Stelle, wo Johnny früher immer lag – und begann, mit der linken Hinterpfote sich hinter seinem Ohr zu kratzen.
Die Tür fiel ins Schloss.
Am Dienstag, gegen halb fünf, griff Johnny an. Er war bis dahin auffällig ruhig gewesen, hatte sich sogar – unter Mithilfe zweier halber Leberwurstbrote – auf seine Decke überreden lassen. Dann, ohne Vorwarnung, fixierte er Peter mit einem Blick, der wie eine deutsche Hausverwaltung in Tierform wirkte, stürmte auf ihn zu, schnappte in die Luft (knapp rechts von Peters Schulter), knurrte wie ein Stromkasten im Januar und rannte anschließend elegant ins Bücherregal. Dort blieb er mit der Hüfte an einem Band über Matrizenrechnung hängen, pinkelte im Rückwärtsgang in einen Zeitschriftenhalter und sprang mit einer flüchtigen Pirouette aufs Sofa. Wo er – natürlich – einschlief. Tief und traumlos, mit dem Ausdruck eines pensionierten Opernsängers, der niemandem mehr etwas beweisen muss.
Peter hatte in der Zwischenzeit einen Ziegelstein aus der Garderobe geholt und wie ein Hostienplättchen auf die Zunge gelegt. Na, er hat's versucht! Das macht er, wenn er „zu viel denken muss“. Manchmal murmelt er dann Zahlen. An diesem Tag sagte er: „Vierkommadrei. Vierkommadrei. Das ist genau die Zahl, die mich überleben könnte.“ Ich habe mich nicht getraut zu fragen, was er meint. Bei Peter ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Antwort eine Gleichung ist, bei der man zuerst seine eigene Mutter kürzen muss.
In der Küche herrscht übrigens eine Art offener Waffenstillstand. Johnny meidet die Fliesen, als seien sie ideologisch kontaminiert. Peter wiederum redet mit dem Wasserkocher, wenn er glaubt, dass ich es nicht merke. Er sagt Dinge wie: „Wir beide wissen, dass Tee eine Notlüge ist.“ Und der Wasserkocher antwortet durch gelegentliches Klicken, das man als Zustimmung deuten kann, aber nicht muss. Es ist eine fragile Allianz.
Später, draußen im Garten, steht Johnny auf drei Beinen unter dem Haselnussstrauch und blickt in eine Richtung, ja, in keine Richtung. Er steht dort lange. Dann, mit einer gewissen Feierlichkeit, hebt er den Rest des verbliebenen Hinterbeins an und markiert die Luft. Nicht den Baum. Nicht den Zaun. Die Luft. Ich bewundere das. Es ist die reinste Form von Geste: bedeutungslos, unnötig, und doch irgendwie triumphal. Als hätte er gerade ein Stück Welt als „nicht sein Revier“ deklariert, aus Trotz.
Peter lehnt sich an die Regenrinne und schaut ihm dabei zu. „Er wird langsam seltsam“, sagt er. Ich antworte nicht. Beide wissen, dass das nicht nur Johnny meint.
Am Samstag kam Besuch. Doris. Eine Frau mit der Statur einer zornigen Regenwolke und dem Temperament einer Steuerprüfung auf zwei Beinen. Sie hatte angekündigt, „nur kurz“ vorbeizuschauen, was im Doris-Vokabular eine zeitliche Spannweite zwischen einem Niesen und einem Wochenendseminar bedeutet. Sie brachte ein Geschenk für Johnny mit. In Geschenkpapier. Mit Schleife. Und dem Ausdruck einer Frau, die Hunde grundsätzlich für ehemalige Menschen hält, die sich in ihrer letzten Inkarnation schlecht benommen haben.
Peter hatte extra einen neuen Ziegel poliert. Einen mit Geschichte, wie er sagte. Aus einer Brache in Niederwürschnitz. Manchmal legt er besonderen Ziegeln Namen bei. Dieser hieß „Kant“. Ich fragte nicht. Doris sah ihn an wie ein Möbelstück, das nur stört, weil es nicht brennt.
Das Geschenk entpuppte sich als Wurst. Eine Art Hybrid aus Fleischwurst und Designobjekt – länglich, glatt, fast zu hell. Ich hätte sie auf eine dänische Anrichte gelegt, nicht in einen Hund. Johnny allerdings war skeptisch. Er trat heran, beäugte das Ding, tappte zwei Mal mit der Vorderpfote dagegen und schielte dabei zu Peter, als wolle er fragen: „Ist das jetzt eine Drohung?“ Dann, ohne weiteren Kommentar, drehte er sich im berühmten Halbkreis seines Eckdralls und pinkelte diskret in einen Plattentellerkarton.
