Donnerstag, 24. Juni 1982, kurz nach 19.30 h
Wir hatten gerade zu Abend gegessen, als der Anruf kam.
Eine Frau war tot in ihrer Wohnung gefundenworden und es gab Hinweise auf ein Sexualverbrechen.
Meine Kollegin und beste Freundin Leigh Scavo, meine Töchter Liberty und Lorelei, und Loris Freund Chris beobachteten mich.
"Ihr müsst arbeiten", stellte Lori fest, als ich aufgehängt hatte.
"Ja, und eine von euch muss hierbleiben und auf Laurel, Hannah und Clark aufpassen."
Unser vierjähriger Sohn und unsere zweijährigen Töchter schliefen schon. Leigh und ich hatten sie noch zu Bett bringen können; ein viel zu seltenes Privileg.
Meine beiden älteren Töchter stammten aus erster Ehe. Ich war 19 als ich aus extremer Verliebtheit heraus geheiratet hatte und 21 als ich, nun schlauer, geschieden wurde...
"Aber, Dad! Chris und ich wollten ins Kino und danach noch... was essen. Und Libby..."
"Ist schon okay", sagte Libby. "Geht ruhig."
Sie zögerte.
"Mir geht's heute nicht so gut und die Fahrt von L. A. hierher war auch nicht ohne.“
Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität von Kalifornien in L.A. und hatte gerade ihr erstes Jahr beendet. „Ich bleibe hier und ruhe mich etwas aus."
"Du bist ein Schatz!" Lori drückte ihre ältere Schwester an sich.
"Jaja, nun haut schon ab, bevor ich's mir anders überlege."
Leigh und ich verabschiedeten uns von den Mädchen. Vor der Haustür rief ich Lori zurück und sie kam zu mir.
"Würdest du bitte deine Handtasche öffnen, Lorelei?"
Sie zeigte mir den Inhalt. Make-Up, Schlüssel, Portemonnaie... und zwei Kondome. Sie wurde rot.
Erstaunt sah ich sie an. Dass Christopher und sie so gute Freunde waren, war mir eindeutig entgangen und das gab mir zu denken. Mein Job vereinnahmte mich anscheinend zu sehr. Ich hatte keine Ahnung, was zu Hause los war. Meine Tochter wurde siebzehn und kannte Chris seit etwas über einem Jahr.
"Bist du sicher, Lorelei?"
"Hmhm."
"Benutzt sie auch. Ich will nicht nächstes Jahr jüngster Großvater San Franciscos sein."
Erleichtert schloss sie die Handtasche und gab mir einen Kuss.
"Verstehst du so was unter Erziehung, Clark?", fragte Leigh vorwurfsvoll, als wir losfuhren.
"Was regst du dich denn auf, Kleine? Es funktioniert doch prima."
19.52 h
Das Opfer lag in der Dachgeschoss-Wohnung eines dreistöckigen, gelben Hauses im Queen Anne-Stil. Das Haus gehörte dem Ehepaar Shepard, alten Freunden meines Vaters. Peter war bis vor drei Jahren Polizist und Partner meines Vaters gewesen und arbeitete nun als Einsatz-Koordinator in der Notrufzentrale. Seine Frau Edith war Dozentin für Strafrecht an der Universität von San Francisco. Sie hatte mich alles über die Strafgesetze gelehrt, die ich heute so gern zu meinem Vorteil verdrehte.
Auf der Straße vor dem Haus drängten sich Schaulustige. Mehrere Streifenwagen, ein Geländewagen und ein Leichenwagen hatten vor dem Haus geparkt und versperrten den direkten Zugang.
Die uniformierten Kollegen wiederholten wie ein Mantra immer dieselben Worte: "Bitte gehen Sie nach Hause. Es gibt hier nichts zu sehen."
Leigh und ich begannen, uns durch die Menge zu drängen. "Polizei", rief sie und hielt ihre Marke hoch, "bitte lassen Sie uns durch."
"Was ist denn passiert?"
"Da drin soll eine Leiche liegen. Stimmt das?"
"Ist es die Anwältin oder die Lehrerin?"
"Bei dem Job wäre es nicht ungewöhnlich. Wie kann eine Anwältin nur so etwas tun?"
"Wir wissen nicht, was hier passiert ist", sagte Scavo mit lauter Stimme, um das Gerede zu übertönen. "Wir sind hier, um es herauszufinden. Bitte zeigen Sie ein bisschen Rücksicht. Denken Sie an die Shepards, sie sind immerhin Ihre Nachbarn. Sie würden es doch auch nicht wollen, dass sich alle über Sie das Maul zerreißen, wenn SIE dort drin lägen, oder?"
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Ich lächelte. Leigh verstand es, Nerven zu treffen.
Ich ging zu einem der uniformierten Cops. Vor sieben Jahren war Randy Fagin mein Ausbilder gewesen. Jeder Anfänger muss drei bis sechs Monate mit einem Ausbilder,meist einem erfahrenen Streifenpolizisten, auf Streife gehen. Er war ein gewissenhafter und fähiger Lehrer.
"Randy, befragt die Leute. Vielleicht hat jemand was gesehen oder gehört."
"Okay, Kleiner. Tja, so sieht man sich wieder."
"Du schaust ziemlich grün aus. Geht's dir gut?"
"Ja, klar. Warum fragst du?" Er räusperte sich. "Mein Partner Tom und ich waren die ersten am Tatort. Wir waren gerade in der Nähe, als der Notruf kam. So was hab ich in meinen ganzen achtzehn Dienstjahren noch nicht gesehen." Er schüttelte den Kopf. "Sie wurde... niedergemetzelt. Überall war Blut. Wer macht sowas?" Er schien keine Antwort darauf zu erwarten und so gab ich keine.
"Und, Randolph. Egal, wer zum Tatort will-"
"Schon klar, wir lassen hier keinen durch. Außerdem hätte die Lady von der Spurensicherung was dagegen."
Die 'Lady' war Cora Fernandez, Kriminaltechnikerin mit Fachgebiet Waffenanalyse. Randy schien mächtig beeindruckt von ihr zu sein. Er nannte nicht jede Polizistin, die ihm über den Weg lief, eine Lady. Die Einzige, die er meines Wissens noch so nannte, war Leigh.
Warum ist Cora hier, fragte ich mich, als wir an einem kleinen Vorgarten vorbeigingen und die niedrige Treppe zur Eingangstür hinaufstiegen. Leigh blieb kurz stehen und sah sich um.
"Kommst du?"
Sie folgte mir in die Wohnung der Shepards. Edie saß zusammengesunken auf der Couch und weinte, Peter hielt sie im Arm und sprach beruhigend auf sie ein.
"Shep."
Er sah auf und kam zu mir. Leigh ging zu Edie und nahm ihre Hand.
"Kannst du mir schon ein paar Fragen beantworten?"
