Kalea

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Charlene

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Kalea

Der Gepard lag mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Maul auf dem kalten Marmorboden. Sein gepunktetes Fell war blutverschmiert und der Bauch aufgeschlitzt. Die Raubkatze war tot, genauso wie der von einem Pfeil durchbohrte Adler und die in Stücke gehackte Schlange neben ihm.
Kalea starrte die drei Kadaver vor ihren Füßen an. Wenn sie nicht von klein auf gelehrt worden wäre, ihre Gefühle vor Anderen zu verstecken, hätte sie jetzt dem Drang nachgegeben und sich schnell von diesem grausigem Anblick abgewandt. Doch ein kurzer Blick in das Gesicht ihrer Mutter, die auf einem höhergestellten Thron saß, vertrieb diesen Unfug aus ihrem Kopf und Kalea ignorierte ihren revoltierenden Magen. Sie atmete einmal tief durch und versuchte die gleiche verächtliche und hochmütige Mine wie ihre Mutter anzunehmen.
„Am-Tang!“, Königin Atara spuckte die zwei Worte wie verdorbenes Essen aus und wandte den Kopf einer der ehrfürchtig am Boden kauernden Bediensteten zu. „Schafft diese Verräter aus Unseren Augen!“ Kaum hatte Atara geendet, erhoben sich die Dienerinnen und wenige Augenblicke später waren die toten Tiere weg. Kalea blickte auf den blutbefleckten Boden. Am-Tang. Ein Ausdruck der nicht nur ihr, sondern so ziemlich jedem Untertanen des Königreichs Luciana Schauer über den Rücken jagte. Nicht, weil die Am-Tang Menschen waren, die diese verfluchte Gabe besaßen, sich in ein Tier zu verwandeln, sondern weil sie sich vor den Methoden fürchteten, mit denen Atara die Am-Tang bis aufs Blut bekämpfte.

Während Samila, Kaleas Zofe, das dunkelbraune Haar ihrer Herrin wie jeden Abend kämmte, betrachtete Kalea in Gedanken versunken den Spiegel, vor dem sie saß. Das dämmrige Licht der spärlich im Raum verteilten Kerzen warf flackernde Schatten auf ihr Gesicht. Obwohl ihr nachgesagt wurde, dass ihre Schönheit sogar die ihrer Mutter übertraf, die einst als die hübscheste Frau im Lande gegolten hatte, war Kalea mit dem Anblick, der sich ihr bot, alles andere als zufrieden. Ihre Haut hatte die gleiche erdene Farbe, wie die jedes Einwohners des Königreiches und ihre Augen funkelten sogar im schwachen Licht in einem intensiven Gold. Kaleas Gesicht war feingliedrig, mit geschwungenen Augenbrauen, einer geraden, kleinen Nase und großen, vollen Lippen, die in letzter Zeit aber nur selten ein Lachen zeigten. Ihr schulterlanges, seidiges Haar fiel glatt herab und schimmerte dunkelbraun. Kaleas Gestalt war hochgewachsen und äußerst schlank, sie bewegte sich anmutig wie die Gazellen, die im Palast gehalten wurden. Alles in allem hatte sie nicht den geringsten Anlass mit ihrem Aussehen zu hadern und das war auch nicht der Grund für ihre Unzufriedenheit, sondern einzig und allein ihre Mutter. Königin Atara entwickelte sich immer mehr zu einer Tyrannin, die das lucianische Volk unterdrückte. Oder vielleicht fiel es Kalea auch erst jetzt auf, dass ihre Mutter nicht richtig handelte. Die Ermordung der Am-Tang war nur der Gipfel der Gräueltaten. So lange sich Kalea erinnern konnte, war ihre Mutter schon immer kühl und abweisend gewesen, auch ihrer Tochter gegenüber. Die Erziehungsmethoden, mit denen Kalea aufgewachsen war, konnten nicht gerade als modern bezeichnet werden. Während das Volk es verpönte, seine Kinder zu schlagen, befürwortete Atara es, ja sie sah sogar zu, wenn Kalea bestraft wurde und verhöhnte ihre Tochter dabei. Nur so konnte Kalea einmal eine gute Herrscherin werden, glaubte sie. Auch Kaleas Vater hatte Ataras Methoden verachtet, doch er war nicht mehr da, um sie zu beschützen. Nur vier Jahre nach ihrer Geburt war er zurück in sein Heimatland gegangen, weil er es in Luciana nicht mehr ausgehalten hatte. Atara hatte schallend gelacht, als Kalea mehr über ihn wissen wollte.
„Dein Vater, mein Kind?“, Ataras Stimme klang schrill in dem hohen Raum, der zu ihren Gemächern gehörte und das einzige Zimmer war, das Kalea jemals vom Privatbereich ihrer Mutter betreten durfte. „Er kam aus Morenaî und konnte sich nicht vorstellen, dass wir Frauen die Herrscher der Erde sind. Weißt du, Morenaî ist sehr rückständig. Frauen werden dort als Sklaven gehalten und sind einzig für den Fortbestand der Bevölkerung da. Anfangs dachten Wir, dein Vater sei eine Ausnahme, und könne die einfache Tatsache akzeptieren, dass in Luciana Frauen höhergestellt sind als Männer. Doch er war zu dumm, um die Wahrheit zu erkennen und beklagte sich dauernd, dass er nicht am öffentlichen Leben teilnehmen durfte. Ja, er forderte von Uns sogar, frei bestimmen zu können, wann er den Palast verlassen konnte. Alleine darin siehst du, wie beschränkt dein Vater war. Es wäre ja noch schöner, wenn Männer anfangen würden, selbst über sich zu verfügen! Er redete immer davon, dass es den Männern erlaubt sein sollte, öffentliche Ämter zu bekleiden. Aber als Wir ihm mitteilten, dass es nicht in Unserem Interesse stünde, Männern auch nur das Recht zuzugestehen, ohne Erlaubnis ihrer Ehefrauen das Haus zu verlassen, zog Otada es vor, bei Nacht und Nebel das Land zu verlassen.“ Atara blickte ihre Tochter an und zog die Augenbrauen hoch, als sie etwas bemerkte, was ihr augenscheinlich missfiel. Sie hob ihre rechte Hand und fasste Kalea mit ihren langen, spitzen und blutrot lackierten Fingern ans Kinn. Ihr Mund kräuselte sich zu einem missachtenden Lächeln und ihre dunklen Augen bohrten sich in die ihrer Tochter. „Zum Glück kommst du nach Uns. Nur deine Augen haben die Farbe derer deines Vaters. Wir hoffen, dies ist das einzige, was du von ihm hast. Wehe, wenn böses Blut in deinen Adern fließt...“
Kalea erschauderte als sie an das Gespräch dachte. Gerade Ataras letzte Worte gingen ihr seitdem nicht mehr aus dem Sinn. Was hatte ihre Mutter nur damit gemeint? Das Mädchen schüttelte den Kopf und brachte die arme Samila aus dem Rhythmus, mit dem sie Kaleas Haare kämmte.
„Sag Samila, was weißt du über Morenaî? Stimmt es, dass Frauen dort wie Sklaven gehalten werden und die Männer die Macht haben?“ Samila senkte den Kopf. Sie vermied es, ihrer Herrin in die Augen zu sehen, doch diese dachte gar nicht daran, ihre Dienerin ohne Antwort gehen zu lassen. Kalea drehte sich zu ihr um.
„Antworte! Du kommst aus Morenaî, habe ich recht? Mein Vater brachte dich mit!“ Samila hätte ihre Herkunft schlecht verleugnen können, denn, wie die jedes Menschen aus Morenaî, war auch Samilas Haut hell. So blieb ihr nichts anderes übrig, als schwermütig zu seufzen und mit leiser Stimme zu erwidern: „Es ist wahr, was Ihr sagt. Ich wurde in Morenaî geboren, aber die Gerüchte über mein Land sind falsch.“ Samila blickte flehend in das Gesicht ihrer jungen Herrin. „Bitte, lasst mich gehen! Der Palast hat überall Ohren und wenn Ihre Majestät, die geheiligte Königin Atara – lange möge sie leben!- erfährt, dass ich mit Euch über meine Heimat gesprochen habe, wird sie mir die Zunge abschneiden lassen!“ Kalea legte den Kopf schief und fuhr sich mit der Zunge nervös über ihre Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. Sie wusste, dass ihre Mutter überall Spitzel hatte, die ihr treu ergeben waren und Atara hatte oft genug bewiesen, dass sie über jeden Fehltritt ihrer Tochter genauestens informiert war und keiner war je ohne Folgen geblieben. Schließlich nickte Kalea, stand auf und bedeutete Samila ihr zu folgen. Schweigend verließen sie den Raum.

