Kameraden, wir haben die Welt gesehen... Antonio Chapter 29

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Ich will noch einmal auf mein Reagieren auf vermeintlich ungerechte Behandlungen zurückkommen. Die ganze Sache hängt mit einem besonderen Vorfall aus der Grundausbildung zusammen, den ich vergessen wollte, aber ich habe ihn nie vergessen können und deshalb muss er erzählt werden
Bei all´ meinem Tun, in meinem späteren Leben, war dieser Vorfall mein Leitmotiv. Allerdings, und das mag der wahre Grund sein für mein Handeln, komme ich bei dieser Geschichte nicht gut weg.

Als der Ruf der Deutschen Industrie in den fünfziger Jahren über die Alpen nach Italien scholl, erreichte er auch Giuseppe Borgini aus der Nähe von Neapel.
Kurze Zeit später treffen wir ihn in Triberg, im schönen Schwarzwald, wieder. Hier arbeitet er bei einer Elektronikfirma als Hilfskraft. Er ist fleißig, lernt die deutsche Sprache und er ist sparsam. Er schafft es, nach einem Jahr, seine Familie, bestehend aus Frau und Kind, nach Deutschland zu holen.

Der Sohn Antonio, ein dickliches Kind mit basedowschem Blick, besucht deutsche Schulen und mit knapp 20 Jahren und einem Gewicht von über 100 kg, verteidigt er die Grenzen seiner neuen Heimat, der Bundesrepublik Deutschland, als Soldat bei der Bundesmarine. Antonio gehört zu unserer Einheit in Glückstadt.
Er ist in seinem Wesen ein ruhiger Junge, stellt sich bei allen Aufgaben etwas träge und ungeschickt an, was vielleicht auf seine Körperfülle zurückzuführen ist.
Bei der holden Weiblichkeit hat Antonio auch noch nicht den Erfolg verbuchen können, der ihn in der Achtung seiner Kollegen hätte aufsteigen lassen.

In der Grundausbildung wird, das ist so üblich, auf den sportlichen Aspekt besonderen Wert gelegt und der Durchhaltewille eine jeden Einzelnen, sei es beim Marschieren oder unter geübten Gefechtsbedingungen, genau beobachtet und bewertet und er erhält dadurch einen besonderen Stellenwert.

Für Antonio bedeuten diese Tage nichts Gutes, aber er beißt sich, so gut er kann, durch. Schon am frühen Morgen beginnen die Übungen in voller Montur. Die langen monotonen Märsche führen uns vom Morgen bis zum Abend durch das Übungsgelände von Nordoe, in denen sich breite und tiefe Sandbahnen von Panzerketten verursacht, durch das ansonsten dichte Grüne der heideähnlichen Landschaft gefräst haben und die sich nach dem Regen schnell mit Wasser füllen und mit dem Untergrund vermischen. Brauner, heller Schlamm bedeckt, in weiten Bahnen, den Erdboden und zeichnet eine weiche, helle Kontur in die sonst so grüne Landschaft.

Wir waren an diesem Tag, wie gesagt, schon lange unterwegs und die Bewegungen laufen mittlerweile mehr mechanisch ab als dass wir noch gedanklich voll bei der Sache wären, weil jeder an die Unterkunft und das Abendessen denkt. Meine Füße sind blutig, sie schmerzen bei jedem Schritt und ich weiß, dass der Sani mir, wie schon so oft, mit einer geschickten Drehung, von Daumen und Zeigefinger, die von ihm kunstvoll aufgeschnittenen Blasen vom Fuß abdrehen wird.

Da kommt plötzlich das Kommando vom Unteroffizier: „Fliegerangriff, volle Deckung!“ So ein Idiot, denke ich. Die meisten Soldaten bewegen sich am Rand der Panzerpiste und lassen sich müde fallen, andere laufen zwei, drei Schritte weg vom braunen Modder, hin zum Pistenrand und schmeißen sich ins Grün, mit dem vollen Bewusstsein, deshalb vom Vorgesetzten vielleicht angeblafft zu werden. Nur Antonio hat seine eigene Auffassung vom Angriff aus der Luft. Der schwere Bursche hört den Befehl und, sei es, er hat die falschen Filme gesehen oder, was ich vermute, er will dem Unteroffizier vielleicht zum Abschluss des Tages eine besondere Freude bereiten.

