Kameraden, wir haben die Welt gesehen... Austerlitz und Waterloo I Chapter 24

Auch heute ist wieder Unterricht angesagt, das schreckliche Unglück mit Liliencron liegt jetzt schon wieder 14 Tage zurück, und unsere Liegezeit in Rensburg neigt sich dem Ende zu.
Wir wissen, wir werden nach Kiel verlegt. Ein junger Leutnant steht auf dem Podium, von seinem Äußeren her verkörpert er so unverwechselbar den preußischen Offizier, dass man meinen könnte, er entspringe einem Modejournal oder einem Hollywood-Film.
Er hat blondes, gescheiteltes Haar, stahlblaue Augen und misst mindestens eins fünfundachtzig. Seine Ausdrucksform ist eloquent, er wirkt sportlich und in seiner gepflegten Uniform, für unser Schlafboot Auerhahn, eher deplatziert.

So einer gehört auf die Brücke, das ist mir klar. Er gehört zu der Riege von Offizieren, die ihre Aufgabe ernst nehmen und aus jeder seiner Bewegungen und Anmerkungen erkennt man den Wunsch nach Höherem.
Jetzt steht er im Hörsaal auf dem Podest und erklärt anhand von Beispielen, wie man sich schützen kann vor Infiltration, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn man merkt, dass man „umgarnt“ wird und wie unsere Abwehr daraus geschickt eine Gegenoffensive konstruieren kann.

In der Reihe hinter mir schubst mich einer an, ich wende mich um und will fragen was denn los ist, da brüllt der Leutnant plötzlich los. „Sie da in der vierten Reihe, sie melden sich nach dem Unterricht bei mir, haben sie mich verstanden?“
„Jawohl, Herr Leutnant!“, antworte ich, noch ganz entgeistert. Noch eine weitere Stunde vergeht mit weitschweifigen Darstellungen von aufgeklärten Fällen, von Spionage oder Versuchen, sich in höhere Positionen einzuschleichen.

Er spricht über Abwehrmechanismen, die, einmal begonnen, den Gegner meistens erfolgreich mattgesetzt hatten.
Die Stunde ist vorbei und ich bin mir sicher, er wird den Vorfall, an dem ich ja eigentlich unschuldig bin, vergessen haben. Als ich den Saal verlassen will, steht er am Ausgang und signalisiert mir, dass er in dem angrenzenden Raum auf mich warten würde.

Schit…, denke ich, er hat es nicht vergessen. Ich dränge mich durch die Reihen von Stühlen, die lieblos, kreuz und quer stehend, zurückgelassen wurden.
Ich brauche einige Zeit, den Weg nach außen zu finden. Endlich erreiche ich die Türe auf, die er mit einem Handzeichen gewiesen hatte. Ich trete ein und sehe vor mir einen schmalen, schlecht beleuchteten, langen Gang. Am Ende des Ganges, ein quadratischer Raum. Mein Leutnant, die Hände auf dem Rücken verschränkt, sich von mir wegbewegend, den Kopf tief auf der Brust ruhend, in Gedanken versunken, was ihm eine melodramatische Pose verleiht, auf- und abgehend.

Er wirkt auf mich so, als brüte er über eine schicksalsschwere Entscheidung nach. So muss es, denke ich bei mir, Napoleon gegangen sein, bei der Drei-Kaiser-Schlacht bei Austerlitz.
In diesem Moment, dieses Bild vor Augen, das mir wie eine einstudierte Rolle vorkommt und die einen Anflug von Arroganz in sich birgt, da entscheide ich mich spontan dafür, dass er sein Waterloo erleben soll, obwohl er mir von seiner Art her eher sympathisch ist.

Ich frage mich heute manchmal, woher nahm ich nur diese Vermessenheit mich über alles hinwegzusetzen, mir vielleicht alle Türen zu verschließen, unkalkulierbare Risiken zu akzeptieren, ohne dabei auch nur den Ansatz von Angst zu spüren?
Ich glaube es ist ihre Anmaßung die mir zu schaffen machte. Mit welchem Selbstverständnis der Überlegenheit sie auf vermeintlich Unterlegene zugingen, das hat mich gereizt. Immer, wenn ich in meinem Leben in eine solche Situation geraten bin, hatte ich das Gefühl, es läuft eine Kamera mit.
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Kameraschwenk: Offizier in der Totalen, wendet sich um, mit ausdrucksstarkem Gesicht. Seine leicht nach vorn gebogene Pose aufgebend, strafft er sich, wird gerade im Rücken, wird größer, den Kopf dabei leicht in den Nacken legend, was ihm ein etwas gockelhaftes Aussehen verleiht, schreit er mich plötzlich an:
„Wie können sie es sich erlauben durch Unachtsamkeit meinen Unterricht zu stören, sie verdammter Ignorant.“

Kameraschwenk auf den langen Gang: Matrose, noch relativ weit entfernt, nähert sich schrittweise. Langsam gehe ich auf ihn zu, das spärliche Licht, das durch das milchige Fenster hineinscheint, zeichnet nur sein Profil. Laut aber beherrscht frage ich ihn:

„Was fällt ihnen eigentlich ein, mich in dieser Art und Weise anzusprechen?“
„Ich erwarte von ihnen als deutschen Offizier der Bundesmarine, dass sie sich ihrer Position bewusst sind und von mir Auskunft erwarten, um die Situation zu klären.“ Die Worte kommen, wie vom Blatt abgelesen, ohne zu stocken.

Ich schaue ihn an und spüre in mir tiefe Befriedigung. Die Kamera erfasst jetzt einen Teil des Ganges und beide Protagonisten. Für eine kurze Zeit herrscht überraschtes Schweigen.
Der Leutnant ist verblüfft, seine Bewegung erstarrt, ungläubig schaut er mich an, er braucht einen Moment um sich zu sammeln. Er stockt: „Unverschämtheit, sie werden…“, er fingert in seiner Hosentasche, sucht nach irgendetwas.

Er schaut mich jetzt aus leicht gebeugter Haltung an: „So etwas ist mir noch nie vorgekommen, ich werde sie…“, immer noch versucht er etwas ans Tageslicht zu fördern, was sich in der rückwärtigen Hosentasche verbirgt.
Endlich zieht er einen kleinen Schreibblock hervor und einen Miniaturbleistift, keine vier Zentimeter lang, den kramt er nachträglich ans Licht. Wo er den wohl herhat, frage ich mich?

„Wie heißen sie, Name, Dienstgrad und Einheit.“ Ich habe gewonnen, das ist klar. Seine ganze Souveränität, seine hollywoodartige Fassade, sein preußischer Glanz, alles ist im Eimer, aber er bleibt mir irgendwie sympathisch.
Ich nenne ihm alle Daten. „Das wird ein Nachspiel haben, wir werden uns an anderer Stelle wiedersehen.“
 



 
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