"Ja..., natürlich, klar. Weißt du, was komisch ist? Edie nimmt es mehr mit als mich. Laura war wie eine Tochter für uns beide." Shep und Edie hatten keine Kinder. "Warum sitze ich nicht genauso da wie sie?"
Ich wandte mich um. Leigh sprach leise mit Edie und machte sich nebenbei Notizen.
"Du hast jahrelang mit sexueller Gewalt in allen Formen zu tun gehabt, sie nicht."
"Ist es das wert, wenn ich nicht mal um einen geliebten Menschen weinen kann?"
Nein, das war es nicht. Würde ich auch mal so enden, sollte es soweit kommen, fragte ich mich unwillkürlich. "Was ist hier passiert?", sagte ich laut.
"Ich fuhr heute morgen wie immer zur Notrufzentrale. Edie machte sich für die Uni fertig. Lauras Auto stand noch auf seinem Platz. Ich hab es gesehen, als ich vorbeifuhr. Das war kurz nach halb acht. Ich fand es merkwürdig."
"Warum?"
"Normalerweise ist Laura schon weg, wenn ich losfahre. Ich dachte, sie sei vielleicht krank oder hat verschlafen. Als ich gegen fünf von der Schicht heimkam, stand das Auto immer noch da. Sie kommt sonst nie vor halb sieben nach Hause. Na gut, dachte ich, sie ist sicher krank und braucht Ruhe."
"Du hast nicht nach ihr geschaut, bevor du losgefahren oder als du nach Hause gekommen bist? Sie gefragt, ob sie Hilfe braucht?"
"Nein, ich wollte sie nicht stören. Außerdem war ich spät dran. Als Edie von der Uni nach Hause kam, fragte sie gleich nach Laura."
"Wann war das?"
"Hm, so gegen sechs. Wir hatten beide das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Edie hat plötzlich geschnuppert. Wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Ich fragte sie, was los sei und sie meinte, es rieche ziemlich streng. So als wäre eine Toilette defekt und nach etwas anderem, von dem sie nicht wusste, was es war. Ich habe nichts gerochen, hab Heuschnupfen. Edie nahm den Notschlüssel und ging nach oben, um nach Laura zu sehen. Normalerweise tun wir das nicht, aber..."
"Aber was?"
"Edie machte sich wirklich Sorgen, weißt du? Laura und Abby...Abby DeMarco, unsere andere Mieterin, sind wie Töchter für uns. Ich hörte sie ein paar Mal rufen, als sie Lauras Wohnung betrat, doch es kam keine Antwort. Plötzlich hörte ich sie schreien. Es war ein furchtbarer Schrei. Es hat mir die Nackenhaare gesträubt. Ich bin noch nie so schnell zwei Treppen raufgerannt."
"Wo war Edie?"
"Im Schlafzimmer. Sie starrte auf das Bett. Laura lag darauf." Er holte tief Luft. "Sie war nackt. Ihr Hals... war durchgeschnitten. Überall Blut... Ich habe acht Jahre in der Abteilung deines Vaters gearbeitet. Ich habe so ziemlich jedes Sexualdelikt gesehen und bearbeitet, das ich mir vorstellen kann, aber das ist eines der hässlichsten und brutalsten, die ich je gesehen habe."
"Habt ihr etwas angefasst?"
"Ich nicht. Für Edie kann ich nicht sprechen."
"Hat Abby nichts bemerkt?"
"Abby war die Nacht über weg und ist noch nicht wieder da. Ich habe sie gestern abend gegen fünf zusammen mit ihrer Tochter wegfahren sehen."
"Okay. Habt ihr irgendetwas bemerkt? Geräusche, Schreie...?"
"Ich habe mehrere Schüsse gehört, ziemlich nah. Sie klangen seltsam gedämpft. Ich kann mich aber auch täuschen. Ich habe ziemlich heftig geträumt. Von Korea. Von dem Geräusch bin ich zwar aufgewacht, aber wahrscheinlich existierte es nur in dem Traum."
Ich sah zu den beiden Frauen hinüber. Edie hatte sich etwas beruhigt und beantwortete Leighs Fragen.
"Das wird sie den Rest ihres Lebens nicht vergessen, genauso wenig wie ich."
"Wer ist die Tote?"
"Laura Bellini. Du wirst sie vielleicht kennen. Sie ist...war Stellvertretende Staatsanwältin, Abteilung Sexualdelikte."
Mein Magen verknotete sich. O Scheiße, dachte ich. "Könntest du dir vorstellen, dass die Tat etwas mit ihrem Job zu tun hat?"
"Rache?"
"Ja."
"Der Täter ging äußerst brutal vor. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht."
Laura Bellini hatte neun Jahre bei der Abteilung Sexualdelikte der Staatsanwaltschaft gearbeitet. Sie hatte über 250 Sexualstraftäter hinter Gitter gebracht. Wieviele von denen waren wohl gerade auf Bewährung draußen oder wegen guter Führung und/oder "erfolgreich" abgeschlossener Therapie aus dem Gefängnis entlassen worden?
Und was würden die Medien berichten, wenn sie davon Wind bekamen? San Franciscoer Sex-Staatsanwältin einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen?
Bald würde hier der Teufel los sein.
20.30 h
Leigh verabschiedete sich von Edie und kam zu mir. Wir gingen nach oben. Vor Lauras Wohnungstür blieb sie stehen.
"Gott, ich will da nicht rein. Ich würde lieber eine Wurzelbehandlung ohne Narkose verpasst bekommen als da reinzugehen."
Das überraschte mich. Leigh war nicht gerade das, was man zart besaitet nennt. Normalerweise konnte sie mit dem Anblick von Leichen umgehen.
"Ich sollte gar nicht hier sein. Ich bin befangen", sagte sie leise.
Laura und Leigh waren befreundet gewesen. Sie hatten nach der Arbeit öfter noch gemeinsam etwas getrunken oder waren in den Sommermonaten zusammen joggen gegangen. Dass ihre Freundschaft viel tiefer gewesen war und viel weiter in die Vergangenheit zurückreichte, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
"Nun, wenn du es keinem sagst... tu ich es auch nicht."
Der Gedanke, nicht mit Scavo zusammenarbeiten zu können, mutete mir seltsam an. Ich kannte unter den Kollegen keinen, der ein solches Gespür für Sexualtäter hatte wie sie. Sie war ein Bluthund in Gestalt von Schneewittchen.
"Hm", machte sie.
Dann zogen wir uns Latexhandschuhe über und betraten die Wohnung.
Der betäubende Geruchscocktail von sich zersetzendem Fleisch, Fäkalien und die metallische Schärfe von Blut bzw. den Eisenanteilen darin, ist einzigartig. Wenn man ihn einmal gerochen hat, vergisst man ihn nie wieder.