Jedenfalls Antonio, in der Mitte der braunen Piste, lässt sich nicht etwa hingleiten, nein, er nimmt Anlauf, dann hebt er ab und fliegt mit einer unglaublichen Grandezza, ähnlich wie bei der Aufführung von Tschaikowskys Schwanensee, mit seinen über 100 Kilogramm voll in den dicksten Schlammsud der zu finden ist.
Die Kameraden, die geglaubt hatten, am Rande der Piste auf festem und trockenem Untergrund in Sicherheit zu sein, werden jetzt eines Besseren belehrt. In dicken Fladen ergießt sich, über alle im Abstand von 5 Metern, der braune Schlamm.

Der Unteroffizier gehört zu den besonders Betroffenen, da er sich in der Nähe von Antonio aufhält und sich in senkrechter Haltung befindet, weil der Fliegerangriff ihm ja wohl nichts anzuhaben scheint.
Ich sehe den Mann noch heute vor mir, sein verdutztes Gesicht, als sich die Woge hellbraunen Schlamms über ihn ergießt. Die Uniform versaut, im Gesicht Placken dicken Matsch und vor ihm, im Morast, von oben bis unten von hellbrauner Brühe eingesaut und ihn wie ein Honigkuchenpferd anlächelnd, Antonio.

Antonio, der noch für zwei bis drei Sekunden wirklich glaubt eine besondere Leistung abgeliefert zu haben, dann aber beobachtet, dass irgendwas nicht stimmt. Augenblicke später verändert sich sein Gesichtsausdruck wie die Farbe bei einem Chamäleon.
Dann schreit der Spieß los und fragt den armen Antonio, ob er noch ganz gescheit sei. „Sind sie ein Volltrottel?“ - will er wissen. „Stehen sie auf, Mann, sie Volldepp!“ Antonio steht mühsam auf und der braune Morast, den Fallgesetzen folgend, fließt zum Teil als Brühe oder fällt als dicke Schlammmasse in Wülsten von ihm ab.

Tage später, die Sache von Nordoe und der Schlammszene hatte viele Lacher gefunden, was nicht zu Antonios Positionsverbesserung beiträgt, treffen wir Antonio in der Sporthalle wieder. Boden- und Geräteturnen stehen auf dem Programm.

Ich mag diese Sportarten nicht, am Barren oder an Ringen Übungen zu vollziehen, ist nicht meine Sache, hier kann man sich leicht verletzen, wenn man einen Fehler macht, außerdem bin ich hier auch nicht der Geschickteste, das gebe ich zu, trotzdem müssen wir alle durch das Programm. Nach Turnen am Barren, an den Ringen und dem Sprung auf der Matte über mehrere am Boden liegende Kollegen, steht der Sprung über das Seitpferd an.

Man nimmt einen langen Anlauf und wird, durch ein Federbrett unterstützt über das, in der Länge aufgestellte und von lederbezogenem Pferd, geschleudert. Dabei muss man mit beiden Händen den Rücken des Pferdes berühren, um damit noch etwas mehr Schwung zu erhalten. Am Ende, kurz vor der Landung, wird man von zwei Kollegen aufgefangen, so der Ablauf. Der Sprung über das Pferd gehört von allen Geräten noch zu meinen Lieblingsübungen. Ich kann schnell laufen und mit meinen 65 Kilogramm fliege ich fast über die ganze Länge des Pferdes.

Den meisten geht es wie mir und das Wissen, dass nach dem Sprung über das Pferd endlich richtiger Sport auf dem Programm steht, in Form von Fußball oder Rugby, lässt alle ein wenig hektisch werden, denn wir wollen es hinter uns bringen. Ich bin auf dem Weg aus der Halle, um mich auf dem angrenzenden Rasenplatz einzufinden, als ich Antonio sehe, wie er Anlauf nehmen will.

Er wirkt etwas unsicher, er bewegt sich vor und zurück, zögert, scheint unschlüssig, setzt sich dann aber in Bewegung. Seine völlige Gestalt hetzt in Richtung Sprungbrett. Jetzt hat er das Brett erreicht, trifft es mit beiden Beinen optimal und ich höre noch den harten Schlag des auf dem Boden durchschlagenden Brettes, das bis an seine Grenzen belastet worden ist. Ich sehe Antonio in einer Kurve, breitbeinig über das Pferd fliegen. Da passiert es, ohne die Unterstützung der Hände, knallt der massige Körper mit dem Gesäß auf das stumpfe Leder des Pferderückens. Ein Schrei gellt durch die Halle.

Die beiden Soldaten, als Fänger eingeteilt, bekommen Antonios Körper nicht mehr zu fassen, zu kurz ist seine Flugbahn und er federt, vom stumpfen Leder abgebremst, seitlich vom Gerät und knallt der Länge nach auf den ungepolsterten Boden neben dem Pferd. Seine Hose färbt sich rot, der herbeigeeilte Sanitäter erkennt sofort, Antonio hat sich wortwörtlich den Arsch aufgerissen.

