Judmaiers Rettung

anemone

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Liebes Tagebuch,
heute schreib ich aus: Unglaubliche Geschichten (wahre Begebenheiten)

Es ist der 26.9.1970, kurz nach Mittag. Zwei Männer schauen in die Weite des afrikanischen Busches rund um den Mount Kenia: Oswald Oelz und Gerg Judmaier, 24 und 29 Jahre alt.
Beide sind Mediziner. Oswald Oelz arbeitet in Zürich in der Forschung, sein Freund Gerd Judmaier bereitet sich in Insbruck auf sein Facharztseminar vor. Beide sind Österreicher und begeisterte Bergsteiger.
J. und Oe. Klettern seit 4 Jahren zusammen. Aber noch nie haben sie einen Berg solchen Kalibers bezwungen! Der Mount Kenia, 5199 Meter hoch, bietet einen fantastischen Anblick: ein einzigartiger Berg, der aus dem tropischen Busch aufsteigt, direkt am Äquator, und dessen schneebedeckter Gipfel in den Wolken verschwindet. Dass sie ihn bezwungen haben, ist für sie der Höhepunkt ihres bisherigen Bergsteigerlebens.
Um 14 Uhr beginnen die beiden Männer mit dem Abstieg und erreichen bald danach, gut 30 m tiefer, einen kleinen Felsvorsprung. Oswald O. sucht eine geeignete Stelle im Gestein für einen Sicherungshaken. Gerd J. beugt sich ein wenig über dem Abgrund und hält Ausschau nach einer günstigen Abseilmöglichkeit. Plötzlich ein durchdringender Schrei – O. fährt herum...., Judmaier! Der kleine Felsvorsprung, auf dem der Kamerad gestanden hatte, war abgebrochen. Der Bergsteiger stürzt ab. O.' Hände umklammern das um seinen Körper laufende Seil. Wie durch ein Wunder gelingt es ihm, den fürchterlichen Ruck ohne Standsicherung abzufangen, das Sicherungsseil zu fixieren und so den Absturz über die gesamte Wand zu verhindern.

Und hier beginnt eine der erstaunlichsten Geschichten des Alpinismus. Gut. Das Seil wäre also fixiert. Der Abstieg ist äußerst gefährlich und mühevoll, doch schließlich ist O. bei seinem Freund angelangt. Er lebt noch. Dem Himmel sei Dank! Er liegt auf einem kleinen Absatz im Fels.J. blutet am Kopf, aber O. erkennt sofort, diese Verletzung ist nicht besonders ernst. Eine einfache Platzwunde. Viel schlimmer aber sieht das rechte Bein aus. Ein offener Bruch, vermutlich sogar Splitterbruch des Oberschenkels. Die Wunde blutet stark, und O. bindet sofort das Bein seines Freundes ab.
Beide sind Mediziner. Beide wissen ganz genau, wie ernst die Lage ist.
„Oswald, das hat doch keinen Sinn mehr. Mit mir ist’s aus.“
„Blödsinn. Was heißt hier aus? – Wir schaffen’s schon.“
O. versucht, seinem Freund Mut zu machen – aber was kann er ihm schon sagen? Am wichtigsten ist es jetzt, etwas zu unternehmen, und zwar so schnell wie möglich. Nur: Was kann er, O., in dieser Situation unternehmen? Die Lage ist in der Tat bedrohlich. Sicher, in der Schweiz oder Österreich, da gäbe es einen Menge erfahrener Alpinisten, die mit allen Rettungsmethoden vertraut sind. Da wäre eine schnelle Hilfe möglich. Aber hier in Kenia? Hier gibt es nich einmal eine ernstzunehmende Bergwacht. Und nur Fachleute hätten eine Chance, J. hier herunterzuholen – wenn überhaupt.
O. überlegt. Bis man eine Gruppe von Bergsteigern alarmiert, gesetzt der Fall, sie sind überhaupt aufzutreiben...Und bis sie ankommen, gesetz der Fall, sie schaffen den Aufstieg...bis dahin ist Gerd längst tot! Entweder verblutet oder erfroren. Der Mount Kenia liegt zwar nur 15 km vom Äquator entfernt, aber in der Höhe wird es entsetzlich kalt, sobald die Sonne untergegangen ist. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit. O. muss versuchen, Hilfe zu holen, Medikamente zu besorgen und Leute zu finden, die J. herunterbringen können. Er denkt an die Seilschaft von Sambesen und Amerikanern, die am Vorabend den Aufstieg wegen des Schneesturms aufgegeben hatten. Wahrscheinlich halten sie sich noch in der Hütte auf, etwa 750 Meter weiter unten. Und schließlich erklärt er seinem Freund, was er vorhat.
„Es hat doch keinen Sinn, es wird bald dunkel.“
„Ich weiß, Gerd, es wird schwierig, aber...aber man muss es wenigstens versuchen! Ich kann doch nicht einfach tatenlos hier sitzen und nichts tun! Man muss es wenigstens versuchen!“
„Ja sicher.“
Mittlerweile fällt auch noch dichter Schnee. O. packt seinen Kameraden in ihre beiden Daunenjacken, wickelt ihn in einen Schlafsack und steckt ihn in den Biwaksack. Er lässt ihm alles da, was sie noch an Essbarem haben: Eine Konservendose mit Früchten. Und bevor er mit dem Abstieg beginnt, legt er noch einmal seine Hand auf die Schulter des Freundes:
„Mach’s gut, Gerd. Ich bin bald wieder da, so schnell es nur geht. Halte durch! Ich komme wieder! Ich hole dich hier raus!“