Ich hatte den Geruch schon viel zu oft gerochen und nahm ihn kaum noch wahr. Leigh dagegen war ziemlich blass. Auch nach zwei Jahren hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt.
Wir standen einem etwa fünf mal vier Meter großen, hellen Wohnraum, dessen Fensterfront zum Golden Gate Park hinausging.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Zwei Bücherregale, eine rote Couch, ein gläserner Beistelltisch und ein Fernseher. Ein Schreibtisch flankiert von zwei metallenen Aktenschränken vor den Fenstern. Auf dem Schreibtisch ein Telefon, eine Lampe, eine Schreibunterlage, ein Notizblock mit Stift und ein gerahmtes Bild, das sie mit einem großen, dunkelhaarigen Mann zeigte. Der einzige persönliche Gegenstand im Raum, den ich ausmachen konnte. Beide lächelten.
Der ganze Raum war penibel aufgeräumt. Alles hatte seinen Platz, nichts lag einfach nur herum. Der Raum spiegelte Lauras ernste, ordentliche und zielstrebige Art wider. Sie war immer perfekt auf ihren jeweiligen Fall vorbereitet gewesen, hatte nichts dem Zufall überlassen. Sie hatte nie das Problem gehabt, wichtige Unterlagen verlegt zu haben. Im Gegensatz zu meiner Wenigkeit.
Wir folgten dem Geruch. Die in Weiß gehaltene Küche wirkte so ordentlich und unberührt wie der Wohnraum. An der Wand im Flur waren blutige Handabdrücke und Blutschmierer. Am Türrahmen war ebenfalls ein blutiger Handabdruck, als hätte sich jemand dort abgestützt. Blutstropfen auf der Türschwelle. Blutige Schleifspuren und Blutspritzer auf dem hellen Parkett. Die Handabdrücke waren klein, von einer Frauenhand. Ich schaute in die Küche hinein. Auf der Anrichte neben dem Fenster stand ein Messerblock. Eins fehlte. Ich folgte den Blutspuren mit den Augen bis zu dem Raum am Ende des Flures. So viel Blut.
"Mein Gott", flüsterte Leigh, als sie die blutigen Hände sah.
Ein Bild formte sich vor meinem inneren Auge.
"Sie kam aus dem Raum am Ende des Flurs, vermutlich dem Schlafzimmer. Sie war verletzt, hat geblutet und musste sich abstützen, um gehen zu können. Sie wollte wahrscheinlich zu den Messern, sich eine Waffe beschaffen. Es sind aber kaum Blutspuren in der Küche, nur in der Nähe der Türschwelle. Die Schmierer hier" - ich zeigte auf den Türrahmen und Schleifspuren auf dem Boden - "ich glaube, sie ist zusammengebrochen..."
"... und er hat sie sich geschnappt und zurück ins Schlafzimmer geschleift." Sie nickte. "Das könnte passen. Ob ein paar der Blutspuren vom Täter sind?"
"Vielleicht, aber das glaube ich weniger."
"Aber, Clark, überleg doch. Sie war sportlich, durchtrainiert und verdammt zäh. Du hast sie gekannt. Sie ist Konfrontationen nie aus dem Weg gegangen, wie viele andere es getan hätten. Sie hat ihn nicht einfach machen lassen, was immer er auch getan hat. Sie hat ihm die Hölle heiß gemacht, bevor sie starb."
Ich dachte an Laura vor Gericht. Ich hatte oft in Fällen ausgesagt, in denen sie Vertreterin der Anklage gewesen war. Ich konnte die Fälle, die sie verloren hatte, an einer Hand abzählen. Leigh hatte sie sehr treffend beschrieben.
Sie schüttelte den Kopf. "Warum ist sie nicht zum Telefon gerannt? Es hängt doch direkt neben dem Fenster."
"Wahrscheinlich wollte sie erst versuchen, ihn soweit wie möglich außer Gefecht zu setzen und dann Hilfe zu rufen. Er hätte sie garantiert nicht zum Telefon spazieren und die Polizei rufen lassen."
"Und dann hat er sie außer Gefecht gesetzt."
Ich nickte.
"Aber wie wollte sie das anstellen? Sie war verletzt. Und nach den Blutspuren zu urteilen ziemlich schwer."
"Sie stand unter extremem Stress und hatte Angst. Stresshormone unterdrücken Schmerzen und können Menschen riesige Kräfte verleihen. Sie hätte es durchaus schaffen können."
Ich warf noch einmal einen Blick in die Küche. Den Messerblock und/oder das Telefon hätte ich mit drei, vier Schritten erreicht, sie vielleicht mit ein paar mehr. Drei Schritte nur zwischen Leben und Tod. Manchmal ist das eine nicht zu überwindende Entfernung.
Im gegenüberliegenden Badezimmer beugte sich eine kleine Frau mit blonden Haaren über den Badewannenrand.
"Hallo, Linda. Haben Sie was gefunden?"
"Ja, Blut und Haare im und um den Abfluss herum. Blutige Handtücher in der Wäschetruhe. Die Haare sind dunkel, kurz, teils glatt und teils kraus. Kopf-, Körper- und Schamhaare."
Das konnte nur eins bedeuten. "Der Täter hat sich gewaschen?", fragte Leigh.
"Schaut ganz so aus. Entweder ist er hirnverbrannt oder verdammt dreist."
"Wieso?" Leigh sah mich ratlos an.
"So wie es aussieht, hat sie viel Blut verloren und er war voll davon. Er wollte einfach nicht so wieder rausgehen. Wenn ihn jemand vom Haus hätte weggehen sehen..."
"So einfach?"
"So einfach."
Wir gingen in den Raum, aus dem der Geruch drang. Fünf Menschen hielten sich dort auf: der Gerichtsmediziner, der Polizeifotograf, Cora Fernandez von der Spurensicherung, sowie meine Schwester Susan und ihr Kollege Adam von der Mordkommission. Sie hatte mich angerufen. Und das Opfer.
Nachdem wir uns begrüßt hatte, sagte Susan: "Wir wurden vor etwa anderthalb Stunden hierher gerufen. Eine Frau läge tot in ihrer Wohnung. Ich habe dich angerufen, als wir die Schnitt- und Brandwunden auf ihrem Körper und die Waffe in ihrer Vagina gesehen haben." Kurz darauf gingen die beiden.
Ich betrachtete die Tote. Laura Bellini war nackt, ihre Beine gespreizt. Sie lag auf einem großen Doppelbett, das einen Großteil des Raumes einnahm. Das Kopfende war voller Blut.
An den Fenstern, auf dem Nachtkästchen, sogar an der Decke und an der halb geschlossenen Tür des begehbaren Wandschrank links vom Bett waren Blutspritzer. Das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte, war blutgetränkt.