Der Himmel war bedeckt und nur vereinzelt spendeten Sterne ein wenig Licht, der Mond selbst war von schweren Gewitterwolken verdeckt. Aber Kalea kannte den Weg auch im Dunkeln und so gelang es ihr mit Samila ungesehen in den Garten des Palastes zu gelangen. Niemand würde sie zu dieser Zeit hier vermuten. Kalea setzte sich in den Sand und streckte ihre Füße in das Wasser des Sees. Samila saß neben ihr und sah sich immer wieder unsicher um. Erst nachdem Kalea ihr mehrmals versichert hatte, dass sie hier niemand belauschen konnte, fing sie stockend an zu erzählen.
„Prinzessin, Ihr müsst wissen, Morenaî ist ein ganz wunderbares Land! Nichts was man hier über es weiß, kommt der Wahrheit nahe. Seit Jahrhunderten haben wir immer gerechte Könige gehabt, die ihre Entscheidungen nur zusammen mit den zehn Abgeordneten des Volkes treffen dürfen. Diese Abgeordneten werden alle fünf Jahre neu gewählt, von jedem, der das Erwachsenenalter erreicht hat. Wir haben keine Sklaven, jeder ist gleich, auch Mann und Frau, beide haben die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten. Bei uns werden weder die Frauen unterdrückt, noch...“ Samila hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Beschämt senkte sie den Kopf. „Verzeiht!“, bat sie. „Es steht mir nicht zu.“
„Sprich weiter! Ich bitte dich!“, drängte Kalea.
„Noch werden die Männer bei uns diskriminiert wie hier in Luciana.“ Samila wagte es nicht, ihren Kopf in die Richtung ihrer Herrin zu wenden. Die Worte, die sie soeben gesprochen hatte, galten als Hochverrat und wurden mit dem Tode bestraft. Kalea indes betrachtete ihre Dienerin nachdenklich. Sie zweifelte kaum an dem, was sie gerade gehört hatte, wenn Samila auch sicherlich etwas übertrieb. Nirgends konnte es so einen vollkommenen Staat geben! Aber ihr Wissensdurst war noch nicht gestillt, denn eigentlich wollte sie mit Samila über etwas anderes sprechen. Deshalb redete sie nun beruhigt auf die verschreckte Dienerin ein und versprach, niemandem von dem Gesagten zu berichten.
„Samila, gibt es auch in Morenaî Am-Tang? Sind sie dort genauso gefürchtet?“ Samila sah erstaunt auf.
„Ihr solltet Euch mit solchen Dingen nicht beschäftigen, Prinzessin! Gewiss hat Euch der Anblick der toten Tiere heute Morgen sehr aufgewühlt, doch...“
„Sei ruhig, Samila! Was redest du da für Unsinn! Ich habe schon schlimmeres gesehen, ja ich war bei Hinrichtungen von Verrätern unseres Landes dabei. Aber jetzt bin mir nicht mehr sicher, was ich glauben soll. Mein Leben lang ist mir eingetrichtert worden, dass die Am-Tang das Böse überhaupt sind. Aber sie sind keine Tiere, wie du sagst, sie sind Menschen. Warum sind sie so gefährlich für uns?“ Samilas Blick wurde stechend und sie musterte die junge Prinzessin mit einer Intensität, dass es Kalea kalt den Rücken hinunterlief.
„Ja, auch in Morenaî gibt es Am-Tang. Doch bei uns werden diese Menschen verehrt, die von den Göttern mit der Gabe gesegnet wurden, sich in Tiere zu verwandeln. Jeder Am-Tang wird speziell ausgebildet und erhält das Recht, der Am-Armee beizutreten. Die Am-Armee besteht nur aus Am-Tang und ist weit und breit gefürchtet, weil sie bisher noch nie besiegt wurde. Als vor etlichen Menschenaltern ein König den Thron bestieg und die Abgeordneten des Volkes abschaffen wollte, schritt die Am-Armee ein und vertrieb ihn. Seht mich nicht so an, Hoheit, ich kann Euch nicht sagen, warum Ihre Majestät, die geheiligte Königin Atara – lange möge sie leben! – solche Angst vor ihnen hat, dass sie das Volk mit Schauermärchen einschüchtert und jeden Menschen, der mit dieser Gabe gesegnet sein könnte, bestialisch umbringen lässt...“ Samila blickte in den dunklen Himmel und schien mit sich selbst zu ringen. „Ich kann nur vermuten.“, fuhr sie leise fort. Der Wind spielte mit ihren roten Locken und der Mond, der für einen kurzen Augenblick sein bleiches Antlitz zeigte, lies ihr Gesicht jünger wirken. „Die Königin selbst fürchtet sich am allermeisten vor den Tiermenschen. Sie hat Angst, dass sie sich auch hier formieren und ihrer Regentschaft ein Ende bereiten könnten. Die Priesterin der Schicksalsgöttin weissagte ihr am Tage ihrer Krönung, dass sie sich vor Tieren in Acht nehmen müsse, die keine seien.“
„Aber Samila, warum bist du nicht mit meinem Vater zurückgekehrt, warum bist du noch immer hier?“ Die Dienerin antworten nicht, statt dessen rannen Tränen über ihr blasses Gesicht. Erst einige Zeit später fand Samila die Kraft zu sprechen:
„Ich war sechzehn, so alt wie Ihr, als ich als Vertraute Eures Vater hier her kam. Aber da meine Mutter erst kurz vorher gestorben war, nahm ich meine zwei Jahre alte Schwester mit mir. Sie wuchs hier zusammen mit Euch auf, bis Otada, Euer Vater, nach Morenaî heimkehrte. Ich unternahm alles um mit ihm gehen zu können, doch die Königin befahl mir, mich um Euch zu kümmern, weil sie keiner ihrer Bediensteten diese Aufgabe zumuten wollte. Königin Atara hatte die Angst, Ihr könntet ... anders sein, weil Ihr ja zur Hälfte eine Morenaî seid. Um mich zum Bleiben zu zwingen, nahm sie mir meine Schwester, die kleine Sovann, weg und sperrte sie ein. Nur einmal im Monat durfte ich sie besuchen. Ich hoffte, zurückkehren zu können, wenn Ihr älter seid und mich nicht mehr braucht, doch als Sovann vierzehn wurde, stellte Eure Mutter fest, dass sie ein Am-Tang ist. Sovann kann sich in einen Löwen verwandeln. Erst fürchtete ich, die Königin würde meine Schwester umbringen und heute wünschte ich mir, sie hätte es getan. Aber sie dachte gar nicht daran, sie war sogar in hohem Maße erfreut. Seitdem lässt sie Tests an Sovann durchführen, um zu ergründen warum manche Menschen Am-Tang sind. Sovann wurde in eine kleine Zelle gesperrt. Als ich sie das letzte Mal besuchte, sah sie so elend aus...“
Eine Zeit lang saßen die beiden Frauen schweigend am Strand, nur das Rauschen der Wellen war zu hören, ab und zu das Schreien eines Vogels, der Geruch von Salz lag in der Luft, denn der See wurde vom Meer gespeist. Trotz der abendlichen Stunde war es noch sehr warm, schließlich war Sommer, und nur unweit des Ufers wucherten bunten Blumen und Pflanzen, die selbst für viele Lucianer exotisch waren. Kalea griff in den Boden und ließ Sand durch ihre Finger rieseln. Endlich stellte sie die Frage, die sie seit Wochen quälte: „Sag die Wahrheit, Samila“, sie blickte ihrem Gegenüber eindringlich in die Augen. „War er ein...? Ich meine, ist mein Vater ein Am-Tang?“ Samila sog erschrocken die Luft ein und starrte ihre Herrin aus geweiteten Augen fassungslos an, doch als sie die Verzweiflung im Gesicht ihres Schützlings sah, senkte sie zustimmend den Blick. Kalea schluckte, um die Tränen zurückzuhalten.
„Die Wüste, Samila. In Luciana gibt es keine Wüsten und bis vor wenigen Wochen war dieses Wort für mich ohne jegliche Bedeutung. Aber jetzt... Ich weiß, wie die Wüste aussieht, Samila!“
„Was?!“, stieß die Dienerin erstickt hervor.
„Ja, ich habe sie gesehen. Ganz deutlich, all den Sand und die flimmernde Hitze, ich habe die brennende Sonne gefühlt, den heißen Sand unter mir. Aber... Ich sah die Wüste nicht durch meine Augen, sondern durch die eines anderen, eines Tieres.“
Jetzt war es an beiden zu weinen.

