Kameraden, wir haben... Alicante - In den Barrios Chapter 20

Der nächste Tag verläuft wie die anderen vorher, es ist eine Art Urlaubsroutine eingetreten. Alle Handlungen verlieren ihre Hast, alle Befehle und Anordnungen verlieren ihre Dringlichkeit und die Zurechtweisungen bei Unachtsamkeiten verlieren ihre Schärfe. Mit einer Art südländischen Ruhe werden die Tagesbefehle ausgeführt. Ein Kommen und Gehen über die Gangway erzeugt ein Gefühl, als wäre unser Schiff ein Großbasar, überall stehen Kisten und Kasten herum.

Die Kleinlaster mit Milchprodukten und Frischgemüse stehen auf dem Kai und entladen ihre Waren. Frisches Fleisch, in Form von halben Rindern und Schweinen, werden in die Kühlkammern verfrachtet. Weitere Kleinlaster folgen und müssen warten.

Als der Tag zur Neige geht, und die Sonne ihre letzten Strahlen über das Castillo Santa Barbara, der Sierra de Calosa und über die Dächer der Stadt ausbreitet, erleben wir einen Sommerabend, wie man ihn nur aus Werbefilmen kennt. Der Benacantil, ein Höhenrücken, der in nördlicher Richtung die Stadt wie eine riesige Festungsmauer zu schützen scheint, erstrahlt in goldgelbem Glanz. An Bord herrscht eine entspannte Abendstimmung.

Vom Schmadding haben wir erfahren, dass es heute Abend eine Filmvorführung geben wird, ein amerikanischer Western. Wir „Seeziegen“, die wir als Backschafter eingeteilt sind, sorgen dafür, dass aus dem Casino genügend Stühle und Kisten bereitstehen.

Das Geschützrohr wird nach Backbord gedreht und „bedroht“ jetzt die Hafenausfahrt. Turm Alpha, dieser harte Hund, der bei Sturm die ganze Macht der Wellen aushalten muss, dient uns jetzt mit seiner jungfräulich weißen Seite als Leinwand. Als es nach Einbruch der Dunkelheit endlich losgeht, es wird „12 Uhr mittags“ gespielt mit Gary Cooper, ist jeder von uns mit Getränken reichlich eingedeckt.

Auf dem Kai, so scheint es mir, haben sich alle Kinder Alicantes versammelt. Sie hocken auf den Steinen, ordentlich in Reihen, obwohl sie die Sprache nicht verstehen werden, fiebern sie dem Film entgegen. Natürlich hat jeder von uns den Streifen schon gesehen, aber darum geht es nicht, die Stimmung ist einfach großartig.

Am Ende schafft es der Marshal Will Kane, also Gary Cooper, mit Unterstützung seiner Frau, gespielt von Grace Kelly, dann doch noch, die Gangster um Frank Miller zu erledigen. Ich warte immer auf die Szene, wo der Gangster die Scheibe eines Geschäftes mit der Pistole zerschlägt um einen Damenhut zu entwenden, das Zerbrechen des Glases zeigt dem Marshal an, wo sich Frank der Gangster befindet und die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Am späten Abend kommt noch einmal der Shantychor, verstärkt mit Gitarre, Banjo, Harmonika zusammen und bei den Liedern: “Wir lagen vor Madagaskar“, What shall we do with the drunken sailor?“, und, „Es weht der Wind mit Stärke Zehn“, singen alle laut mit. Wir sind mit unseren Bierkästen gut auf den Abend eingerichtet. Der Kai ist jetzt noch gut besucht, die Menschen erfreuen sich an der fremdartigen Musik. Die Stimmung an Bord ist großartig, ob Ölfüße oder Funker, ob Seeziegen oder Pantrygasten, alle liegen sich singend und lachend in den Armen, obwohl spät, ist es noch immer warm.