Sie hatte eine tiefe Halswunde. Das Blut war wie aus einem Springbrunnen daraus herausgespritzt. Sie war prämortem zugefügt worden. Dem Blutverlust nach zu urteilen, waren die Halsschlagadern durchtrennt worden und das ist in jedem Fall tödlich.
Um ihre Mundregion herum sah ich Verätzungen, Erbrochenes. Ihr Gesichtsausdruck war völlig leer; ein Effekt der allgemeinen Muskelerschlaffung nach Todeseintritt wie auch die Exkremente und der Urin, die abgegangen waren und gelbbraune Ablegerungen auf der Überdecke hinterlassen hatten. Letzteres kann natürlich auch bei extremer Angst oder unter Folter passieren. Beides schien hier durchaus vorzuliegen.
An Händen und Unterarmen, Brust und Unterleib und den Oberschenkeln sah ich frische Schnitt- und Stichwunden. Solche Wunden sind ein starkes Indiz für sexuellen Sadismus.
Leigh zog scharf die Luft ein, als sie den Revolver zwischen ihren Beinen stecken sah.
Die Gesichtsfarbe des Polizeifotografen wechselte von blass zu einem ungesunden Grün, als er den Revolver sah.
"Wag' es nicht, meinen Tatort vollzureihern, Dean!", sagte Cora drohend.
"Nein", murmelte der Polizeifotograf. "Das Beste hebe ich mir immer bis zum Feierabend auf."
"Willst du rausgehen? Ich kann die restlichen Fotos machen."
Er schluckte ein paarmal und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich etwas.
"Nein, es geht schon. Nur lass uns schnell machen, ja? So schnell es geht."
"Gabe, was hast du?", fragte ich den Gerichtsmediziner.
"Die Totenstarre ist vollständig ausgeprägt und die Leichenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken. Die Körpertemperatur hat sich der Raumtemperatur angeglichen. Sie liegt seit mindestens zwanzig Stunden hier."
Ich sah auf meine Uhr. "Dann wäre sie um Mitternacht herum gestorben."
"Plus/minus ein, zwei Stunden. Todesursache war der Schnitt am Hals. Beide Schlagadern wurden durchtrennt. Das hätte sie nicht überleben können."
"Ich habe ein blutverschmiertes Steakmesser gefunden." Cora hob einen Asservatenbeutel hoch. "Das ist wahrscheinlich die Tatwaffe. In der Küche steht ein Messerblock und-"
"... eins fehlt", beendete ich ihren Satz.
Sie nickte und wandte sich dann dem Revolver zu. Dean machte mehrere Fotos, dann zog sie ihn langsam aus der Vagina der Toten. Mit einem widerlich schlüpfrigen Geräusch rutschte er heraus. Sie packte ihn in einen Asservatenbeutel, den sie sorgfältig beschriftete.
"Der Schnitt am Hals wurde von rechts unten nach links oben ausgeführt", fuhr Gabe fort. "Der Täter muss auf ihr gesessen haben, als er ihn machte. Darauf weisen auch Prellungen an den Rippen hin. Er ist vermutlich Linkshänder. Ich habe ferner Stauungsblutungen in ihren Augenbindehäuten gefunden. Sie wurde vor ihrem Tod gewürgt."
"Da ist ein Muster", unterbrach ihn Leigh.
"Was meinst du?", fragte ich.
"Die Schnitte und Stiche auf Brust und Bauch..."
Jetzt sah ich es auch. Gabriel und Cora ebenfalls. Man brauchte viel Fantasie, um es in
dem scheinbar willkürlichen Muster zu sehen...
"Hure. Das war eindeutig persönlich. Niemand würde sich die Mühe machen, jemanden auf diese Art zu töten, wenn er ihn nicht kennen und hassen würde."
"Widerlich", murmelte Dean fassungslos.
"Die Schnittwunden an ihren Händen und Unterarmen sind Abwehrverletzungen?", fragte sie Gabe.
"Ja, aktive wie passive. Die Schnitte an ihren Händen zeigen mir, dass sie mindestens einmal versucht hat, das Messer an sich zu bringen; die Schnitte an ihren Armen, dass sie sie erhoben hatte, um ihren Körper zu schützen als er sie mit dem Messer angriff."
"Quälerei", sagte ich. "Purer Spaß am Quälen. Er wollte ihr vor ihrem Tod ein Maximum an Schmerzen zufügen. Ich glaube auch, dass er sie nicht erwürgt und dann den Schnitt am Hals gesetzt hat, sondern dass sie bei vollem Bewusstsein war. Es braucht drei bis fünf Minuten und konstanten Druck auf den Hals, bis man jemanden zu Tode gewürgt hat. Außerdem schlägt das Herz danach noch eine Zeitlang weiter, bis es aussetzt. Und ihr Herz hat noch geschlagen, sonst wäre das Blut nicht so gespritzt. Nein, er wollte, dass sie wusste, dass sie sterben muss. Er wollte, dass sie es miterlebte. Und ihre Position? Er hat sie regelrecht zur Schau gestellt. Viele Täter lassen die Toten einfach liegen, wenn sie mit ihnen fertig sind oder decken sie sogar hinterher zu. Er hat sie für uns so präsentiert, hat uns, aus welchem Grund auch immer, den Fehdenhandschuh hingeworfen. Schaut her, ihr konntet nichts dagegen tun."
Ich sah in die Runde. Die anderen sahen mich angewidert an.
"Seht mich nicht so an. ICH habe sie nicht umgebracht. Er hat sie außerdem fast enthauptet. Overkill. Extreme Wut. Er war voller Blut. Man braucht eine Riesenkraft, um jemandem so eine Wunde zu verpassen. Und seht ihr diese Narben?" Brandnarben, Schnitte, Stiche, nie ganz verschwunden. Sie legten Zeugnis über eine gewalttätige Vergangenheit ab. "Sie muss einmal in einem mit einem gewalttätigen Mann zusammen gewesen sein. Ich nehme nicht an, dass sie sich diese Wunden freiwillig hat zufügen lassen."
"Du nimmst richtig an", sagte Leigh leise.
Überrascht sah ich sie an, doch sie hatte sich schon Cora zugewendet. Woher wollte sie das wissen?
Cora sagte in die Stille hinein: "Sarge? Ich habe Spermaspuren auf ihrem Gesicht gefunden und Abstriche von Mund, Vagina und Anus gemacht, abgebrochene Fingernägel und -schmutz gesichert und ihr Schamhaar ausgekämmt."
Erniedrigung und Demütigung, Hass und Wut... sexualisierte Gewalt.
Gabe wandte sich an Cora: "Bist du soweit fertig? Sie wird nicht besser, wenn sie noch länger hier liegt."
"Ja, von mir aus kannst du die Jungs holen."
"Die Jungs" waren Tyrone Becket und Hector Sanchez, beide Pathologie-Assistenten.
In diesem Moment kam ein triumphierendes "Ja !" aus dem begehbaren Kleiderschrank.
