Jule

Mubarby

Mitglied
Wir waren ungefähr 80 km gefahren, da ergab eine Umfrage im Fahrzeug: der Hund der Familie, Jule, die wir im Haus zurückgelassen hatten, war vor 18 Stunden das letzte Mal Gassi!
Am Düsseldorfer Flughafen verabschiedete ich meine Verwandten vor ihrem Flug nach Mexiko und fuhr unverzüglich zurück nach Gießen, wo ich das Haus hüten sollte und – vor allem – den Collie-Sennhund-Mischling.
Natürlich stand Jule bereits im Flur, als ich die Haustür öffnete. Sofort nahm ich die Hundeleine vom Garderobenhaken und rief: „Komm!“. Wird weltweit von jedem Hund verstanden.
Jule zog sich ins Wohnzimmer zurück! Ich bemühte mich, sie im Wohnzimmer anzuleinen, aber sie trug kein Halsband. Und sie stand inzwischen unter dem großen Esszimmertisch. Meine Argumente hatten keine Durchschlagskraft. Die Fleischwurst im Kühlschrank sollte das ändern.

Mit dem Stück Wurst im Maul war sie schneller wieder unter dem Esstisch verschwunden, als ich zupacken konnte. Was auch schwer war, wie packt man einen großen Hund, wenn nicht am Halsband? Ich hörte sie schmatzen.
„Jule, mal ehrlich? Auf deine Leute brauchst du nicht zu warten, die sind schon über dem Atlantik!“
Ich zog alle acht Stühle vom Tisch weg. Eine Weile spielten wir „Reise nach Jerusalem“, sie unten unter dem Tisch durch und ich um den Tisch herum, in der begleitmusiklosen Variante.

Je mehr Gefallen sie an diesem Sportprogramm fand, je stärker verlor ich meine Zuversicht.

Beim nächsten Versuch stellte ich mich mit dem Köder in der Hand im Flur an der Haustür auf. Die Hundeleine hatte ich mir umgehängt. In der Zwischenzeit hatte sich Jules Misstrauen umgekehrt proportional zu ihrem Hunger entwickelt. Sie nahm die Wurst nur, wenn ich eine Körperhaltung anbot, wie man sie einnimmt, wenn man Ziegen durch einen Zaun hindurch mit Gras füttert. Langer Arm, spitze Finger. Sie schnappte die Wurst zwischen die Zähne und drehte blitzschnell für einen geruhsamen Verzehr dieses Leckerbissens wieder ab ins Wohnzimmer.
Zwischen Wohnzimmer und Flur befindet sich eine Tür.

Ich versuchte eine neue Variante. Statt den Hund zu fassen, ging es darum, ihm den Rückzug zu versperren.

Sie hatte zu meinem Glück noch Interesse an Wurststückchen. Der erste Teil des Programms lief erwartungsgemäß, der zweite Teil nicht. Mein Abstand zur Klinke der Wohnzimmertür war zu groß. Die Tür öffnete nämlich ins Zimmerinnere des Wohnzimmers. Wenn ich die Tür geschlossen hatte, befand ich mich allein im Flur!
Der Aktionsradius im Flur war klein, und das sprach für eine Fortsetzung des Projekts genau hier.

In der Küche bereitete ich mir einen Kaffee zu und überdachte die Problemlage. Jule ist ein Collie-Sennhundmischling, wunderschön, aber groß auch. Der zu überwindende Abstand zwischen mir und Klinke wurde durch meine Armlänge und Jules Körperlänge definiert. Abstand zu groß, Zeit zu kurz, Hund viel zu schlau!

Ich entschied mich für einen Probedurchlauf. Die Wurststücke wurden schon kleiner. Keinesfalls durften die Bestände auf Null zurückgehen. „Wenn du mir vorwirfst, dies sei ein Tierversuch, dann muss ich dir Recht geben!“

Klartext zu reden, ist nie falsch. Ganz besonders dann nicht, wenn es sich um eine Collie-Sennhund-Mischung als Gesprächspartner handelt. Der Vorgang endete mit demselben Ergebnis wie der vorherige. Jule fraß, ich schwitzte! Mir kam dann eine Idee, ich muss an dieser Stelle unbedingt sagen: die Idee! Aus meinem noch nicht ausgepackten Koffer zog ich eine Strumpfhose hervor.
Ein Fußteil dieser Strumpfhose befestigte ich an der Klinke der Tür zum Wohnzimmer, das andere Ende mit dem anderen Fuß der Strumpfhose hielt ich in der linken, der Tür zugewandten Hand. Die Lockwurst ließ ich mir aus der rechten Hand nehmen. Die Strumpfhose spannte sich, Jule kam einen Sekundenbruchteil zu spät! Die Tür war ins Schloss gefallen.

Ich ließ die Strumpfhose wo sie war, nahm Hund, Halsband und Leine, und machte daraus eine Funktionseinheit. Der Hausschlüssel befand sich schon in der Gesäßtasche und Hundesnacks in der Jackentasche.

Direkt hinter der Wohnbebauung ließ ich Jule von der Leine.

Wir waren zwei Stunden am Lahnufer unterwegs. Sie ging schwimmen, brachte das Bällchen zurück und verschwand ansonsten immer mal wieder ganz kurz für Individualabstecher.

Da, wo ich sie von der Leine gelassen hatte, nahm ich sie auch wieder für die Strecke über die Straße ans Halsband.

Beim Auspacken des Koffers im Obergeschoß am nächsten Morgen ließ sie mich nicht aus den Augen. Gut für mich. Ich hatte das Halsband so in meine Kleidung geschoben, dass keine akustischen Signale entstehen konnten. Jule durfte keinen Verdacht schöpfen; ich wollte sie in einem geeigneten Moment packen und ihr dann blitzschnell das Halsband umlegen. Ohne Wurst- und Klinkentricks.

Es machte „Klatsch!“ oder „Klirr!“, das Geräusch, das entsteht, wenn ein schweres Lederhundehalsband mit Metallbeschlägen aus einer Höhe von einem Meter auf einen Holzfußboden fällt. Ich blieb regungslos stehen.
Dass da ihr Halsband vor meinen Füßen lag, begriff Jule sofort.

Ich versuche nicht, zu beschreiben, was in mir vorging, während Folgendes geschah:

Sie schlenderte heran, setzte sich vor mich und hob den Kopf!
 



 
Oben Unten