Irgendwann, nach endlosen Zugaben, endet der Abend. „Ruhe im Schiff, Licht aus, alle Geister auf Station“, der Maat der Wache geht seine Runde und pfeift dabei das dazugehörige Signal. Das Letzte was ich höre ist Jim. „Morgen will ich es wissen, irgendwas muss doch hier zu machen sein, verdammt noch mal.“ Er brummt vor sich hin, dann aber herrscht Ruhe.

*

Als der Tag anbricht und der Maat uns aus den Kojen scheucht wissen wir, dass wir morgen auslaufen werden, der heutige Tag oder genauer der Abend muss noch einmal genutzt werden.

Es hat sich bei den Seelords längst herumgesprochen, dass sich die „Marktsituation“ in Sachen Erotik in Alicante nicht anders darstellt als in Lissabon auch. Solange die Amis vor uns in den Häfen auftauchen, haben wir schlechte Karten. „Können diese Idioten nicht irgendwo anders landen?“, fragt Willi. „Können sie nicht, wir fahren denen doch hinterher, ihr Narren!“, sage ich. Es hilft nichts, heute, das spüre ich, gibt es einen Generalangriff.

Wir verlassen den Kahn am Abend und wenden uns direkt dem Barrios zu, wir haben keine Zeit zu verlieren, außerdem sind dort die meisten Spelunken. Mit uns sind viele Seelords unterwegs. Der letzte Abend, da will jeder noch einmal alles ausprobieren.

Wir fallen wie die Heuschrecken in die Tavernen ein, aus denen schon von weitem die spanische Folklore zu hören ist. Aber von den Damen sind noch nicht so viele zu sehen, es ist wohl noch etwas zu früh. Also raus aus dem Laden und tiefer in das Labyrinth der Gassen, die hier ansteigen und teilweise zu langen Treppenabsätzen werden. Über uns thront das Castillo Santa Barbara auf steilem Felsen. Die Gassen werden enger, die Häuser verfallener, sie wirken heruntergekommener, hier hört man keine Musik mehr.

Wir finden unsere Kneipe, lange Bändsel an der Türe sollen wohl verhindern, dass sich Fliegen und Moskitos ins Innere verirren können. Vielleicht dienen sie auch dazu, den zufälligen Besucher, der einen Blick riskieren möchte, nicht zu verschrecken. Die lange Theke kennen wir schon, auffällig viel Sägemehl auf dem Boden, der Alte hinter der Theke reinigt ein Glas mit einem schmuddeligen Lappen und allen Seelords ist sofort klar, hier wird Bier bestellt, ohne Gläser.

Zwei junge Frauen, bei denen man aufgrund ihrer auffallend kurzen Kleider, dem aussichtsreichen Dekolleté, den hochhackigen Schuhen, sofort erkennen kann, dass sie keine Bürotippsen sind und die an ihren Longdrinks nippen, stehen im Halbdunkel an der Theke.
Die Kleine, die vorne steht, kommt sofort auf Waldenberg zu. Jim umkurvt Waldenberg gekonnt und jetzt muss die Zweite aus ihrem Halbdunkel zur Verstärkung ran. Sie schnippt ihre Zigarette gekonnt in den Ascher und beginnt sofort ein Palaver mit Jim. Da hat der Junge doch seit Tagen zum ersten Mal ein Lächeln im Gesicht, sieh da, sieh da, denke ich bei mir.

Ich halte mich mit Willi im Hintergrund, fällt uns ja auch nicht wirklich schwer, ist ja sonst niemand da. Aber genau in diesem Moment drängen zwei weitere Seelords durch die Türe, sie drehen aber sofort bei, als sie die Übermacht an männlichen Akteuren sehen. „Brave Jungs“, sagt Willi. Aber irgendwie kommen die Verhandlungen ins Stocken, Jim spricht mit Waldenberg ohne, dass wir, die wir entfernt stehen, etwas mitbekommen. Wir sehen, dass sich die „Verstärkung“ wieder ins Halbdunkel zurückzieht.
„Sieht nicht gut aus“, sagt Willi. „Nee, wäre besser wir haken die Aktion ab und suchen uns ne´ nette Kneipe, wo man aus einem Glas trinken kann“, sage ich und stelle die leere Flasche Miguel Cerveza auf die Theke zurück. Doch auf einmal kommt Bewegung in die Gruppe.