Es dauerte nur einige Wochen, bis alles nichts mehr nützte und Kalea sich nicht länger einreden konnte, das Wüstenerlebnis nur geträumt zu haben. Eines Morgens wachte sie auf und musste mit Entsetzen feststellen, dass ihr ganzer Körper mit einem hellbraunen Fell bedeckt und ihre Ohren länger als gewöhnlich waren. Offiziell wurde erklärt, die Prinzessin fühle sich nicht wohl und Kalea wurde von allen ihren Pflichten entbunden. Samila saß Tag und Nacht bei ihr, beruhigte sie, wenn Kalea panisch wurde und berichtete alles, was sie über Am-Tang wusste. Menschen, die mit dieser Gabe geboren wurden, entdeckten die ersten Anzeichen meistens nicht bevor sie schon fast erwachsen waren und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich das erste Mal vollständig in „ihr“ Tier verwandelten. Denn im Gegensatz zu den Gerüchten, die in Luciana kursierten, war jedem Am-Tang nur eine Tiergestalt gegeben. Es kostete viel Mühe die Verwandlungen zu kontrollieren und vor allem in jungen Jahren konnte es vorkommen, dass sie gegen ihren Willen zum Tier wurden. Kalea brauchte einige Tage, bis sie sich von dieser Nachricht erholt hatte und ihr bei dem bloßen Gedanken an Samilas Worte nicht mehr schlecht wurde. Trotzdem hatte sie Angst, denn was würde geschehen, wenn sie sich mitten in einer Audienz nicht beherrschen konnte und vor den Augen ihrer Mutter plötzlich Hufe bekäme, oder noch schlimmer, sich ganz verwandelte? Kalea blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.