Doris war empört. Nicht über den Urin – das ist bei ihr unter „Biologie“ abgeheftet – sondern über die Verweigerung der Wurst. Sie nannte Johnny einen „arroganten Misthund“ und Peter einen „unerzogenen Kartoffelkasper“. Peter lächelte höflich, stellte die Wurst aufs Bücherregal und sagte, Johnny sei „momentan in einer Phase“. Ich glaube, er meint das ernst.
Das Gespräch zwischen Doris und Peter verlief wie ein Unfall zwischen einem Wasserfall und einem Spiegelkabinett – laut, nass und voller irritierter Wiederholungen. Ich entschied mich, kurzzeitig den Beruf des Gaszählers anzunehmen. Johnny folgte mir, sehr langsam, mit einem Gesichtsausdruck, der in einer anderen Zeit als Ikone der Duldsamkeit gegolten hätte.
Draußen auf der Terrasse lag eine kleine Spinne im Sterben. Johnny schnüffelte kurz, setzte sich dann mit einem ächzenden Geräusch daneben und begann, mit dem noch vorhandenen Hinterbein in die Luft zu kratzen. „Er hat einen abstrakten Umgang mit Trauer“, sagte Peter später. „Vielleicht will er einfach nur sicherstellen, dass nichts wiederkommt.“
Als Doris schließlich ging – mit dem Geräusch von Absätzen, die gewisse Absichten haben – sagte sie zum Abschied: „Das mit dem Hund wird auch nicht mehr besser.“ Johnny nieste.
Wir blieben lange still. Dann fragte Peter, ob man einen Ziegelstein adoptieren könne. Ich sagte: „Sicher. Solange er nicht Doris heißt.“
Und Johnny? Schlief auf dem Sofa ein. Direkt auf der Wurst. Als wolle er sagen: Ich bin nicht gegen Geschenke. Ich bin nur gegen Timing.
Am Mittwochmittag – die Uhr zeigte zwölf, obwohl man ihr das nicht ganz glaubte – erschien ein Mann mit Hut. Einfach so. Ohne Ankündigung, ohne Klopfen, ohne das übliche Räuspern, das höfliche Fremde sich zulegen, um das eigene Erscheinen sanft in die Welt einzufädeln. Er stand plötzlich auf dem Rasen, direkt neben dem Lavendel, der dort aus Prinzip nicht wächst.
Der Hut war breit, strohfarben und saß auf dem Kopf wie eine Laterne. Darunter ein Gesicht, das etwas vom Wetter wusste. Nicht vom Wetter draußen, sondern vom inneren. Ein Gesicht wie ein Barometer mit integriertem Tiefdruckalarm.
Johnny bellte nicht. Er hob nur den Kopf, neigte ihn um exakt neun Grad nach links (seine sogenannte Denkerpose) und begann, mit dem Vorderlauf in einem Muster zu scharren, das mathematisch verdächtig wirkte. Peter stutzte. Und schwafelte leise "heavyside, heavyside... heavyside ableiten".
„Ich glaube“, murmelte er, „Johnny k-k-k-kennt den Mann.“
Ich fragte, ob das möglich sei? schließlich hatte Johnny einen eher überschaubaren Bekanntenkreis: zwei Tauben, eine lügende Krähe und einmal einen Maulwurf, der ihn wütend angefaucht hatte, weil Johnny versehentlich in dessen Loch gepinkelt hatte. Und jetzt dieser Mann mit Hut. Schön und gut.
Peter, inzwischen sichtlich nervös, rückte seinen Ziegel „Nietzsche“ von der Fensterbank ein paar Zentimeter nach links – ein Ritual, das er bei erhöhtem Denkaufkommen vollzieht. Dann öffnete er das Fenster.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann blickte auf. „Ich suche einen Hund“, sagte er.
Stille. Johnny nieste. Es klang, als hätte jemand versucht, einen Radiergummi durch ein Faxgerät zu schicken.
„Wie heißtn der Hund?“, fragte Peter, vorsichtiger als nötig.