Leigh und ich fuhren zusammen. Cora, Dean und Gabe zuckten nicht mal mit der Wimper. Linda Seger unterbrach ihre Arbeit im Bad und kam herüber.
"Hast du was gefunden, Archie?", fragte Cora.
"Jaaa... Ich hab den Jackpot geknackt! Komm her, Dean. Das ist wirklich toll."
"Wenn es eine Leiche ist, kotze ich!"
"Nein, es ist noch viiiiel besser."
Ein großer, schlaksiger junger Mann mit dunklen Haaren und Augen kam aus dem Schrank. An der Innenseite der Tür, in Höhe des Griffes, waren fünf wunderschöne Fingerabdrücke.
"Sie werden uns nicht weiterbringen."
Alle Köpfe fuhren zu mir herum.
"Warum?", fragte Leigh. "Wenn er irgendwo bei einer Bank oder einer staatlichen Behörde registriert ist, haben wir eine gute Chance, ihn zu identifizieren. Es wird zwar Monate dauern, all diese Abdrücke mit denen da zu vergleichen, aber irgendwann haben wir ihn."
Jeder staatliche Beamte musste zu Identifikationszwecken seine Fingerabdrücken abgeben.
"Er weiß genauso gut wie wir, dass wir ihn irgendwann haben. Das war, glaube ich, auch gar nicht ausschlaggebend für seine Entscheidung, sie zu hinterlassen. Was er getan hat, dient vermutlich einzig dem Zweck, uns auf der Nase herumzutanzen. Es hilft uns womöglich sogar, ihn zu fassen, denn er brauchte das nicht zu tun, um die Tat zu begehen, ganz im Gegenteil. Wenn er jedoch nicht von hier stammt und diese Möglichkeit sollten wir auch nicht außer Acht lassen, wäre er auch nicht hier registriert und würde ergo auch nicht erwischt, wenn er seine Fingerabdrücke hinterlässt. Kalkuliertes Risiko."
"Du hörst dich manchmal an, als hättest du in einem früheren Leben selbst ein Verbrechen begangen."
Wie Recht du hast, dachte ich. Ich wusste auch, dass ich es ihr irgendwann sagen musste. "Ich habe von den besten gelernt", sagte ich laut.
Und die "Besten" sind nun mal die Täter... Es gibt keine besseren Lehrer, wenn man kriminelles Verhalten studieren will. Ob man es auch versteht, ist eine andere Sache.
Archie hockte sich hin und hob eine behandschuhte Hand zu den Abdrücken.
"Der Typ hockte da drin und ist rausgesprungen wie ein Schachtelteufel, als sie die Tür öffnete." Er war äußerst zufrieden.
Dean machte mehrere Aufnahmen von den Abdrücken.
Kurz darauf kam Gabe mit seinen beiden Assistenten zurück; einem riesigen Schwarzen mit einem Faible für ausgefallenen Ohrschmuck und einem kleinen, kräftig gebauten Mexikaner. Beide trugen Schutzkleidung und Handschuhe. Während Ty den Leichensack ausbreitete und öffnete, sah Hector die tote Frau an und bekreuzigte sich. Dann hoben sie sie vorsichtig vom Bett in den Leichensack und trugen sie weg.
Gabriel verabschiedete sich ebenfalls. "Die Autopsie findet morgen früh um neun statt. Wenn ihr dabei sein wollt, seid pünktlich."
Scavo und ich wollten nicht, doch es war unser Job. Ich dachte an Rafael. Ich musste ihm sagen, was seiner Kollegin widerfahren war.
22.09 h
Leigh und ich verabschiedeten uns von den anderen. Die Spurensicherung würde noch länger dauern. Wir würden aufs Revier fahren und mit dem Papierkram anfangen. Doch zuerst wartete Wichtigeres auf mich. Mein älterer Bruder.
Als wir das Haus der Shepards verließen, hielten zwei groß gewachsene Cops einen noch größeren Mann fest, während Randy auf ihn einsprach. Der Mann hatte dunkle Haare und Augen, trug einen dunklen Anzug und war noch ein bisschen größer als ich. Zwei Meter. Er war es, den ich auf dem Bild auf Lauras Schreibtisch gesehen hatte.
"Scavo, sei so gut: Fahr allein ins Büro und fang schon mal mit dem Papierkram an. Ich werde mit Rafe reden."
"Okay. Aber ich hab kein Auto."
Ich nahm einen jungen Cop zur Seite. "Würden Sie Inspector Scavo zum Revier in der Eddy Street fahren, Officer? Danke. Bis später", sagte ich zu ihr und ging dann zu meinem Bruder.
Wir hatten gerade zu Abend gegessen, als der Anruf kam.
Eine Frau war tot in ihrer Wohnung gefundenworden und es gab Hinweise auf ein Sexualverbrechen.
Meine Kollegin und beste Freundin Leigh Scavo, meine Töchter Liberty und Lorelei, und Loris Freund Chris beobachteten mich.
"Ihr müsst arbeiten", stellte Lori fest, als ich aufgehängt hatte.
"Ja, und eine von euch muss hierbleiben und auf Laurel, Hannah und Clark aufpassen."
Unser vierjähriger Sohn und unsere zweijährigen Töchter schliefen schon. Leigh und ich hatten sie noch zu Bett bringen können; ein viel zu seltenes Privileg.
Meine beiden älteren Töchter stammten aus erster Ehe. Ich war 19 als ich aus extremer Verliebtheit heraus geheiratet hatte und 21 als ich, nun schlauer, geschieden wurde...
"Aber, Dad! Chris und ich wollten ins Kino und danach noch... was essen. Und Libby..."
"Ist schon okay", sagte Libby. "Geht ruhig."
Sie zögerte.
"Mir geht's heute nicht so gut und die Fahrt von L. A. hierher war auch nicht ohne.“
Sie studierte Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität von Kalifornien in L.A. und hatte gerade ihr erstes Jahr beendet. „Ich bleibe hier und ruhe mich etwas aus."
"Du bist ein Schatz!" Lori drückte ihre ältere Schwester an sich.
"Jaja, nun haut schon ab, bevor ich's mir anders überlege."
Leigh und ich verabschiedeten uns von den Mädchen. Vor der Haustür rief ich Lori zurück und sie kam zu mir.
"Würdest du bitte deine Handtasche öffnen, Lorelei?"
Sie zeigte mir den Inhalt. Make-Up, Schlüssel, Portemonnaie... und zwei Kondome. Sie wurde rot.
Erstaunt sah ich sie an. Dass Christopher und sie so gute Freunde waren, war mir eindeutig entgangen und das gab mir zu denken. Mein Job vereinnahmte mich anscheinend zu sehr. Ich hatte keine Ahnung, was zu Hause los war. Meine Tochter wurde siebzehn und kannte Chris seit etwas über einem Jahr.
