Käsekuchen mit Rosinen

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Ein guter Bekannter, mit dem ich mich heute wieder mal auf ein Bier treffe, kommt gerade aus dem Seniorenheim, in dem seine Mutter untergebracht ist. Nachdem ich spüre, dass er sich in einer eigenartigen Stimmung befindet, spreche ich ihn auf das Befinden seiner Mutter an. Ich konnte ja nicht ahnen, was ich damit lostreten würde. Denn er fängt gleich zu erzählen an:
„Meine Mutter wird bald fünfundachtzig. Ich besuche sie einmal die Woche und von Mal zu Mal hadert sie mehr. Sie beklagt sich darüber, dass sie immer gebrechlicher wird und ihr alle Knochen weh tun. Außerdem fühlt sie sich ständig müde und hat auf nichts mehr Appetit. ´Altwerden ist nicht schön´, ist ihr Standardsatz.
Bei unseren täglichen Telefonaten wechseln sich ihre Lamentos ab: Einmal ist es der Schwindel, der sie befällt, ein andermal ist sie gestürzt oder beinahe gestürzt. Anderntags tut ihr das linke Knie weh, am Tag darauf das rechte; ein andermal wollen die Beine nicht mehr recht. Auf dem rechten Auge sieht sie nichts mehr und auf dem linken Ohr hört sie nichts mehr. Und erst das Gedächtnis, das immer mehr nachlässt. Regelmäßig lässt sie sich zu Ärzten fahren, die ihr alles Mögliche verschreiben und auf ihr Drängen hin Spritzen geben in dieses und jenes Körperteil.“

Er nimmt einen kräftigen Schluck und fährt fort:
„Heute war es wieder besonders schlimm mit ihr. Da hab´ ich zu ihr gesagt:
„´Was hast du denn gedacht, was Altwerden bedeutet. Man muss doch damit rechnen, dass man abbaut, je älter man wird, schließlich geht man ja aus diesem Grund in Rente. Und das können die meisten ja gar nicht erwarten.
Als sie mich daraufhin erstaunt ansah, setzte ich noch einen drauf: „Mir kann das jedenfalls nicht passieren.“

„Wie meinst du das?“, frage ich ihn.

Als ob er nur darauf gewartet hat, fährt er fort:
„Das kann ich dir sagen. Ich bereite mich schon seit einiger Zeit auf den körperlichen Verfall und das Lebensende vor.“

„Was soll das heißen, das musst du mir schon genauer erklären?“

Nach einem weiteren Griff zum Glas – diesmal nimmt er mehrere Schlucke – beginnt er seine Ausführungen:
„Ich nehme das Älterwerden bewusst vorweg und übe mich darin, die Folgen zu tragen und zwar nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch.“

„Das musst du mir genauer erklären.“

„Das kann ich dir sagen“, fährt er fort. „Schon vor Monaten habe ich mir zwei Krücken zugelegt. Mit denen übe ich. Mit leblos herabhängenden Beinen – anfangs war es nur ein Bein – versuche ich, mich mit diesen in der Wohnung fortzubewegen. Das tue ich mehrmals die Woche und habe spürbare Fortschritte gemacht. Mittlerweile schaffe ich es vom Wohnzimmer ins Bad und zurück; sogar eine Suppe kann ich mir in diesem behinderten Zustand zubereiten.“

Danach hält mein Bekannter inne, was mir ganz recht ist, um das Gesagte halbwegs zu verdauen. Dann führt er weiter aus:
„Auch einen Rollstuhl habe ich mir gekauft, einen solchen kann man sich ganz leicht bei Amazon bestellen. Um mich leibhaftig in eine Behinderung einfühlen zu können, fahre ich in diesem umher – anfangs nur in der Wohnung, inzwischen aber auch draußen, allerdings nur nachts, damit ich keine Erklärungen abgeben muss – du weißt ja, wie neugierig die Leute sind. Aufpassen muss ich nur, dass mich keiner mit dem Gefährt heraus- oder hineingehen sieht.“

„Ich kann das kaum glauben“, unterbreche ich ihn. Meine Reaktion scheint ihn erst recht in Fahrt zu bringen, denn er nimmt sichtlich seine Rede wieder auf:
„Auch wie es sich anfühlt, wenn das Gehör nicht mehr richtig funktioniert, weiß ich jetzt schon. Das geht ganz einfach. Wie du inzwischen gemerkt hast, fange ich immer zuhause an.“

Nachdem mein Bekannter eine geradezu dramaturgische Pause einlegt, fordere ich ihn auf, es nicht so spannend zu machen.
„Wenn ich telefoniere, stecke ich mir in das Ohr, an das ich den Hörer halte, ein Wattekügelchen. Du glaubst ja nicht, wie man sich da konzentrieren muss, um dem Gesprächspartner zu folgen. Es bleibt nicht aus, dass ich öfters darum bitten muss, das Gesagte zu wiederholen. So bekomme ich auch gleich ein Gefühl, wie lästig Schwerhörigkeit auch für andere ist.“

Diesmal bin ich es, der das Bierglas zum Mund führen muss.