Der Abstieg wird zu einer unmenschlichen Strapaze. Der Schnee fällt so dicht, dass O. kaum ein paar Schritte weit sieht. Endlich so gegen 18 Uhr, gerade als die Sonne am Äquator untergeht, erreicht er völlig erschöpft die Hütte, wo er zum Glück auf die Amerikaner und die Sambesen trifft. Mit knappen Worten erklärt er die Situation. Ein Sambesi macht sich sofort auf den Weg zu einer anderen Hütte, wo es – wie er weiß – Erste-Hilfe-Material und auch ein Funkgerät gibt. Der Weg durch die Dunkelheit ist äußerst gefährlich, doch der Sambesi schafft es und funkt SOS an die Polizeistation im Dorf am Fusse des Mount Kenia.
Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile, und der Mountain-Club von Kenia arbeitet auf der Stelle einen Rettungsplan aus. Aber, wie bereits erwähnt, wir sind hier nicht in Österreich oder in der Schweiz, sondern mitten in Afrika. Der Mountain-Club ist eine Vereinigung von leidenschaftlichen Bergsteigern mit Sitz in Nairobi.Und man ist halt mehr passioniert als erfahren – und außerdem schwer zusammenzutrommeln. Die Bergfreunde sind für so ein schwieriges Unternehmen, für solch eine Rettungsaktion, weder ausgebildet noch ausgerüstet.
Aber sie können den Verletzten unmöglich da oben lassen. Und sie tun ihr Bestes.
Während der Rettungsdienst alle verfügbaren Bergsteiger der Gegend einsammelt, ist Robert Chambers, der Vorsitzende des Clubs, mit einer dürftigen Erste-Hilfe-Ausrüstung bereits am Fuße des Berges. In der Zwischenzeit ist auch der mutige Sambesi, derSOS gefunkt hat, wieder in der Hütte eingetroffen, in der O. ungeduldig auf Nachricht wartet. Es ist mittlerweile fast 4 Uhr morgens. Aber der Sambesi bringt Medikamente mit und vor allem die gute Nachricht, dass der Rettungstrupp bereits auf dem Weg ist. O. schöpft wieder Hoffnung und fragt in die Runde, ob denn jemand bereit wäre, mit ihm zu J. aufzusteigen, sobald es hell wird. Und bald darauf macht er sich mit einem der Amerikaner auf den Weg.
Es schneit ununterbrochen – den ganzen Vormittag. Die beiden Männer sind schwer beladen und bald erschöpft. Vor allem der Amerikaner besitzt mehr Mut als Erfahrung. Schließlich, nach mehreren vergeblichen Versuchen, J. zu erreichen, müssen sie aufgeben – keine 100 Meter von ihm entfernt. O. liegt im Schnee, unfähig auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. – So nahe bei seinem Freund, der nun seit 24 Std. auf ihn wartet.
Währenddessen nähert sich eine Gruppe von 18 Bergsteigern und 20 Trägern der Hütte. Es ist bereits Abend. Mr. Chambers, der Präsident und 4 weitere Bergsteiger kommen zuerst an. Sie sind mit Funkgeräten ausgerüstet und haben eine Art Trage, einen Tragkorb, mitgebracht für den Transport des Verunglückten. Und außerdem bringen sie eine gute Nachricht mit: Ein Hubschrauber soll aus Nairobi kommen. Die zwite Nacht vergeht mit ohnmächtigem Warten,
ohne dass für J. im Augenblick mehr getan werden könnte.