"Bist du sicher, Lorelei?"
"Hmhm."
"Benutzt sie auch. Ich will nicht nächstes Jahr jüngster Großvater San Franciscos sein."
Erleichtert schloss sie die Handtasche und gab mir einen Kuss.
"Verstehst du so was unter Erziehung, Clark?", fragte Leigh vorwurfsvoll, als wir losfuhren.
"Was regst du dich denn auf, Kleine? Es funktioniert doch prima."
19.52 h
Das Opfer lag in der Dachgeschoss-Wohnung eines dreistöckigen, gelben Hauses im Queen Anne-Stil. Das Haus gehörte dem Ehepaar Shepard, alten Freunden meines Vaters. Peter war bis vor drei Jahren Polizist und Partner meines Vaters gewesen und arbeitete nun als Einsatz-Koordinator in der Notrufzentrale. Seine Frau Edith war Dozentin für Strafrecht an der Universität von San Francisco. Sie hatte mich alles über die Strafgesetze gelehrt, die ich heute so gern zu meinem Vorteil verdrehte.
Auf der Straße vor dem Haus drängten sich Schaulustige. Mehrere Streifenwagen, ein Geländewagen und ein Leichenwagen hatten vor dem Haus geparkt und versperrten den direkten Zugang.
Die uniformierten Kollegen wiederholten wie ein Mantra immer dieselben Worte: "Bitte gehen Sie nach Hause. Es gibt hier nichts zu sehen."
Leigh und ich begannen, uns durch die Menge zu drängen. "Polizei", rief sie und hielt ihre Marke hoch, "bitte lassen Sie uns durch."
"Was ist denn passiert?"
"Da drin soll eine Leiche liegen. Stimmt das?"
"Ist es die Anwältin oder die Lehrerin?"
"Bei dem Job wäre es nicht ungewöhnlich. Wie kann eine Anwältin nur so etwas tun?"
"Wir wissen nicht, was hier passiert ist", sagte Scavo mit lauter Stimme, um das Gerede zu übertönen. "Wir sind hier, um es herauszufinden. Bitte zeigen Sie ein bisschen Rücksicht. Denken Sie an die Shepards, sie sind immerhin Ihre Nachbarn. Sie würden es doch auch nicht wollen, dass sich alle über Sie das Maul zerreißen, wenn SIE dort drin lägen, oder?"
Betretenes Schweigen breitete sich aus. Ich lächelte. Leigh verstand es, Nerven zu treffen.
Ich ging zu einem der uniformierten Cops. Vor sieben Jahren war Randy Fagin mein Ausbilder gewesen. Jeder Anfänger muss drei bis sechs Monate mit einem Ausbilder,meist einem erfahrenen Streifenpolizisten, auf Streife gehen. Er war ein gewissenhafter und fähiger Lehrer.
"Randy, befragt die Leute. Vielleicht hat jemand was gesehen oder gehört."
"Okay, Kleiner. Tja, so sieht man sich wieder."
"Du schaust ziemlich grün aus. Geht's dir gut?"
"Ja, klar. Warum fragst du?" Er räusperte sich. "Mein Partner Tom und ich waren die ersten am Tatort. Wir waren gerade in der Nähe, als der Notruf kam. So was hab ich in meinen ganzen achtzehn Dienstjahren noch nicht gesehen." Er schüttelte den Kopf. "Sie wurde... niedergemetzelt. Überall war Blut. Wer macht sowas?" Er schien keine Antwort darauf zu erwarten und so gab ich keine.
"Und, Randolph. Egal, wer zum Tatort will-"
"Schon klar, wir lassen hier keinen durch. Außerdem hätte die Lady von der Spurensicherung was dagegen."
Die 'Lady' war Cora Fernandez, Kriminaltechnikerin mit Fachgebiet Waffenanalyse. Randy schien mächtig beeindruckt von ihr zu sein. Er nannte nicht jede Polizistin, die ihm über den Weg lief, eine Lady. Die Einzige, die er meines Wissens noch so nannte, war Leigh.
Warum ist Cora hier, fragte ich mich, als wir an einem kleinen Vorgarten vorbeigingen und die niedrige Treppe zur Eingangstür hinaufstiegen. Leigh blieb kurz stehen und sah sich um.
"Kommst du?"
Sie folgte mir in die Wohnung der Shepards. Edie saß zusammengesunken auf der Couch und weinte, Peter hielt sie im Arm und sprach beruhigend auf sie ein.
"Shep."
Er sah auf und kam zu mir. Leigh ging zu Edie und nahm ihre Hand.
"Kannst du mir schon ein paar Fragen beantworten?"
"Ja..., natürlich, klar. Weißt du, was komisch ist? Edie nimmt es mehr mit als mich. Laura war wie eine Tochter für uns beide." Shep und Edie hatten keine Kinder. "Warum sitze ich nicht genauso da wie sie?"
Ich wandte mich um. Leigh sprach leise mit Edie und machte sich nebenbei Notizen.
"Du hast jahrelang mit sexueller Gewalt in allen Formen zu tun gehabt, sie nicht."
"Ist es das wert, wenn ich nicht mal um einen geliebten Menschen weinen kann?"
Nein, das war es nicht. Würde ich auch mal so enden, sollte es soweit kommen, fragte ich mich unwillkürlich. "Was ist hier passiert?", sagte ich laut.
"Ich fuhr heute morgen wie immer zur Notrufzentrale. Edie machte sich für die Uni fertig. Lauras Auto stand noch auf seinem Platz. Ich hab es gesehen, als ich vorbeifuhr. Das war kurz nach halb acht. Ich fand es merkwürdig."
"Warum?"
"Normalerweise ist Laura schon weg, wenn ich losfahre. Ich dachte, sie sei vielleicht krank oder hat verschlafen. Als ich gegen fünf von der Schicht heimkam, stand das Auto immer noch da. Sie kommt sonst nie vor halb sieben nach Hause. Na gut, dachte ich, sie ist sicher krank und braucht Ruhe."
"Du hast nicht nach ihr geschaut, bevor du losgefahren oder als du nach Hause gekommen bist? Sie gefragt, ob sie Hilfe braucht?"
"Nein, ich wollte sie nicht stören. Außerdem war ich spät dran. Als Edie von der Uni nach Hause kam, fragte sie gleich nach Laura."
"Wann war das?"
"Hm, so gegen sechs. Wir hatten beide das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Edie hat plötzlich geschnuppert. Wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Ich fragte sie, was los sei und sie meinte, es rieche ziemlich streng. So als wäre eine Toilette defekt und nach etwas anderem, von dem sie nicht wusste, was es war. Ich habe nichts gerochen, hab Heuschnupfen. Edie nahm den Notschlüssel und ging nach oben, um nach Laura zu sehen. Normalerweise tun wir das nicht, aber..."
"Aber was?"