Königin Atara war äußerst ungehalten heute. Die Botin, die vor ihr und ihrer Tochter am Boden kniete, würde das Schicksal aller teilen, die der Königin schlechte Nachrichten überbrachten und die nächsten Stunden nicht überleben. Atara hob die Hand und machte eine wegwischende Bewegung. Sofort eilten Dienerinnern herbei, die die um Gnade jammernde Botin aus dem Raum schleiften.
Die Nachrichten waren wirklich nicht sehr erfreulich: Sechs neue Am-Tang waren aufgespürt und auf der Stelle vernichtet worden. Atara stand auf und bedeutete ihrer Tochter es ihr gleich zu tun. Sie begaben sich, gefolgt von einer Schar an Beraterinnen, in ein angrenzendes Zimmer und nahmen an einem großen Tisch Platz. Atara blickte aus kalten Augen in die Runde und heftete sie schließlich auf das kleinste Mitglied ihres Beraterstabes, eine Abgesandte der südlichsten Provinz, die erst kurz im Palast lebte. „Gjana, werden unsere Methoden im Süden eingehalten?“, fragte Königin Atara mit spitzer Zunge und blickte die Angesprochene lauernd an. Nur ein Fehler von dieser und auch sie würde nicht mehr lange unter den Lebenden weilen. Nervös fuhr sich Gjana durch ihre lockigen Haare und nickte.
„Sprich! Was wird im Süden mit Am-Tang angestellt?“, wiederholte Atara gereizt, während sie mit ihren Fingernägeln quietschen über die Tischplatte fuhr. Gjana sah eingeschüchtert auf und blickte Hilfe suchend von einem zum anderen. Als sie feststellte, dass ihr in der Runde niemand beistehen würde, antwortete sie mit zitternder Stimme: „Sobald... Ja, sobald es sich herausstellt, dass... wenn wir ein Am-Tang finden, wird es gefangen... Also eingesperrt und befragt. Genau und dann wird es getötet.“
„Wie?“, hakte Atara nach, denn sie konnte es keinesfalls dulden, wenn diese Angelegenheiten nicht auf ihre Art geregelt würden. Gjana verschränkte ihre Finger und hustete kurz.
„Sie werden in ein Gehege getrieben... da werden sie so lange gehetzt, bis sie ihre... also sie sich verwandeln, dann werden sie beschossen, mit Pfeilen und die Kriegerinnen erstechen sie. Wenn sie dann noch nicht tot sind, werden sie lebend ausgenommen.“ Kalea schluckte ein Mal, dann ein zweites Mal. Sie musste das, was sie gerade gehört hatte, schleunigst vergessen. Und sie musste sich jetzt unter Kontrolle halten. Sicherlich würde ihre Mutter mit ihr nicht so verfahren, wenn sie herausfände, dass sie ein Am-Tang war. Schließlich war sie die Prinzessin! Dennoch verschwand der Kloß in Kaleas Hals nicht, so sehr sie sich das auch einredete. Sie kannte ihre Mutter zu gut und wusste, dass dieses Argument in Ataras Augen nicht zählte. Ein Verräter war und blieb ein Verräter, auch wenn es sich dabei um die eigene Tochter handelte. Kalea brach kalter Schweiß aus, als sie in das Gesicht ihrer Mutter schaute. Dieser Fanatismus, den sie in deren Augen entdeckte, wenn sie von den Quälereien und der Ermordung der Am-Tang sprach, ließ sie erschauern. Kaleas Hände zitterten als sie zur Ablenkung ihr Glas ergriff und mit kleinen Schlucken trank. Ihre Zunge war trocken und pelzig, jeder Schluck schmerzte und auf ihrem Kopf schien eine ganze Horde Elefanten zu trampeln. Sie musste hier raus! Leise sprach sie ihre Mutter an, denn ohne deren Erlaubnis war es ihr aufs Höchste verboten, den Raum zu verlassen. Atara hatte sich in Rage geredet und bemerkte die Bemühungen ihrer Tochter nicht, deshalb lehnte sich Kalea vorsichtig vor und streckte die Hand nach ihr aus. Auf halbem Weg erstarrte sie. Da wo eigentlich ihre Finger sein sollten, war nur noch ein Huf. Bevor sie ihn unbemerkt wieder zurückziehen konnte, erregte sie jedoch die Aufmerksamkeit Aller im Raum, indem sie mit lautem Gepolter vom Stuhl fiel. Ihr ganzer Körper kribbelte unangenehm und erschrocken stellte Kalea fest, dass sie keine Arme mehr hatte, auf die sie sich beim Aufrappeln hätte stützen können, sondern zwei lange, dünne, haarige Vorderbeine, denen sich ein großer, länglicher Körper mit zwei Höckern anschloss. Kalea begriff nur langsam, dass sie nicht mehr sie selbst war, sondern – ein Kamel. Es war das erste Mal, dass Kalea Königin Atara mit offenem Mund und völlig fassungslos dasitzen sah. Einige der Beraterinnen hatten sich unter dem Tisch versteckt und die anderen starrten sie entsetzt an. Kaleas Mutter war die erste, die sich wieder fing. Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen stand sie auf, ging auf das am Boden liegende Kamel – ihre Tochter – zu und streichelte dem Tier über den Kopf. „Ja, was haben wir denn da, meine Liebe?“, fragte sie scheinheilig mit zuckersüßer Stimme, bevor sie einem Raubtier gleich ihre weißen Zähne in einem grausamen Grinsen zeigte.
Mit wenigen Worten rief sie die Wachen herbei und noch bevor Kalea begriff, was überhaupt vor sich ging, waren ihre Vorder- und Hinterläufe in Ketten gelegt. Sie war so benommen, dass sie sich nicht wehrte, als sie aus dem Raum gezerrt wurde. Nur das höhnische Lachen ihrer Mutter hallte laut in ihrem Kopf.

