Käthchen, mein Mädchen

SuMay

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Kate rannte so schnell sie konnte. Sie rannte schon eine ganze Weile, wie lange genau wußte sie nicht mehr. Und doch blieb sie stets am selben Fleck des Gehsteiges. Um sie herum waberten Menschen in alle Richtungen, umgaben sie, bewegten sich durch sie hindurch ohne sie zu beachten. Auf der Straße fuhren Autos, hupten , lärmten, die üblichen Geräusche einer Großstadt. Hohe graue Hausmauern schränkten den Blick ein und fokussierten ihn auf einen weit entfernten Punkt, der ebenfalls grau war. Kate rannte auf ihn zu, er hätte ein Ausweg sein können. Aber so sehr sie sich auch abmühte, sie kam ihm mit keinem Schritt näher. Sie kam auch nicht außer Atem. Es fiel ihr nicht auf. Der Wind löste ein paar Strähnen aus ihrem Haarknoten und wehte sie ihr ins Gesicht. Er blies in ihren Rücken, schien sie vorwärts schieben zu wollen, doch ohne Erfolg. Sie bewegte sich keinen Millimeter voran. Ihr Verfolger hätte sie längst einholen müssen. Angstschweiß drang Kate aus jeder Pore. Doch sie war stark und hatte immer noch die Kraft weiter zu rennen. Sie war nicht der Typ, der einfach aufgab. Sie trieb sich an: schneller, schneller, noch schneller – bis sie seinen heißen Atem direkt in ihrem Nacken spürte und der Geruch seines herben After Shafes in ihre Nase drang.
Sie fuhr aus einem Alptraum auf. Hugos Krähen – es mußte Hugo sein, er krähte immer vor Egon, dem jüngeren Hahn – hatte sie jäh in einen neuen frischen Tag katapultiert. Durch die offenen Fenster begrüßte sie eine freundliche Morgendämmerung, die es wie selbstverständlich schaffte ihre angeschlagenen Nerven zu beruhigen. Mit zunehmender Helligkeit vertrieb sie langsam aber stet die nächtlichen Dämonen. Irgendwann würde Kate so wie früher friedlich aufwachen um ausgeruht und kraftvoll in einen neuen Tag zu starten.
Sie war zu Hause. Nach jahrzehntelangen Irrwegen durch Großstädte, Berufe und Beziehungen hatte sie im zeitigen Frühjahr das kleine, alte Haus ihres Großvaters geerbt, war ins Dorf ihrer Ahnen zurückgekehrt und geblieben. Allerdings nur tagsüber, denn jede Nacht zog es ihre Seele unausweichlich zurück ins Chaos ihrer Vergangenheit mit Namen Dieter, umgeben von grauem Beton und grauem Himmel. Es hetzte sie ziellos durch Gassen und Straßen, und wenn sie schweißüberströmt erwachte erinnerte sie sich nur noch an Gestank und Lärm – viel Lärm. Ihr eigenes Schreien ging darin unter. Niemand würde es jemals hören.
Die Altsteirer füttern, den Stall aufmachen, das Federvieh war das erste tägliche Highlight. Erst danach kochte Kate Kaffee, um mit der ersten heißen Tasse einen Rundgang durch den kühlen Garten zu machen. Dabei beäugte sie liebevoll–kritisch jede Pflanze, vor allem das im Mai von ihr ausgepflanzte Gemüse, und freute sich, wenn alles wuchs und gedieh. Waren da etwa Blattläuse auf den Zucchinis? Schon lief sie in die Küche um ein Gemisch aus Wasser, Milch und Öl herzustellen. Damit würde sie den ungeliebten Gästen den Garaus machen. Sorgfältig besprühte sie jede Pflanze, hielt behutsam die Blätter in ihren Händen, am liebsten hätte sie sie geküßt. Natürlich sprach sie auch mit ihren grünen Kindern. Die konnten zuhören – oh ja! - und ihre Antworten konnte sie fühlen, sehen, riechen und schmecken.
Dieters Antworten hatte sie auch spüren können. Die Hämatome waren nicht mehr zu sehen, die Narben schon. Ein süßlicher Geschmack erfüllte ihren Mund bei dem Gedanken. Blut. Und Salz. Schweiß. Automatisch fing ihr Herz an zu rasen, als ob das Rennen nie zu Ende ginge, ein Wettlauf auf Leben und Tod. Den sie gewonnen hatte.
Wie friedlich die weißen Wolken über den hellblauen Sommerhimmel ziehen, dachte Kate, deren Atem immer noch kurz und schnell ging. Einatmen, ausatmen, wie sie es gelernt hatte, einatmen, ausatmen, langsam wieder zur Ruhe kommen, einatmen, ausatmen. Die Luft roch frisch, es mußte in der Nacht geregnet haben. Keine Abgase, kein Lärm, nur das Tuckern eines Traktors in der Ferne. Einatmen, ausatmen. Großvater.
Der alte Mann trug ein weites weißes Hemd ohne Kragen. Es hing lose über seiner grauen Jeans. Er hatte erstaunlich dichtes graues Haar und einen Vollbart. Sie sah sein gütiges Gesicht stets umrahmt von einem Heiligenschein. Meistens sah er sie einfach nur an, sein Blick tief, fest, liebevoll, seine dunklen Augen von unzähligen Fältchen umgeben. Selten hatte er zu ihr gesprochen: „Käthchen, mein Mädchen“, an mehr konnte sie sich nicht mehr erinnern, doch seine tiefe volle Stimme würde für immer in ihr nachklingen. Ob sie damals verstand was er ihr sagte? Sie wußte es nicht; jedenfalls hielt sie ihn für klug. Er war der einzige, dem sie nachtrauerte als sie ging. Er fehlte ihr heute noch so sehr, daß sie regelmäßig von ihm träumte, vor allem wenn es ihr nicht gut ging. Er war es, der ihr die Kraft gegeben hatte zu tun was getan werden mußte.
Der Großvater hatte sie oft mit in die Berge genommen. Er besaß dort eine alte schäbige Jagthütte, mitten im Wald, wo man nur zu Fuß hinkommen konnte. Sie war bescheiden eingerichtet, ein Ofen, ein Tisch, drei Stühle, ein Schrank und ein Bett. Aber in Wirklichkeit war es ein verwunschenes Schloß, er war der alte König und sie die Prinzessin. Das Schloß wurde von Feen und Elfen bewacht, es war der sicherste Ort der Welt.
Niemand würde jemals ein Loch hinter der Hütte graben.
 



 
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