"Edie machte sich wirklich Sorgen, weißt du? Laura und Abby...Abby DeMarco, unsere andere Mieterin, sind wie Töchter für uns. Ich hörte sie ein paar Mal rufen, als sie Lauras Wohnung betrat, doch es kam keine Antwort. Plötzlich hörte ich sie schreien. Es war ein furchtbarer Schrei. Es hat mir die Nackenhaare gesträubt. Ich bin noch nie so schnell zwei Treppen raufgerannt."
"Wo war Edie?"
"Im Schlafzimmer. Sie starrte auf das Bett. Laura lag darauf." Er holte tief Luft. "Sie war nackt. Ihr Hals... war durchgeschnitten. Überall Blut... Ich habe acht Jahre in der Abteilung deines Vaters gearbeitet. Ich habe so ziemlich jedes Sexualdelikt gesehen und bearbeitet, das ich mir vorstellen kann, aber das ist eines der hässlichsten und brutalsten, die ich je gesehen habe."
"Habt ihr etwas angefasst?"
"Ich nicht. Für Edie kann ich nicht sprechen."
"Hat Abby nichts bemerkt?"
"Abby war die Nacht über weg und ist noch nicht wieder da. Ich habe sie gestern abend gegen fünf zusammen mit ihrer Tochter wegfahren sehen."
"Okay. Habt ihr irgendetwas bemerkt? Geräusche, Schreie...?"
"Ich habe mehrere Schüsse gehört, ziemlich nah. Sie klangen seltsam gedämpft. Ich kann mich aber auch täuschen. Ich habe ziemlich heftig geträumt. Von Korea. Von dem Geräusch bin ich zwar aufgewacht, aber wahrscheinlich existierte es nur in dem Traum."
Ich sah zu den beiden Frauen hinüber. Edie hatte sich etwas beruhigt und beantwortete Leighs Fragen.
"Das wird sie den Rest ihres Lebens nicht vergessen, genauso wenig wie ich."
"Wer ist die Tote?"
"Laura Bellini. Du wirst sie vielleicht kennen. Sie ist...war Stellvertretende Staatsanwältin, Abteilung Sexualdelikte."
Mein Magen verknotete sich. O Scheiße, dachte ich. "Könntest du dir vorstellen, dass die Tat etwas mit ihrem Job zu tun hat?"
"Rache?"
"Ja."
"Der Täter ging äußerst brutal vor. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht."
Laura Bellini hatte neun Jahre bei der Abteilung Sexualdelikte der Staatsanwaltschaft gearbeitet. Sie hatte über 250 Sexualstraftäter hinter Gitter gebracht. Wieviele von denen waren wohl gerade auf Bewährung draußen oder wegen guter Führung und/oder "erfolgreich" abgeschlossener Therapie aus dem Gefängnis entlassen worden?
Und was würden die Medien berichten, wenn sie davon Wind bekamen? San Franciscoer Sex-Staatsanwältin einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen?
Bald würde hier der Teufel los sein.
20.30 h
Leigh verabschiedete sich von Edie und kam zu mir. Wir gingen nach oben. Vor Lauras Wohnungstür blieb sie stehen.
"Gott, ich will da nicht rein. Ich würde lieber eine Wurzelbehandlung ohne Narkose verpasst bekommen als da reinzugehen."
Das überraschte mich. Leigh war nicht gerade das, was man zart besaitet nennt. Normalerweise konnte sie mit dem Anblick von Leichen umgehen.
"Ich sollte gar nicht hier sein. Ich bin befangen", sagte sie leise.
Laura und Leigh waren befreundet gewesen. Sie hatten nach der Arbeit öfter noch gemeinsam etwas getrunken oder waren in den Sommermonaten zusammen joggen gegangen. Dass ihre Freundschaft viel tiefer gewesen war und viel weiter in die Vergangenheit zurückreichte, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.
"Nun, wenn du es keinem sagst... tu ich es auch nicht."
Der Gedanke, nicht mit Scavo zusammenarbeiten zu können, mutete mir seltsam an. Ich kannte unter den Kollegen keinen, der ein solches Gespür für Sexualtäter hatte wie sie. Sie war ein Bluthund in Gestalt von Schneewittchen.
"Hm", machte sie.
Dann zogen wir uns Latexhandschuhe über und betraten die Wohnung.
Der betäubende Geruchscocktail von sich zersetzendem Fleisch, Fäkalien und die metallische Schärfe von Blut bzw. den Eisenanteilen darin, ist einzigartig. Wenn man ihn einmal gerochen hat, vergisst man ihn nie wieder.
Ich hatte den Geruch schon viel zu oft gerochen und nahm ihn kaum noch wahr. Leigh dagegen war ziemlich blass. Auch nach zwei Jahren hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt.
Wir standen einem etwa fünf mal vier Meter großen, hellen Wohnraum, dessen Fensterfront zum Golden Gate Park hinausging.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Zwei Bücherregale, eine rote Couch, ein gläserner Beistelltisch und ein Fernseher. Ein Schreibtisch flankiert von zwei metallenen Aktenschränken vor den Fenstern. Auf dem Schreibtisch ein Telefon, eine Lampe, eine Schreibunterlage, ein Notizblock mit Stift und ein gerahmtes Bild, das sie mit einem großen, dunkelhaarigen Mann zeigte. Der einzige persönliche Gegenstand im Raum, den ich ausmachen konnte. Beide lächelten.
Der ganze Raum war penibel aufgeräumt. Alles hatte seinen Platz, nichts lag einfach nur herum. Der Raum spiegelte Lauras ernste, ordentliche und zielstrebige Art wider. Sie war immer perfekt auf ihren jeweiligen Fall vorbereitet gewesen, hatte nichts dem Zufall überlassen. Sie hatte nie das Problem gehabt, wichtige Unterlagen verlegt zu haben. Im Gegensatz zu meiner Wenigkeit.
Wir folgten dem Geruch. Die in Weiß gehaltene Küche wirkte so ordentlich und unberührt wie der Wohnraum. An der Wand im Flur waren blutige Handabdrücke und Blutschmierer. Am Türrahmen war ebenfalls ein blutiger Handabdruck, als hätte sich jemand dort abgestützt. Blutstropfen auf der Türschwelle. Blutige Schleifspuren und Blutspritzer auf dem hellen Parkett. Die Handabdrücke waren klein, von einer Frauenhand. Ich schaute in die Küche hinein. Auf der Anrichte neben dem Fenster stand ein Messerblock. Eins fehlte. Ich folgte den Blutspuren mit den Augen bis zu dem Raum am Ende des Flures. So viel Blut.
"Mein Gott", flüsterte Leigh, als sie die blutigen Hände sah.
Ein Bild formte sich vor meinem inneren Auge.