Stöhnend öffnete Kalea ihre Augen und starrte auf eine Steindecke, von der Wasser auf ihre Nase heruntertropfte. Ihr Kopf schmerzte, genauso wie der Rest ihres Körpers und sie konnte sich nicht erinnern was geschehen war und wo sie sich befand.
„Aufgewacht?“ Kalea drehte mühsam ihren Kopf, um den Sprecher in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Nicht weit von ihr entfernt saß eine Person und sah in ihre Richtung.
„Wer bist du?“, fragte Kalea mit krächzender Stimme, bevor sie sich trotz ihrer schmerzenden Muskeln vorsichtig aufrichtete. So langsam dämmerte ihr, was passiert war und ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Alles um sie herum war aus großen Sandsteinquadern gebaut, die einzige Lichtquelle bestand aus zwei kleinen und vergitterten Lichtschlitzen unterhalb der Decke. Es roch nach Moder und alles war feucht; aus allen Ritzen in den rohen Wänden sickerte Wasser. Erst jetzt bemerkte Kalea die schweren Ketten, die an ihrem Hals zerrten und ihre Bewegungsfreiheit erheblich einschränkten. Ein leises Räuspern machte sie wieder auf ihren Zellengenossen aufmerksam. Sie, soviel konnte Kalea in dem spärlichen Licht erkennen, hatte sich zu ihrer vollen, aber nicht sehr beeindruckenden, Größe aufgerichtet und machte einen unbeholfenen Diener.
„Mein Name, Eure Hoheit, Tochter der verhassten Königin Atara – schnell möge sie verrecken - ist Sovann und als Abstammung kann ich nur meine Schwester Samila, Eure Zofe, anführen.“ Kalea hätte am liebsten um sich geschlagen und geschrien, denn Sovanns Worte bestätigten nur, was sie vermutet hatte – sie befand sich im Kerker des Palastes. Sovann setzte sich wieder und blickte sie nun neugierig an. „Sicherlich fragt Ihr Euch, woher ich weiß wer Ihr seid?“, setzte sie an. Kalea nickte benommen, obwohl es sie nicht im Geringsten interessierte und hörte den folgenden Ausführungen nur am Rande zu. Was sollte sie tun? Mittlerweile mussten Alle im Palast wissen, dass sie ein Am-Tang war und es würde nicht lange dauern, bis sie - wie hatte sich die Beraterin ausgedrückt? – bis sie in ein Gehege gebracht, gehetzt und abgeschlachtet wurde. Was für wunderbare Aussichten! Während Sovann redete, hauptsächlich über die Gepflogenheiten im Kerker, musterte Kalea ihre Leidensgenossin. Diese hatte, genau wie Samila, helle Haut, ihr Haar jedoch war dunkel, ob braun oder schwarz konnte Kalea nicht ausmachen und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Nichts zählte mehr, sie würde sterben und wie sie ihre Mutter kannte, konnte es auch nicht mehr lange dauern, es sei denn auch sie würde zu Versuchen benutzt werden...
„Aber was machst du hier? Ich dachte, meine Mutter lässt an dir Versuche durchführen...“ Sovann ließ ein leises Lachen ertönen.
„Irgendwann hat jeder einmal ausgedient. Ich werde genauso in vier Wochen sterben, wie Ihr.“ Kalea erschrak nicht. Sie hatte Hunger, zitterte vor Kälte und Nässe, fühlte sich auch sonst hundeelend. Was machte es da aus zu erfahren, dass sie nur noch vier Wochen zu leben hatte?