Die Kleine mit den „Hochhackigen“ stolziert plötzlich an uns vorbei dem Ausgang entgegen und Jim und Waldenberg machen sofort den Geleitzug auf. „Folgen!“, sagt Waldenberg, und da es sich um eine Art „Befehl“ zu handeln scheint, kommen wir dem nach. Trotz ihrer hochhackigen Schuhe ist die Kleine schnell unterwegs.
Wir laufen wie eine Hammelherde hinterher, Willi, Tommy und ich ohne zu wissen, um was es eigentlich geht. Wir bewegen uns bergauf auf ungepflasterten Wegen. Es geht durch dunkelste Gassen, wir stolpern über Unrat und zwängen uns unter aufgehängter Wäsche hindurch.

Ich bin der Auffassung, wir befinden uns in irgendjemanden Garten, aber zu großen Überlegungen lässt die Kleine uns keine Zeit. Plötzlich, sind wir aus den Häuserreihen raus und vor uns öffnet sich ein weiter, leerer Sandplatz, dessen Ende im Dunkel liegt und von den letzten, schwachen Laternen, die über uns an Drähten über der Straße hängen, nicht mehr beleuchtet werden kann.

Aber was wir erkennen, sind Schutthalden, durch die kein Weg führt. Hier müssen früher Häuser gestanden haben, die man jetzt wohl alle abgerissen hat, vielleicht aus Gründen der Baufälligkeit, denke ich. Aber links und rechts von uns stehen nebeneinander, die Hausfassaden in einem leichten Halbrund, sie umschließen den freien Platz wie eine Burgmauer.

Mit ihren Pumps stiefelt die Kleine über die Schutthalden und wir folgen ihr. „Mein Gott, wo führt sie uns hin?“, fragt Jörg. „Keine Ahnung, was gespielt wird“, sage ich. Dann endlich biegt sie auf die „Burgmauer“ zu und wir sehen Licht durch ein kleines Fenster leuchten. Die Kleine öffnet eine niedrige Türe, die Wagenberg zwingt fast in die Hocke zu gehen. Wir entern den Raum und stehen in einer Küche, die wirklich sehr klein ist. Neben der Türe, rechts, im Winkel, unter dem Fenster, an der Wand entlang, eine Sitzbank. Dort hockt schon ein Ölfuß und grinst unverschämt.

Ein mächtiger Pfosten, schwarz gestrichen, scheint die Decke zu stützen, er wirkt deplatziert in der Mitte des kleinen Raumes, dahinter geht eine Stiege nach oben. Die Kleine will sich in Richtung Treppe in Bewegung setzen, als eine ältere Frau, mit einer umgebundenen Schürze, den Raum aus dem Dunkel betritt.

Sie faucht die Kleine an und die faucht zurück. Wer geglaubt hat, es wäre damit alles geklärt, der hat vorher das Drehbuch nicht gelesen. Die Kamera nimmt die Alte jetzt frontal von vorn und lässt ihr genügend Zeit ihren Text loszuwerden und das macht sie mit Geschrei.
Jetzt Einstellungswechsel, die Kleine, halb auf der Treppe, schreit über die Schulter zurück, muss dabei aber einem „Entgegenkommer“ ausweichen, der sich das Hemd in die Hose steckt. Die Alte, jetzt in der Halbtotalen, wuchtet sich auf die unterste Treppenstufe und schreit der Kleinen ein paar gestochen scharfe Sätze hinterher. Die Kleine ist jetzt raus aus dem Bild, man hört sie keifen, dann herrscht Ruhe.
Kamera von hinten, die Alte wendet sich um und läuft die wenigen Schritte zum Herd, dabei unentwegt laut ausrufend. Oben knallt eine Türe zu. Klappe!

