(K)eine Weihnachtsgeschichte

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Rodolfo

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(K)EINE WEINACHTSGESCHICHTE

Es war die letzte Tankstelle vor der Autobahn und sie hatte bereits geschlossen. Leise fluchend stieg er aus und rannte durch den kalten Regen zum Kassahäuschen, wo noch ein schwaches Licht brannte. Sein Klopfen und Rufen blieb jedoch ohne Erfolg. Der Tankwart war vermutlich schon längst zuhause und feierte Weihnachten mit seiner Familie.
Was musste er auch am Weihnachtsabend so lange im Büro hocken bleiben, bis alles geschlossen war! Und dies für Arbeiten, die er leicht auch nach den Festtagen hätte erledigen können. Bis zur letzten Minute war er im Büro geblieben, bis es eben noch ganz knapp bis nach Hause zum Weihnachtsessen reichen würde. Kaum im Auto, durfte er dann feststellen, dass der Tank praktisch leer war und der Sprit ganz bestimmt nicht bis nach Hause reichen würde.
Natürlich passierten immer nur ihm solche Sachen. Während er überlegte, wie er sich aus diesem Schlamassel ziehen könnte, stieg allmählich die Wut in ihm hoch. Der Pannendienst! Er konnte immerhin noch die Pannenhilfe anrufen und sich einen Kanister Benzin bringen lassen. Das würde zwar eine beträchtlich Summe kosten, aber er wäre wenigstens zuhause in der warmen Stube statt hier frierend im Regen. Und der Familienfriede bliebe einigermassen gewahrt. Aber – Himmel, er hatte ja sein Handy absichtlich im Büro liegen lassen, um sich während der Festtage nicht in Versuchung führen zu lassen. Hätte er es mitgenommen, wären bestimmt auch einige Anrufe gekommen und er hätte wieder die zermürbenden Vorwürfe seiner Frau über sich ergehen lassen müssen, von wegen mit dem Geschäft verheiratet und so. Keine Zeit für die Familie, deine Kinder sind aus dem Haus, bevor du sie kennengelernt hast, und deine Frau hast du ja ohnehin nur als billige Putzfrau und Köchin....
Verdammt, er hasste alles, was seinen trägen Frieden störte. Sei es das voraussehbare Genörgel seiner Frau oder sei es das nicht Voraussehbare einer Benzinpanne vor geschlossener Tankstelle und ohne Telefon. Bestimmt gab es hier einen Münzfernsprecher im Kassenhäuschen, aber es war ja alles geschlossen. Wäre er doch für einmal früher von der Arbeit weggegangen, aber eben, es war so friedlich gewesen allein in dem grossen Bürohaus; alle weg nach der billigen Betriebsfeier (nicht einmal genügend belegte Brote für alle und natürlich Pappbecher!) bei letzten Besorgungen oder bereits im Kreis der Lieben zuhause. Ohne Eile hatte er seinen Schreibtisch aufgeräumt, die neuen Ordner für das nächste Jahr beschriftet und auch auf seinem PC alles für den alljährlichen Neubeginn, der eigentlich gar keiner war, vorbereitet. Die Feiertage um Weihnachten und Neujahr bedeuteten ihm eigentlich nicht besonders viel. Ein paar freie Tage, an denen man ausspannen zu können glaubt und dabei den Tag doch nur mit sinnloser Betätigung anfüllt. Besorgungen, kleine Reparaturen, Besuche bei Verwandten, (er seufzte) sowie erneutes Verschieben all jener Dinge, die man eigentlich während der „freien“ Zeit hätte erledigen wollen. (Man wird ja wohl an kommenden Wochenenden die Zeit dazu finden). Ausserdem würde seine Frau schon dafür sorgen, dass er nicht untätig auf dem Sofa lag und sich jeden Mist reinzog, den das Fernsehen gerade sendete.
Er war wieder eingestiegen und sein nasser Regenmantel tränkte die stoffbespannten Autositze. Die Scheiben beschlugen sich wegen der Nässe im Fahrzeuginnern und so hätte er beinahe ein vorbeifahrendes Auto verpasst. Hastig riss er die Tür auf und stolperte hinaus, da sich sein Mantel an der Sitzverstellung verheddert hatte. Mit beiden Armen winkend rannte er die wenigen Meter zur Strasse, wo der ankommende Autofahrer auch gleich Anstalten machte, anzuhalten. Im letzten Moment jedoch schien es diesem offenbar nicht ganz geheuer, vor einer geschlossenen Tankstelle weit vor der Stadt aufgehalten zu werden, er beschleunigte und bog mit durchdrehenden Reifen um die nächste Kurve.