28 Sept. Sonnenaufgang. Heute ist der Himmel ganz klar. In Begleitung eines italienischen Kletterers steigt O. noch einmal auf. Zwei Gruppen folgen ihm. Die eine hat die provisorische Tragbahre dabei. Nachmittags erreichen O. und der Italiener einen Grat oberhalb des Felsvorsprungs, wo J. liegt. Sie sehen ihn. Er bewegt sich nicht. Auch nicht, als sie laut rufen.
Keine Antwort. J. ist jetzt fast 50 Stunden allein. Und die Nächte waren eisig. Wie hätte er da überleben sollen?
Aber J. lebt noch. Nur – er ist unfähig, sich zu bewegen. Auch nicht, als er die Rufe hört. O. und der Italiener sind jetzt bei ihm. J. ist kaum fähig, seine Lippen zu bewegen.
„Oswald? Ich dachte...du bist...auch abgestürzt.“
O. gibt ihm sofort eine Spritze. Morphium. Dann versucht er, eine Funkverbindung mit der Hütte herzustellen, zu melden, dass J. lebt. Doch das Funkgerät versagt.
Und wieder wird es Nacht. Und den beiden Männern bleibt nichts übrig, als bei J. zu bleiben und auf die Rettungsmannschaften zu warten. Erst am nächsten Tag gegen Mittag sind sie endlich da.
O. gibt J. noch eine Spritze und stellt das gebrochene Bein ruhig. Dann binden sie ihn auf den Tragstuhl und hieven ihn auf den Rücken eines kräftigen Engländers. J. ist totenblass. Der Schmerz geht offensichtlich über seine Kraft.“Nein, so schaffen wir es nicht. Setz den Korb wieder ab! Er Stirbt!“
O. versucht alles Menschenmögliche. Doch ohne Blutplasma? Es wird abermals Nacht Und wieder muss man auf den nächsten Tag warten. Allmählich verliert O. jede Hoffnung. Es war so schwierig J. zu erreichen. Und jetzt ist er zu geschwächt, um mit ihm den Abstieg zu wagen. Wird er diese Nacht überhaupt noch überleben? Die einzige Chance wäre der Hubschrauber. Aber dafür müsste man den Verletzten weiter nach unten bringen.

Und tatsächlich: am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch – neue Hoffnung: Alle horchen auf. Der Hubschrauber ist im Anflug. Der Pilot ist ein Teufelskerl. Er versucht jetzt tatsächlich, etwas weiter oben zu landen! Ein tollkühnes Vorhaben. Der Rotor streift die Felswand, der Hubschrauber zerschellt. Der Pilot – ein 38jähriger amerikanischer Freiwilliger – ist auf der Stelle tot.
Das war dann wohl die letzte Hoffnung. J. wird mit jeder Stunde schwächer. Mit schweren Erfrierungen, hohem Fieber, vom Delirium gequält, verlangt er unaufhörlich nach Wasser und ist doch unfähig, auch nur einen einzigen Tropfen zu schlucken.
Oswald O. hat alles getan, was nur möglich war. Nicht eine Minute hat er seinen Freund im Stich gelassen. Jetzt aber weiß er, dass ihn nun nichts mehr retten kann. Er bedeckt J., der bereits im Koma liegt, mit einer Folie.