Wir sehen ihn einige Wochen lang nicht mehr, seine Verletzungen am After müssen genäht werden und scheinen schlimmer zu sein als gedacht. So vergeht einige Zeit. Ein letztes Mal erlebe ich ihn, kurz vor Ende der Grundausbildung bei einer Wehrübung. Wir haben alle ABC-Schutzmasken dabei und müssen in ein, von Qualm und Tränengas verseuchtes Haus.
Im Inneren, also im Stockfinsteren, geht es darum, die Maske anzuziehen, was nicht ganz so einfach ist, dabei möglichst lange die Luft anzuhalten, um dann mit der Maske aus den Gängen des Hauses herauszufinden.

Wir sind alle ein wenig aufgedreht und angespannt, das ist nur natürlich, denn die Vergatterung durch den Unteroffizier war ernsthaft und eindringlich. Außerdem ist der Anteil bereitstehender Sanitäter, in meinen Augen, überproportional vertreten. Wir lungern vor den Gebäuden herum, die künstlich in eine Trümmerlandschaft verwandelt wurden und dadurch eine gewisse Authentizität vermitteln. Keiner von uns will den Anfang machen. So scharren wir verlegen mit den Füßen im Sand und hoffen vergeblich, übersehen zu werden.

Als ich an der Reihe bin, zwinge ich mich zur Ruhe, was mir nicht gelingt, man kann Angst so einfach nicht unterdrücken. Ich betrete das Gebäude und halte den Atem an, taste mich durch den langen, gewinkelten Gang und nestele an meiner „Gasmaske“ herum, die an meinem Koppelzeug befestigt ist. Da ich vor umgebender Dunkelheit nichts sehe, schließe ich die Augen und verlasse mich auf meinen Tastsinn.

Endlich gelingt es mir umständlich die Maske überzuziehen. Ich folge dem Gang, immer mit der einen Hand an der Wand entlang, mit der anderen versuche ich die nächste Türe zu ertasten. Ich stolpere mehr als dass ich gehe. Immer im rechten Winkel windet sich der Gang mal nach links, dann nach rechts. Von außen sah das Gebäude klein aus, jetzt scheint es gewachsen zu sein. Endlich sehe ich schemenhaftes Licht, nebelartige Schwaden ziehen durch den Gang, der sich zu einem Raum erweitert.

In einer Ecke sitzen zwei oder drei Soldaten oder Unteroffiziere ebenfalls mit Masken vor den Gesichtern, so genau kann ich das in dem Dunst nicht erkennen. Ihr Handzeichen ist allerdings unmissverständlich und weist in eine Richtung, in der ich den Ausgang vermute. Ich stütze mich an der Wand ab und der nächste Gang nimmt mich auf. Jetzt geht es scharf nach links. Mir läuft der Schweiß in Strömen über das Gesicht und der Drang nach frischer Luft wird unerträglich.

Ich sehe einen Spalt Licht ins Innere des Ganges fallen und dann ist da eine Eisentüre, die ich nach außen drücke, dann endlich umgibt mich Tageslicht, ich habe es geschafft. Ich reiße mir die Maske vom Gesicht, mein Gott, hoffentlich kommen wir nie in die Situation diese Dinger benutzen zu müssen, ich glaube, es käme zu einem Desaster. Alle schaffen diese Prüfung, alle sehen danach entspannt aus.

Doch der Unteroffizier, den ich nicht kenne, der eben noch sehr zufrieden mit unserer Leistung war, erklärt uns jetzt, dass die nächsten Übungen, sich unter Gefechtsbedingungen im Gelände zu bewegen, ebenfalls unter dem Einsatz der ABC-Schutzmaske stattfinden werden.
Alle sind sauer, aber was hilft es? Wir laufen mit vollem Gepäck durch Nordoe und wir merken sofort, dass wir schnell an unsere Grenzen geraten. Der Uffz, in Begleitung von zwei weiteren Kollegen, alles unbekannte Leute, treibt uns die Sandhügel rauf und runter.

Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir hoch, alle unsere Einsätze in Nordoe, über die wir immer geflucht haben, erscheinen mir jetzt wie ein Kindergeburtstag. Mit der Atemschutzmaske vor dem Gesicht bekommt die Übung einen herben Anstrich und einige Male bin ich versucht mir das Ding vom Gesicht zu reißen.