Kalea erfuhr bald, dass es sehr viel ausmachte. Die Tage zerronnen in ihren Händen wie Sand und nichts konnte sie von der Tatsache ablenken, dass ihre Zeit unbarmherzig ablief.
Je länger Kalea im Kerker saß, desto weniger war sie in der Lage sich vorzustellen wie sie vorher gelebt, wie sie ihr ganzes Leben lang gedacht hatte. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie alles getan, was ihr gesagt wurde. Niemals hatte sie an der Richtigkeit der Dinge, die sie gelehrt wurde, gezweifelt, nie die Methoden ihrer Mutter hinterfragt. Es war, als ob der Anblick der toten Am-Tang sie aufgerüttelt und ihr vor Augen geführt hatte, in welchem Alptraum sie gefangen war. In einer Welt, von der sie dachte, sie zu kennen und zu lieben, die sich jedoch erbarmungslos gegen sie wendete, sobald sie einen Fehler beging. Oder auch nur einfach mit der falschen Veranlagung geboren wurde.
Kalea seufzte und öffnete die Augen. Wieder ein Tag weniger. Sie sah zu Sovann, die nicht weit von ihr friedlich schlafend auf dem Boden lag. Der Anblick war ihr so vertraut und dennoch so fremd. Kalea hatte vorher nie eine Freundin gehabt und nun, innerhalb von wenigen Wochen, war der Gedanke Sovann als Vertraute zu verlieren mehr als schmerzhaft. Überhaupt war Sovann ihr einziger Lichtblick, der sie davon abhielt durchzudrehen. Sovann war es, die sie tröstend in den Arm nahm, wenn Kalea weinte, die erzählte, was sie beide machen würden, wenn sie hier heraus kamen, die sie dazu zwang, das kärgliche Brot zu essen und Wasser zu trinken. Sovann gab ihr das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, es wert zu sein gemocht zu werden. Für Kalea war es eine völlig neue Erfahrung, offen über alles sprechen zu dürfen, mit jemandem zusammen lachen zu können, auch wenn dies nicht der gerade der Ort für Späße war. Aber nicht nur ihre neue Freundin hatte sie verändert, auch die Zeit im Kerker hatte eine neue Kalea aus ihr gemacht. Vor gut drei Wochen, wäre sie schier in Ohnmacht gefallen, wenn sie nur daran gedacht hätte, sich länger als einen Tag weder zu waschen, noch ihr Haar kämmen. Doch es störte sie nicht, dass ihr Gesicht schmutzig und ihre verfilzten Haare in Strähnen daran herunter hingen. Eher war sie stolz darauf, stolz ihrer Mutter zu trotzen.
„Du denkst zuviel nach, Kalea.“ Sovanns Stimme riss Kalea aus ihren Gedanken.
„Mir ist nur aufgefallen, wie sehr sich meine Einstellung, wie sehr ich mich verändert habe. Ich meine, vor noch nicht allzu langer Zeit, hätte ich gelacht, wenn mir gesagt worden wäre, dass ich einmal im Kerker sitzen und auf meine Hinrichtung warten würde. Zusammen mit dir: Die Prinzessin und die Landesverräterin. Irgendwie absurd, findest du nicht? Noch eine Woche... Langsam werde ich wahnsinnig. Das alles kommt mir so unwirklich vor! Wenn ich daran denke, dass ich in einer Woche tot sein soll -“
„Die Zukunft ist, wie sie ist und wenn sie kommt, werden wir sie ändern.“, unterbrach sie Sovann ruhig und drückte ihre Hand. Kalea wusste nicht, ob sie damit Recht hatte, aber zumindest gab ihr Sovanns Vertrauen Mut.

Kaleas Fußspitzen wippten zum Takt der Melodie in ihrem Kopf. Wie lange war es her, dass sie das Lied beim letzten Fest gehört hatte? Wenn Sovann nicht für jeden vergangen Tag einen Strich in die Kerkerwand ritzen würde, wüsste sie nicht, wieviel Zeit ihnen noch blieb. Vielleicht wäre das auch besser gewesen, als die ganze Zeit nur dasitzen und nichts tun zu können.
„Hast du Angst?“, fragte sie Sovann und blickte ihrer Freundin ins Gesicht. Sovann seufzte leise und überlegte einen Augenblick.
„Es wäre gelogen, zu sagen, ich fürchtete mich nicht vor der Hinrichtung. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Jahrelang war ich nichts weiter als ein Objekt, mit dem gemacht wurde, was immer der Königin auch einfiel. Ich bin froh über die Tage hier unten und darüber, dich kennengelernt zu haben." Kalea blieb still. Sie war nicht so stark. Alleine der Gedanke an den nächsten Tag raubte ihr alle Kraft und ihre Zeit verrann unaufhörlich. Morgen war der Tag, an dem sie offiziell sterben sollte. Das ganze Volk würde dabei zusehen. Samila, die ihnen einen kurzen Besuch hatte abstatten dürfen, hatte sie schluchzend darüber informiert. Atara wollte ein Exempel statuieren, dass alle Am-Tang endgültig davon abhalten würde, sich gegen sie zu verbünden. Unter den Augen des Volkes sollte die Prinzessin ermordet werden. Samila würde dann jedoch nicht mehr im Lande sein. Ein morenaîscher Kaufmann war zu Besuch und würde diese Nacht wieder abreisen – mit Samila. Er hatte versprochen, sie aus dem Palast herauszuschmuggeln. Auf Knien hatte Samila um Verzeihung für ihre Feigheit gebeten, aber sowohl Kalea als auch Sovann waren froh darüber, dass wenigstens für sie die Leidenszeit ein Ende hatte und baten sie, sich nicht mit Vorwürfen zu quälen.
Während ihrer Gefangenschaft hatte Kalea erhebliche Fortschritte gemacht. Wenn sie spürte, dass sie sich verwandelte, konnte sie es zumindest herauszögern, manchmal sogar ganz abwenden. Zweimal war sie bisher in der Zelle aber auch vollständig ein Kamel geworden. Sovann brachte ihr soviel bei, wie sie konnte. In den Jahren ihrer Gefangenschaft hatte sie gelernt, ihre Gabe zu kontrollieren und so war es für sie kein Problem, ihre Löwengestalt anzunehmen, wann immer sie wollte. Doch für Kalea blieb dieses Ziel in weiter Ferne. Etwas anderes dafür funktionierte ausgezeichnet: Da sie beide Am-Tang waren, konnten sie ohne Worte miteinander kommunizieren. Auch wenn Kalea das erste Mal fürchterlich erschrak, als sie Sovanns Stimme in ihrem Kopf hörte, war es eine sehr nützliche Sache, wie ihre Freundin einmal bemerkte. Denn sie hatten nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Da Kalea den Grundriss der Arena kannte, entwarfen sie einen riskanten Fluchtplan.

