Jung & Alt - Zwei Szenen

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Einmal wurde Ben im Amt Zeuge eines abscheulichen Vorfalls. Er wollte von ihrem Stockwerk hinunter ins Erdgeschoss gehen und hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als er vom unteren, nicht einsehbaren Abschnitt seltsame Geräusche vernahm. Es klang wie stoßweises Atmen, wie zorniges Keuchen, überraschtes Luftausstoßen oder wie noch etwas anderes, das er nicht näher einordnen konnte, es klang beinahe lustvoll. Er bog rasch um die Ecke und sah auf den Stufen unter sich zwei Männer von hinten, einen älteren und einen recht jungen. Er erkannte Herrn Adelmann, ihren Vorsteher. Gerade trat er den Lehrling Alex wiederholt in den Hintern und trieb ihn vor sich her. Alex stolperte in gebückter Haltung die Treppe hinunter, halb zu ihm umgedreht, und warf ihm überraschte und tückische Blicke zu. Dabei geriet auch Ben in sein Blickfeld und er begann zu grinsen. Herr Adelmann witterte die Gegenwart eines Dritten und drehte sich um.
„Der da hat wieder was ausgefressen“, sagte der Alte, der wahrscheinlich sehr krank war. Er atmete mühsam und röchelte beinahe.
Alex richtete sich auf und warf Ben einen seiner schrägen Blicke von unten herauf zu, erleichtert, befriedigt, herausfordernd. Dann lief er schnell ins Parterre hinunter und verschwand. Wie stämmig er war und dabei noch so jung.
„Sein Vater ist ein tüchtiger Mann, der Gemeinderat, jeder kennt ihn, er ist so angesehen“, erklärte Herr Adelmann. Ben sah ihn verwundert an: Waren das Gründe, Alex zu treten, ihn demütigen zu wollen?
„Er hat ihn hier untergebracht, aber er taugt nichts.“ Der Alte wartete keine Antwort ab und ging langsam weiter abwärts.
Ben hatte kein Wort gesagt. Er vergaß das Bild nie: der zornige, kranke alte Mann, strafend, außer sich, für so viel sich noch rächen wollend, und die verbleibende Lebenszeit reicht dafür nicht annähernd aus – und der Bursche unter ihm, strotzend vor Kraftüberschuss, lässt sich treten und genießt es vielleicht sogar. So verkehrt ihm die Konstellation zunächst vorkam, Ben kam in Gedanken immer wieder auf sie zurück, und allmählich fand er sie weniger abscheulich als vielmehr natürlich. Er wünschte sich, Alex näher kommen zu können. Aber nicht hier im Amt!

Einige Wochen später wollte er erneut die Abteilung im Erdgeschoss aufsuchen und passierte den Korridor in Richtung Treppe. Vor ihm ging zufällig wieder Herr Adelmann. Ben hörte ihn auch diesmal leise keuchend atmen. Er scheute davor zurück, den Alten zu überholen. Dabei hatte er es eilig.
Und wieder spürte der Vorsteher seine Nähe und drehte sich nach ihm um. Er sah grau und verfallen aus.
„Ach, Sie sind’s … Mein Gott, wissen Sie, ich hab’s grad erst erfahren: Sie haben wieder was gefunden, Metastasen. Ich muss gleich hin.“
Er sah Ben zerstreut an, sehr in seine eigenen Gedanken vertieft. Er erwartete keine Antwort und Ben fand keine Worte. Er kam sich plötzlich selbst wie eine Kreatur vor, die nun einmal auch zum Sterben verurteilt ist. Er war ein junges Tier, das stumm und entsetzt das Sterben eines alten miterlebt. Kein Gedanke an Hilfe oder Trost, allmächtig in ihm nur das eine Gefühl: selbst einmal so zugrunde gehen zu müssen.
Ben blieb zurück und ließ Herrn Adelmann vorangehen, die Treppe hinunter. Der Alte versank Schritt für Schritt vor seinen Augen in der Zeit. Er entzog sich ihnen allen, indem er langsam Stufe für Stufe nahm, bei Lebzeiten schon losgelöst von ihnen. Die Haltung seines Rückens, seiner Schultern, was verraten sie dir, Ben? Ja, Schicksalsergebenheit, das auch, aber vor allem eines: Enttäuschung.
An Alex war gerade jetzt kein Gedanke möglich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Arno,

wie immer souverän erzählt. Ich sehe diese zwei Szenen als Auszug aus einem größeren Werk – und da beginnt für mich die Problematik: Sie sind mir zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen.
Er wollte von ihrem Stockwerk hinunter ins Erdgeschoss gehen.
Dieser Satz am Anfang ist ohne Kenntnis der Zusammenhänge schwer verständlich. Wessen Stockwerk? Ben geht doch allein. Lebt oder arbeitet er hier mit noch jemandem?

Das Amt und der Vorsteher werden nicht näher benannt. Hier hätte ich mir eine genauere Beschreibung gewünscht, obwohl dies sicher für die Geschichte nicht unbedingt nötig ist.

Ansonsten selbstverständlich gern gelesen.

Gruß Ciconia
 
Danke, Ciconia, für die Beschäftigung mit meinem Text. Ja, du hast richtig vermutet: Der Text ist einem größeren Zusammenhang entnommen, wenn auch für die Veröffentlichung hier umgearbeitet. Ihm liegen ursprünglich sehr alte Tagebuchaufzeichnungen zugrunde (also reale Erinnerungen), die ich vor ca. zwölf Jahren als kleine Details innerhalb einem Romans mit verarbeitet habe.

Was die von dir angeführten Unklarheiten angeht, so habe ich mich darauf verlassen, dass die geneigte Leserschaft schon die annähernd richtigen Schlüsse ziehen wird, zumal entscheidend nur die Grundsituation ist: Alter Mann in verzweifelter Lage rastet aus, sein sich abzeichnender Zusammenbruch, die Reaktionen zweier junger Männer, die unter ihm arbeiten.

Schönen Abendgruß
Arno
 



 
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