„Johnny“, sagte der Mann. „Dreibeinig. Und eigen.“
Ich konnte sehen, wie Peters gesamter emotionaler Unterbau ins Rutschen geriet. „Hier gibt’s keinen Johnny“, sagte er dann, mit der Art von Stimme, die auch beim Postboten Mitleid auslösen würde.
Der Mann nickte, als hätte er das erwartet. Dann sagte er: „Na gut.“ Und drehte sich um. Sein Gang war langsam, würdevoll und leicht schräg. Johnny trottete ans Fenster, beobachtete ihn eine Weile und schien kurz zu überlegen, ob er pinkeln oder heulen sollte. Dann entschied er sich für ein gepflegtes Gähnen und ließ sich wieder auf den Flurteppich fallen.
Später, bei Tee, fragte ich Peter, was das gewesen sei. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war’s ein Rückruf. Oder ein Irrtum. Oder ein ganz normaler Mittwoch.“
Ich sah zu Johnny. Er zuckte leicht im Schlaf. Als würde er laufen. Als würde er rennen, mit allen vier Beinen.
Ich sagte nichts. Manchmal ist Schweigen die freundlichste Lüge.
Peter hatte beschlossen, dass die Küche „neu muss“. Nicht wirklich neu, aber wenigstens anders. „Kacheltapete“, sagte er, „gibt allem einen Hauch von Struktur, ohne gleich funktional zu sein...“. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich nickte. Peter denkt in Sätzen, die klingen, als hätte jemand sie in einer Fußnote zum Teilchenbeschleuniger verloren.
Johnny durfte mit. Peter bestand darauf. „Er liebt die Farben der Fliesen und den Geruch von K-K-Kleister.“ Was schwer zu überprüfen ist, da Johnny alles überblickt, als würde er auf ein sehr langsames Fernsehprogramm warten.
Im Baumarkt herrschte eine seltsame Stimmung – irgendwo zwischen Zweckoptimismus und scheiternder Eheberatung. Die Lichtverhältnisse erinnerten an Fotos von Lebensmitteln, die man besser nicht essen sollte.
Peter verschwand in der Tapetenabteilung, murmelte Sätze wie „Ich brauch was, das an Bad denkt, aber nicht an Hygiene glaubt“, und Johnny trottete hinterher, mit leichtem Eckdrall durch die Reihen. Alles wie immer. Bis zur Kasse.
Sie hieß Mandy, trug eine Namensplakette in Handschrift und hatte die Körperlichkeit eines Menschen, der Gewicht nicht als Nachteil, sondern als Weltanschauung versteht. In ihren Händen: eine gigantische Plastikbox mit Rollschuhen, Dübelsets, einem Sack Blumenerde und – für die Optik – eine Orchidee in Plastik.
Peter zahlte gerade, als Mandy sich beim Hinausgehen überhob. Ein seltsames Geräusch, irgendwo zwischen Quietsch, Zerberstung und Knochensäge, dann fiel sie. Nicht langsam. Es bebte kurz. Lautlos. Nicht langsam genug. Johnny, der sich in Mandys Fallschatten befand, hatte nicht die Reaktionszeit, die ein vierbeiniger Hund gehabt hätte.
Das Geräusch war dumpf und der letzte Zentimeter seines Schwanzes zuckte kurz. Es erinnerte an das, was man hört, wenn ein Kissen in Mett fällt. Keiner sagte etwas. Die Kassenschlange rückte schweigend einen Meter vor.
Peter starrte kurz, nickte, zahlte zu Ende und verließ den Laden mit seiner Kacheltapete. Peter ging. Johnny blieb – präziser: wie ein überholtes Kapitel in einem Lexikon über Bewegung.
Zuhause angekommen, legte Peter die Tapete in die Badewanne. „Soll erst mal ruhen“, sagte er. Dann setzte er sich aufs Sofa, streichelte das Fell, das nur noch in seinem Muskelgedächtnis existierte, und trank seinen Tee. Ich bewunderte seine Konsequenz.
Es war kurz nach sieben, als das Kratzen begann. Leise, bestimmt, von draußen an der Tür.
Peter öffnete die Tür.
Sein Blick wanderte langsam nach unten. Eine unbeirrbare Starre fixierte einen handtellerbreiten Fleck: Ein fremder Hund.
Vier Beine. Graues Fell. Kein Halsband.
Er sah Peter an, setzte sich hin – genau auf die Stelle, wo Johnny früher immer lag – und begann, mit der linken Hinterpfote sich hinter seinem Ohr zu kratzen.
Die Tür fiel ins Schloss.