Waldenberg hat sich eine Streichholzschachtel unter die linke Abdeckung der Maske geklemmt und sich damit einen Sauerstoffkanal geschaffen. Jörg und Jim versuchen von Zeit zu Zeit die Maske anzulupfen und sofort sind die zwei Aufpasser da und stürzen sich wie Falken mit Vehemenz auf die beiden und schreien sie nieder. Die ganze Aktion bekommt eine merkwürdige, aggressive Dynamik.

Antonio, wo ist Antonio? Ich schaue zurück und sehe ihn weit hinter mir den Sandhügel hinaufsteigen. Er schafft es nach einiger Zeit tatsächlich, aber jetzt hat er die Orientierung verloren, so scheint es mir. Er läuft in die falsche Richtung, seitlich weg von uns. Die Unteroffiziere, haben an verschiedenen Punkten Aufstellung genommen, ganz sicher kennen sie die Grenze der Belastbarkeit von vorher begangenen Übungen. Sie schreien auf Antonio ein.

Wir anderen haben uns jetzt versammelt, wir haben schnell begriffen, dass wir, dank Antonios späten Eintreffens, eine ungewollte Pause eingeräumt bekommen haben. Antonio, dessen Gesicht ich jetzt hinter seinem Glas undeutlich sehen kann, ist vollkommen verstört, er begreift und hört augenscheinlich nicht genau, was von ihm verlangt wird. Sein Gesicht ist rot angelaufen und in Strömen läuft ihm der Schweiß über das Gesicht.

Das Sichtfenster ist zum größten Teil beschlagen, er taumelt, er fällt auf die Knie. Der Uffz schreit ihn an. „Mann, hören sie nicht, was ich ihnen sage?“ „Auf, kommen sie auf die Füße, sie Weichei und dann Marsch, vorwärts.“ Antonio stemmt sich hoch, taumelt nach vorn, nähert sich unserem Haufen. Die Unteroffiziere haben sich jetzt im Dreieck aufgestellt und mit ihren kurz hintereinander gebrüllten Kommandos, machen sie Antonio total fertig.

Er muss nach links, dann wieder nach rechts, er soll in Deckung gehen, um danach sofort wieder marschieren zu sollen. Ich spüre, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen, Antonio tut mir so leid. Ich bin über allen Maßen angespannt.

Ich muss es ihnen sagen, dass sie das nicht machen können, sehen die denn nicht, dass der Bursche am Ende ist, - aber ich sage nichts. Antonio ist bemüht, sich mit seinem eingeschränkten Sichtfeld, so gut es geht zu orientieren, aber da die Befehle aus immer unterschiedlichen Richtungen kommen, bewegt er sich unbeholfen wie ein tanzender Bär, macht dabei eine komische Figur und das gefährliche Feuer der Überlegenheit hat sich in die Köpfe der Unteroffiziere gefressen.

Ja, hier haben sie einen den sie vorführen können, hier wollen sie uns zeigen, was sie mit einem machen, der Schwäche zeigt, der am Ende ist. Ich spüre den Hass in mir aufsteigen, ich würde mich am liebsten auf sie stürzen, - aber ich tue nichts.

Antonio rappelt sich hoch, neue Kommandos. Antonio dreht sich hin und her. Geschrei von allen Seiten. Ich kann nicht mehr, ich muss etwas tun, aber eigenartig, - ich tue nichts. Antonio hat keine Kraft mehr, er dreht sich um und fällt auf die Knie. Die drei Unteroffiziere stehen gebeugt über ihm und schreien auf ihn ein. Ich spüre instinktiv, wenn jetzt noch das passende Publikum anwesend wäre, das diesen Sadismus mit Hohngelächter oder Grinsen honorierte, dann würde hier ein noch gefährlicheres Gemisch entstehen.

So aber passiert nichts, alle stehen wir da und schauen zu. Am Ende bleibt nur peinliches Schweigen. Antonio hat längst aufgegeben, er sitzt jetzt im Dreck und das Geschrei ignoriert er. Auch die Androhungen von Strafen erreichen ihn nicht mehr. Keiner sagt ein Wort. Die Unteroffiziere haben begriffen, dass mit Antonio nichts mehr anzufangen ist, er hat seine Maske abgenommen und Tränen laufen über sein Gesicht.

Die Übung ist beendet, auch wir nehmen unsere Masken ab und gehen ohne Marschordnung zurück zum Sammellager. Noch immer sagt keiner ein Wort, alle müssen wir, das Vorgefallene verarbeiten. Ich schäme mich abgrundtief und könnte mich verfluchen.

Ich hätte etwas unternehmen müssen und ich habe es nicht getan. Wut steigt in mir hoch, ich habe jämmerlich versagt. Nie wieder wird mir das passieren, nie wieder, nicht in meinem ganzen Leben, das schwöre ich mir.
 



 
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