„Jim“, frage ich, „was läuft hier ab, Mensch, was habt ihr eigentlich ausgehandelt?“ „Ach nichts!“, sagt er. „Was habt ihr ausgehandelt, verdammt“, schreie ich ihn an.
„Was soll schon sein“, antwortet er. „Wir machen´s zu viert.“ „Was, wir machen´s zu viert, was heißt das? Wir machen´s zu viert!“ „Hat die Kleine noch Schwestern?“, frage ich ihn. „Blödmann, wir machen´s zu viert – mit ihr, sonst kommen wir mit dem Preis nicht hin, die sche… Amis, kapiert?“ Ich schaue ihn an, mir wird plötzlich so warm, die Bude ist viel zu eng für mich, der Ölfuß und sein Kumpel, der seine Kleidung endlich klariert hat, schaffen es nur mit Mühe an Waldenberg, Willi und dem Rest von uns vorbeizukommen.

Hier ist alles viel zu eng, geht es mir durch den Kopf, viel zu eng. Ich will den Gedanken nicht denken, den Jim ausgesprochen hat, ich will ihn nicht denken, ich muss hier raus. Oben erscheint die Kleine in halb gebückter Stellung und sofort geht das Geschrei der Alten wieder los, es scheint, als würde die Kleine der Alten jetzt reinen Wein einschenken, und die begreift wohl gerade, was ihre Tochter vorhat.

Die Alte ist ein Kopf kleiner als ich, aber sie wendet sich uns zu, plötzlich ist nicht mehr ganz klar, an wen die Ansprache gerichtet ist, nicht nur die Tochter bekommt ihr Fett weg, spüre ich, obwohl ich nicht glauben kann, dass der Alten erst jetzt ein Licht aufgeht, womit ihre Tochter, ist es überhaupt ihre Tochter? - ihr Geld verdient.
Außerdem muss da oben ja noch jemand sein, sonst hätte der Ölfuß nicht so gegrinst und sein Kumpel kam ja auch von da oben.

Egal, ich nutze die Offensive der Alten, die gerade ihre Breitseite auf uns gerichtet hat, dabei aber immer wieder über die Schulter blickt, um auch ihre Tochter nicht auszulassen. Die Türe, oder besser, der Bretterverschlag öffnet sich und ich stolpere über Steinhaufen nach draußen. Tommy und Waldenberg folgen, Willi verliert in der Hast seinen Hut, den er aber sofort aus dem Dreck befreit und so gut es geht mit dem Ärmel reinigt.

Als wir endlich das Innere des Barrios erreicht haben, kommt es mir vor, als hätte ich ein Rettungsfloß nach einem Totalverlust erreicht und erkenne, unsere Schuhe sehen fürchterlich aus. Auch der untere Hosenansatz ist total verschmutzt.
Keiner sagt was, wir laufen, die Hände in den Hosentaschen, leicht bergab. Erst in der Nähe des Hafens entern wir ein Lokal, das so hell beleuchtet ist, dass man meinen könnte, hier befände sich ein Testlabor von Osram. Das Lokal wirkt kalt, orangefarbene Plastikstühle an verchromten, kleinen Tischen.

Die männliche Bedienung, in Schwarz und weiß gekleidet, strahlt Professionalität aus und die Gläser sind erste Sahne, die Preise auch. Wir trinken unser Bier, eisgekühlt, keiner sagt ein Wort und an der Miene eines jeden in der Runde ist zu erkennen, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben.

Spanien hat uns kein Glück gebracht, zumindest nicht in Sachen Erotik. Morgen geht es zurück, wieder durch die Straße von Gibraltar und hoch in den Nordatlantik. Sei es drum, aber irgendwie interessant war es doch.
 



 
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