Die Sonne stand hoch am Himmel und es war brütend heiß. Seit drei Tagen hatten sie nichts mehr zu trinken bekommen und Kalea war schon erschöpft, als sie gerade den Palast verließen und in Richtung Stadt marschierten. Sovann und sie waren beide in Ketten gelegt und um sicher zu gehen, dass sie nicht flüchteten, wurden sie von zwölf bewaffneten Soldatinnen eskortiert, die ihnen feindselige Blicke zuwarfen. Königin Atara wurde am Anfang des schweigenden Zuges auf einer Sänfte getragen. Kein einziges Mal hatte sie ihre Tochter auch nur angesehen, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten. Lange hatte Kalea die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihre Mutter das Urteil noch einmal überdenken würde, aber jetzt war sie sich absolut sicher, dass dies nicht geschehen würde. Sovann lief leicht gebückt neben ihr, doch ihr Blick war stolz, sie wirkte vollkommen gelassen und zwinkerte Kalea aufmunternd zu. Kalea lächelte tapfer zurück und schleppte sich die staubige Straße weiter.
Bald erreichten sie die ersten Häuser der Stadt. Die Straßen waren überfüllt und als die Königin in Sicht kam, fingen die ersten an zu jubeln. Sobald Atara jedoch näher kam, warfen sich alle ausnahmslos in den Staub. Erst als die Königin vorbei getragen worden war, rappelten die Frauen sich auf und beschimpften die Gefangenen. Kalea versuchte die Fassung zu bewahren, aber das war gar nicht so einfach, wenn man seiner eigenen Hinrichtung entgegen schritt. Plötzlich ergriff Sovann Kaleas Hand. Auch sie schien das ganze nicht so gelassen hinzunehmen, wie es nach außen hin den Anschein hatte.
Kaleas Füße schmerzten. Wie sollte sie das ganze überstehen? Alleine der Gedanke an Flucht schien beim Anblick der Arena lächerlich. In den vielen Rängen hatte sich schon etliche Zuschauer eingefunden. Überall wo Kalea hinblickte entdeckte sie schwer bewaffnete Wachen. Und dann waren sie da. Kalea und Sovann wurden die Fesseln abgenommen und grob in die Arena gestoßen. Sofort wurden hinter ihnen wurden die hohen Tore verschlossen. Kalea schluckte. Jetzt kam es darauf an.
Königin Atara erhob sich und auf der Stelle kehrte unter den Besuchern Ruhe ein. „Was ihr da seht, sind Verräter.“, setzte sie an. „Sie haben sich entschlossen, unserem Land den Rücken zu kehren und sich gegen Uns, Eure Gebieterin, zu erheben. Alles was ihnen nun widerfahren wird, haben sie sich selbst zuzuschreiben.“ Atara nickte einer der Kriegerinnen, die mit den beiden Gefangenen in der Arena stand, kurz zu und setzte sich dann. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als das Spektakel begann.
Kalea schätzte ihre Lage kurz ein. Sovann und sie mussten mit zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Frauen fertig werden, die nun durch zwei Tunnel in die Arena schritten. Kaleas Augenmerk richtete sich auf den rechten Gang. Sie war froh, dass ihre Mutter vor einigen Jahren auf eine Führung durch die Arena bestanden hatte. Das Gelände war nicht sehr groß, nur etwa fünfzig Meter im Quadrat. Es gab drei Eingänge: Einen, durch den die Gefangenen hineingebracht wurden und der mit einem Eisengitter verschlossen war, und zwei Tunnel, unterhalb der westlichen Zuschauertribüne. Der linke Tunnel führte in einen Aufenthaltsraum der Kriegerinnen, der rechte jedoch verzweigte sich nach etwa zwanzig Metern. Wenn man den linken Weg nahm, erreichte man einen zweiten Aufenthaltsraum, wählte man jedoch den rechten, gelangte man geradewegs auf eine kleine Insel im Fluss, der durch die Stadt floss. Sovanns Idee war es, die Kriegerinnen zu überwinden und das zu tun, womit niemand rechnete: Sie würden in den rechten Tunnel rennen und von der Insel dann ins Wasser springen. Wenn sie Glück hatten, würden sie es schaffen und ungesehen davon schwimmen.
Mittlerweile hatten die Kriegerinnen ihre Bögen gespannt und visierten die beiden Gefangen an. Auf ein Zeichen von Sovann rannte Kalea los. Ihre Knie zitterten bei den ersten Schritten und sie musste sich bemühen nicht sofort hinzufallen. Das Publikum schrie empört auf, aber die Kriegerinnen handelten rasch. Während die einen ihren Zielen mit den Bögen folgten, zogen die anderen ihre Messer und stürzten sich wild schreiend auf ihre Beute. Kalea wich um Haaresbreite einer der Frauen aus und prallte gegen die nächste. Das erste Messer streifte sie nur knapp, hinterließ einen kleine Wunde an ihrer Wange. Kalea achtete nicht darauf, sie schlug mit ihrer Faust zu, der Frau direkt ins Gesicht. Als diese überrascht zurücktaumelte, machte sich Kalea frei und eilte zu Sovann, die gerade über eine zu Boden gegangene Gegnerin sprang. Nur noch zehn Meter. Kalea keuchte. Hinter sich hörte sie die eiligen Schritte der Kriegerinnen, hörte ihr wütendes Brüllen, in ihrer Brust brannte der Durst, der Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie hatte Seitenstechen und ihre Füße schmerzten höllisch. Dennoch trieb sie sich weiter an, achtete nicht auf die Angst in ihrem Magen, die Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, alles sei vorbei. Wie ein Tier hetzte sie hinter der leicht strauchelnden Sovann her. Kalea aktivierte ihre letzten Reserven und holte auf. Ein kurzer Blick in Sovanns Gesicht zeigte ihr, dass diese nicht mehr lange durchhalten würde. Ihre Freundin war käsebleich, ihr Atem ging stoßweise. Und plötzlich tauchte im Eingang des rechten Tunnels eine Frau in Rüstung auf, das gezückte Schwert in der Hand. Anstatt ihr Tempo zu verlangsamen, wurde Sovann schneller. Kalea blieb nicht die Zeit sich zu fragen, was sie vor hatte. Sovann schrie laut, setzte zum Sprung an, doch als sie mit voller Wucht gegen die Kriegerin prallte, war es eine Löwin, die die Frau unter ihrem massigen Körper begrub. Kalea schloss nun endgültig auf. Auf meinen Rücken!, hörte sie Sovanns Stimme in ihrem Kopf. Kalea zögerte nicht lange, schwang sich auf ihren Rücken und hielt sich am Fell der Löwin fest, als diese darauf los preschte.
Der Gang war dunkel und wandte sich etliche Male. Kaleas Herz klopfte wahnsinnig. Hatte sie sich falsch erinnert? Hätten sie vielleicht doch den linken – Kalea schrie erleichtert auf, als sie die Abzweigung sah. Aber sie hatte sich zu früh gefreut. Plötzlich tauchten drei Kriegerinnen auf. Wie aus dem Nichts standen sie da, brachen in Jubelgeschrei aus, als sie die zwei Flüchtenden sahen und kamen drohend näher. Bevor Kalea einen klaren Gedanken fassen konnte, blieb Sovann abrupt stehen und Kalea fiel von ihrem Rücken auf den harten Steinboden. Ohne auf sie zu achten, ging Sovann auf die drei Frauen Zähne fletschend zu. Brüllend entblößte sie ihr gefährliches Raubtiermaul. Lauf! Bring‘ dich in Sicherheit! Kalea stand wie vom Donner gerührt da. Das konnte sie nicht! Was würde aus Sovann... Renn! Oder alles war um sonst!, hörte sie Sovanns Stimme erneut in ihrem Kopf, wütend und zornig. Kalea warf noch einen kurzen Blick auf ihre Freundin, die nun zum Angriff überging, dann rannte sie los.