So ein Mist, um diese Zeit musste man froh sein, wenn alle zwei Stunden ein Auto vorbeikam, das konnte ja heiter werden. Er fror in seinen durchnässten Klamotten. Seine Uhr zeigte halb zehn. Jetzt würde seine Frau im Büro anrufen, wo heute nicht einmal ein Nachtportier den Anruf entgegen nehmen würde. Danach würde sie es bei Bekannten in der Stadt und im Lokal an der Ecke versuchen, zuletzt dann bei ihren gemeinsamen Freunden auf dem Land, wo sie wohnten. Zuletzt würde sie vielleicht die Polizei verständigen. Es würde auf jeden Fall jede Menge Ärger geben und Weihnachten wäre gründlich versaut.
Seine Wut war inzwischen so gross, dass er sich selbst als Opfer derselben nicht mehr genügte. Er musste seinen Zorn ausdehnen auf alle, die dazu beigetragen hatten, dass er in diese missliche Lage geraten war. Warum konnte ein Tankstellenbesitzer sein Geschäft einfach schliessen, bloss weil heute Weihnachtsabend war? Und seine Frau: wieso nur war sie ausserstande, ein gemütliches Heim zu schaffen, in das man nach des Tages Arbeit gerne zurückkehrte, um sich in liebevoller Atmosphäre zu erholen? So dass man nicht die Zeit im Büro zu strecken brauchte, weil einem so gar nichts nach Hause zog. Und schuld war ja im Grunde sein Job und der Büroleiter, der in ständiger Furcht lebte, seine Untergebenen hätten zu wenig Druck. So dass er diesen nach Möglichkeit verstärkte und man immer soviel Arbeit erhielt, dass man sie nie ganz erledigen konnte. Dies wiederum raubte einem jede Befriedigung über das Geleistete und man nutzte jede zusätzliche Minute, um etwas vom Aufgabenberg abtragen zu können.
Ach – sollten ihm doch alle zusammen den Buckel runterrutschen, er war auf keine und keinen von Ihnen angewiesen! Er konnte jederzeit ausbrechen, hier und heute, wenn es sein musste. Und es schien allmählich, als müsste es heute sein. Keine dummen Fragen und Bemerkungen, nur noch dümmere Gesichter, die er gerne gesehen hätte, wenn er einfach verschwand und nicht mehr auftauchte. Nicht zuhause, nicht bei den Verwandten und Freunden und erst recht nicht mehr im Büro. Er hatte ein winziges Vermögen im Ausland, dass er vor vielen Jahren beinahe spasseshalber angelegt hatte und seither bei jeder Gelegenheit fütterte. Mit dem Geld könnte er hier ein Jahr überleben. In einem fernen Land mit tieferem Lebensstandard könnten es leicht auch fünf Jahre sein. Die Idee schien ihm plötzlich nicht mehr so abstrakt oder gar absurd wie bisher. Was hätte er denn hier zu verlieren? Eine ständig nörgelnde Frau, ein Landhaus, bei dem die Hypothek höher war als der Verkaufswert? Einen Job, bei dem eigenes Denken und Kreativität nicht gefragt, ja eigentlich sogar hinderlich waren? Arbeitskollegen, die er nicht mochte, weil ihnen ihre stumpfsinnige Arbeit Spass zu machen schien und einen Chef, der ein lautes, dummes und Gemeinheiten von sich gebendes Arschloch war? Nein, er würde überhaupt nichts von Wert zurücklassen und Träume, wohin er gehen und die neue Freiheit geniessen könnte, hatte er genug. Gerade tauchte er ein in diese Träume von kaum bewohnten, tropischen Orten mit schaukelnden Palmenstämmen an schneeweissen Sandstränden, von luftigen Hütten in immerwährend warmem Klima, Fischen, exotischen Früchten und braunhäutigen... Da erschreckte ihn ein heftiges Klopfen am Seitenfenster.
„Hallo, Sie da, ist da jemand drin? Brauchen Sie Benzin? Sorry, war nur mal kurz weg, meiner Familie einen Weihnachtsbesuch machen, ist ja eine Riesenschande, dass man auch am Weihnachtsabend arbeiten muss, wo doch heute hier kaum einer vorbeikommt!“
 



 
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