Der eigentliche Held dieser Geschichte betritt erst jetzt die Bühne. Es ist der Vater J., der in seinem Haus in Insbruck von alledem nichts weiß. Am frühen Morgen des 1. Okt. ruft ihn ein Freund an:
„Hast du die Zeitung noch nicht gelesen?“
„Nein, was ist?“
Und schonend erzählt der Freund Vater Judmaier, dass sein Sohn wahrscheinlich tot ist, jedenfalls so gut wie tot, dass er schwer verletzt im Koma in 5000 Meter Höhe liegt und keiner ihn bergen kann.
Wider Erwarten bleibt Herr J. sehr gefasst. Er ist nur einen Augenblick lang still. Dann fragt er: „Was kann man tun?“
„Ich fürchte – nichts mehr. Es ist schon alles versucht worden“ Und er erzählt, was in der Zeitung steht.
„Gut. Danke. Jetzt weiß ich genug. Ich werde ihm helfen!“
Er legt auf, nimmt den Hörer wieder ab, ruft den Flughafen Wien-Schwechat an und fragt, ob ein Flugzeug mit 10 Plätzen zu chartern wäre.
„Wann brauchen sie es?“
„Sofort!“
Man bietet ihm eine Propellermaschine an.
„Zu langsam! Ich brauche eine Düsenmaschine!“
In Wien-Schwechat verbreitet sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer: Ein Verrückter will sofort eine Düsenmaschine chartern.
„Wohin ich fliegen will? Nach Nairobi!“
In Wien ist es an diesem frühen Morgen unmöglich, eine Düsenmaschine zu bekommen. Aber in Zürich gäbe es vielleicht welche.
„Was für welche?“
„Eine Caravelle. Eine Mittelstrecken-Düsenmaschine. Bis Nairobi braucht sie zwei Zwischenlandungen.“
Keine Zwischenlandung!“
„Dann kommt nur eine Maschine in Frage: Eine Boeing 707.“
„Gut. Besorgen Sie mir die Boeing!“
„Aber das kostet Sie ein Vermögen.“
Herr J. nennt den Namen seiner Bank, damit die Fluggesellschaft sich mit ihr in Verbindung setzen kann. Er seinerseits ruft sofort den Direktor an, erklärt dem Bankier seine Lage. Natürlich geht die Sache in Ordnung.
Vater J. ist übrigens ebenfalls ein vorzüglicher Alpinist. Er kennt die besten Bergsteiger der Gegend, ruft ein halbes Duzend von ihnen an, erreicht, dass sie alles liegen und stehen lassen, um mit ihm sofort nach Nairobi zu fliegen, Treffpunkt ist Wien-Schwechat. Von dort aus wird sie die Boeing 707, die bereits von Zürich abgeflogen ist, nach Nairobi bringen.
In der Gruppe ist sogar ein Bergsteiger, der den Mount Kenia schon bestiegen hat. Der Sekretär des Alpenvereins von Insbruck stellt in Windeseile die umfangreiche Ausrüstung zusammen.
Am Mittag bereits sind alle in Wien-Schwechat! Gegen 13 Uhr startet die Boeing 707. Acht Stunden Flug ohne Zwischenlandung. Spät am Abend landen sie in Nairobi, wo bereits über Funk bestellte Geländewagen auf die Alpinisten warten. Knapp 2 Std. später sind die Wagen am Fuße des Berges. Noch in der Nacht macht sich die österreichische Rettungsmannschaft auf den Weg. Hochtrainiert und bergerfahren, wie sie sind, erreichen sie den jungen J. – zwar im Koma liegend, aber immer noch lebend. Unverzüglich bringen sie ihn nach unten. Nachmittags liegt Gerd J. bereits im Krankenhaus von Nairobi.
Das geschah vor rund 15 Jahren. Heute lebt Dr. Gerd Judmaier in Insbruck. Nur die unglaubliche Energie seines Vaters hat ihn gerettet.
 



 
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