Kalea lag schluchzend am Ufer. Sie war geschwommen, so lange sie konnte, bis sie die Stadt schon lange hinter sich gelassen hatte. Aber nun konnte sie nicht mehr. Sovann war tot. Niemand entkam den Schergen der Königin, nicht in der Situation, in der sie sie zurückgelassen hatte. Trotzdem musste sie weiter! Weinend rappelte Kalea sich auf. Die Sonne ging fast unter, weit und breit sah sie nur Wiesen, keine menschliche Behausung. Mit wackeligen Füßen und vor Wasser triefend lief sie der Sonne entgegen, immer nach Westen, nach Morenaî.

Es war heiß und weit und breit, gab es nichts, was auch nur ein bisschen Schatten spendete. Doch das Kamel schritt zielstrebig weiter. Plötzlich blieb es stehen und starrte nach vorne. In einiger Entfernung flirrte die Silhouette einer Stadt und wenige Augenblicke später stand dort, wo soeben noch das Kamel gestanden hatte, ein junges Mädchen. Ihr schwarzes Haar hing zottelig über ihre Schultern, ihre Kleidung waren zerissen und sie machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck.
Kalea sank erschöpft auf die Knie. Sie hatte es geschafft! Das was sie dort sah, war Monea, die Grenzstadt und somit ihr Ziel! Die Stadt, in der im Sommer König Quinnues, Herrscher der Morenaî, residierte, Stadt der Am-Armee, der Ort, in dem sie ihren Vater vermutete. Tränen rannen über Kaleas Gesicht. Aber sie wusste nicht einmal genau, warum sie weinte. Vielleicht vor Freude, weil ihr Ziel so nahe war, vielleicht weil sie die Wüste bezwungen hatte, weil sie in der Lage war ihre Verwandlungen zu kontrollieren oder über Sovanns Tod und dass diese den Anblick der Stadt nicht mehr selbst sehen konnte. Kalea verschnaufte noch kurz, dann wischte sie sich ihre Tränen ab, rappelte sich aus dem heißen Sand auf und lief weiter. Sie wollte noch bevor die Nacht hereinbrach in der Stadt ankommen. Sechs Monate war sie durch alle Teile Lucianas gereist, hatte alles getan um zu überleben, nur um Monea zu erreichen. Nun war sie fast da und ein neues Leben wartete auf sie. Kalea musste nur noch zugreifen.
Mit hoch erhobenen Kopf und der Würde einer Königin schritt sie durch die Wüste.

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Danke fürs Lesen!
~Charlene~
 



 
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