„Aber das ist noch nicht alles“ dringt es an meine Ohren, deren Intaktheit mir augenblicklich bewusstwird und ich frage ungeduldig: „Was denn noch?“

„Na die Augen, denk´ doch an die nachlassende Sehkraft. Auch in dieses Gebrechen werde ich nicht blind hineingehen, sondern sehenden Auges“ führt er aus und es ist nicht zu übersehen, wie er ob seines kalauernden Wortspiels nach Anerkennung heischt.

„Und wie gehst du da vor?“ unterbreche ich sein genüssliches Grinsen.
„Das geht ganz einfach. Ich setze beim Einkaufen im Supermarkt eine getönte Brille auf, so dass ich mir schwertue, die Artikel gleich zu erkennen. Um das Kleingedruckte und die Preise zu entziffern, bedarf es einiger Anstrengung. Um das Ganze noch zu steigern, betrete ich einen Laden manchmal sogar mit einer Sonnenbrille, da bekomme ich einen Vorgeschmack darauf, wie es ist, fast blind zu sein. – Ach ja, bevor ich es vergesse. Was den Schwindel angeht, nichts leichter als das. Wie du ja weißt, lässt sich der leicht erzeugen; man muss nur über den Durst trinken, am besten auf nüchternen Magen. Bei mir geht das aber auch ohne trinken. Da ich einen niedrigen Blutdruck habe, genügt es, eine Zeitlang gar keine Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Wenn ich dann aufstehe, dreht es mich so weg, dass ich mich festhalten muss.“

„Das ist ja alles ganz schön heftig“ sage ich. Mein Bekannter fasst das, nach seiner Miene zu urteilen, als Kompliment auf. Doch gleich darauf wird er sehr ernst.

„Was hast du denn plötzlich?“, will ich von ihm wissen.

„Überleg doch, mit was endet das Alter und damit das Leben?“

Obwohl ich mir denken kann, was er meint, setze ich eine erstaunte und ungläubige Miene auf.

Mein Bekannter senkt die Stimme:
„Inzwischen bin ich soweit, mich auf meinen Tod vorzubereiten.“

„Ach, kann man das denn, noch dazu, wenn man noch, so wie du, relativ jung und gesund ist?“ werfe ich ein.

„Ja, es ist wirklich nicht ganz leicht, aber es geht“, erwidert er. „Grundübung ist, so oft wie möglich den Friedhof aufzusuchen, wo du einmal – wenn es soweit ist – begraben werden wirst. Dort schlendere ich durch die Grabreihen und sehe mir all die Gräber an, vor allem die Gräber derjenigen, die ich gekannt habe. Unweigerlich sagst du dir dann: Mensch, was ist denn schon dabei, wenn ich auch mal dazugehöre. Ich schließe mich ja nur der überwältigenden Mehrheit an. Gut verinnerlichen lässt sich diese Einstellung, wenn man seinen eigenen Namen auf einem der Grabsteine visualisiert. Aber das gelingt nur nach längerer Einübung.“

„Mein lieber Mann, das ist ja ganz schön morbide. Ich weiß nicht, ob ich das könnte“, gestehe ich.

„Ja, ich versteh´ dich, mir ging es am Anfang auch so. Darum habe ich – bevor ich zu meinem Friedhof bin – Trainingsrunden durch einige der umliegenden Friedhöfe absolviert.“

Er holt kurz Luft und setzt zum Endspurt an:
„Aber bevor es unter die Erde geht, wird man ja ins Leichenhaus gebracht. Zur Vorbereitung auf den ewigen Schlaf tut´s ein Bettlaken, das man kurzerhand zum Leichentuch erklärt. Mit diesem kann man sich dann zudecken. Auch die nötige Leichenblässe lässt sich mit Schminke ohne viel Aufwand herstellen. Ich habe das alles schon verifiziert.“ (Dass er in diesem Zusammenhang dieses Fremdwort benutzt, empfinde ich als – das Wort drängt sich hier auf – befremdlich.)

Gleichermaßen mitgenommen wie zufrieden wirkend, verfällt er dann in Schweigen. In dieses hinein richte ich an ihn die Frage:
„Und was sagt deine Mutter dazu?“

„Nichts“, erwidert er knapp.

„Sie hat nichts dazu gesagt? Warum denn nicht?“, entfährt es mir.

„Weil genau in dem Moment, als ich ihr sagte, dass es mir nicht passieren kann, vom Alter überrascht zu werden, eine Pflegekraft ins Zimmer kam. Sie brachte den Nachmittagskuchen, auf den sich meine Mutter jeden Tag freut. Und heute gab es ihren geliebten Käsekuchen mit Rosinen, du hättest ihr Gesicht sehen sollen.“

„Aber danach, hast du ihr es da erzählt?“ fasse ich nach.

„Wo denkst du hin – da hätte ich ganz schön alt ausgesehen.“


Spricht Euch die Geschichte an - ich meine von der Idee her?
 

Rachel

Mitglied
Lieber Schwalbenmann, ja mich spricht die Geschichte an; ich mag deine wirklichkeitsnahe, beispielreiche Vorgehensweise. Nur das Ende fand ich so kurz gestaltet etwas abrupt. Du könntest den täglichen Kuchengenuss der Mutter (das ewige Hier und Jetzt) versus der bewussten Selbst-Herausforderung des Sohnes (alles ist Vergänglichkeitsübung ) noch ein wenig ausbauen. Liebe Grüße
 



 
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