"Sie kam aus dem Raum am Ende des Flurs, vermutlich dem Schlafzimmer. Sie war verletzt, hat geblutet und musste sich abstützen, um gehen zu können. Sie wollte wahrscheinlich zu den Messern, sich eine Waffe beschaffen. Es sind aber kaum Blutspuren in der Küche, nur in der Nähe der Türschwelle. Die Schmierer hier" - ich zeigte auf den Türrahmen und Schleifspuren auf dem Boden - "ich glaube, sie ist zusammengebrochen..."
"... und er hat sie sich geschnappt und zurück ins Schlafzimmer geschleift." Sie nickte. "Das könnte passen. Ob ein paar der Blutspuren vom Täter sind?"
"Vielleicht, aber das glaube ich weniger."
"Aber, Clark, überleg doch. Sie war sportlich, durchtrainiert und verdammt zäh. Du hast sie gekannt. Sie ist Konfrontationen nie aus dem Weg gegangen, wie viele andere es getan hätten. Sie hat ihn nicht einfach machen lassen, was immer er auch getan hat. Sie hat ihm die Hölle heiß gemacht, bevor sie starb."
Ich dachte an Laura vor Gericht. Ich hatte oft in Fällen ausgesagt, in denen sie Vertreterin der Anklage gewesen war. Ich konnte die Fälle, die sie verloren hatte, an einer Hand abzählen. Leigh hatte sie sehr treffend beschrieben.
Sie schüttelte den Kopf. "Warum ist sie nicht zum Telefon gerannt? Es hängt doch direkt neben dem Fenster."
"Wahrscheinlich wollte sie erst versuchen, ihn soweit wie möglich außer Gefecht zu setzen und dann Hilfe zu rufen. Er hätte sie garantiert nicht zum Telefon spazieren und die Polizei rufen lassen."
"Und dann hat er sie außer Gefecht gesetzt."
Ich nickte.
"Aber wie wollte sie das anstellen? Sie war verletzt. Und nach den Blutspuren zu urteilen ziemlich schwer."
"Sie stand unter extremem Stress und hatte Angst. Stresshormone unterdrücken Schmerzen und können Menschen riesige Kräfte verleihen. Sie hätte es durchaus schaffen können."
Ich warf noch einmal einen Blick in die Küche. Den Messerblock und/oder das Telefon hätte ich mit drei, vier Schritten erreicht, sie vielleicht mit ein paar mehr. Drei Schritte nur zwischen Leben und Tod. Manchmal ist das eine nicht zu überwindende Entfernung.
Im gegenüberliegenden Badezimmer beugte sich eine kleine Frau mit blonden Haaren über den Badewannenrand.
"Hallo, Linda. Haben Sie was gefunden?"
"Ja, Blut und Haare im und um den Abfluss herum. Blutige Handtücher in der Wäschetruhe. Die Haare sind dunkel, kurz, teils glatt und teils kraus. Kopf-, Körper- und Schamhaare."
Das konnte nur eins bedeuten. "Der Täter hat sich gewaschen?", fragte Leigh.
"Schaut ganz so aus. Entweder ist er hirnverbrannt oder verdammt dreist."
"Wieso?" Leigh sah mich ratlos an.
"So wie es aussieht, hat sie viel Blut verloren und er war voll davon. Er wollte einfach nicht so wieder rausgehen. Wenn ihn jemand vom Haus hätte weggehen sehen..."
"So einfach?"
"So einfach."
Wir gingen in den Raum, aus dem der Geruch drang. Fünf Menschen hielten sich dort auf: der Gerichtsmediziner, der Polizeifotograf, Cora Fernandez von der Spurensicherung, sowie meine Schwester Susan und ihr Kollege Adam von der Mordkommission. Sie hatte mich angerufen. Und das Opfer.
Nachdem wir uns begrüßt hatte, sagte Susan: "Wir wurden vor etwa anderthalb Stunden hierher gerufen. Eine Frau läge tot in ihrer Wohnung. Ich habe dich angerufen, als wir die Schnitt- und Brandwunden auf ihrem Körper und die Waffe in ihrer Vagina gesehen haben." Kurz darauf gingen die beiden.
Ich betrachtete die Tote. Laura Bellini war nackt, ihre Beine gespreizt. Sie lag auf einem großen Doppelbett, das einen Großteil des Raumes einnahm. Das Kopfende war voller Blut.
An den Fenstern, auf dem Nachtkästchen, sogar an der Decke und an der halb geschlossenen Tür des begehbaren Wandschrank links vom Bett waren Blutspritzer. Das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte, war blutgetränkt.
Sie hatte eine tiefe Halswunde. Das Blut war wie aus einem Springbrunnen daraus herausgespritzt. Sie war prämortem zugefügt worden. Dem Blutverlust nach zu urteilen, waren die Halsschlagadern durchtrennt worden und das ist in jedem Fall tödlich.
Um ihre Mundregion herum sah ich Verätzungen, Erbrochenes. Ihr Gesichtsausdruck war völlig leer; ein Effekt der allgemeinen Muskelerschlaffung nach Todeseintritt wie auch die Exkremente und der Urin, die abgegangen waren und gelbbraune Ablegerungen auf der Überdecke hinterlassen hatten. Letzteres kann natürlich auch bei extremer Angst oder unter Folter passieren. Beides schien hier durchaus vorzuliegen.
An Händen und Unterarmen, Brust und Unterleib und den Oberschenkeln sah ich frische Schnitt- und Stichwunden. Solche Wunden sind ein starkes Indiz für sexuellen Sadismus.
Leigh zog scharf die Luft ein, als sie den Revolver zwischen ihren Beinen stecken sah.
Die Gesichtsfarbe des Polizeifotografen wechselte von blass zu einem ungesunden Grün, als er den Revolver sah.
"Wag' es nicht, meinen Tatort vollzureihern, Dean!", sagte Cora drohend.
"Nein", murmelte der Polizeifotograf. "Das Beste hebe ich mir immer bis zum Feierabend auf."
"Willst du rausgehen? Ich kann die restlichen Fotos machen."
Er schluckte ein paarmal und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich etwas.
"Nein, es geht schon. Nur lass uns schnell machen, ja? So schnell es geht."
"Gabe, was hast du?", fragte ich den Gerichtsmediziner.
"Die Totenstarre ist vollständig ausgeprägt und die Leichenflecken lassen sich nicht mehr wegdrücken. Die Körpertemperatur hat sich der Raumtemperatur angeglichen. Sie liegt seit mindestens zwanzig Stunden hier."
Ich sah auf meine Uhr. "Dann wäre sie um Mitternacht herum gestorben."
"Plus/minus ein, zwei Stunden. Todesursache war der Schnitt am Hals. Beide Schlagadern wurden durchtrennt. Das hätte sie nicht überleben können."
"Ich habe ein blutverschmiertes Steakmesser gefunden." Cora hob einen Asservatenbeutel hoch. "Das ist wahrscheinlich die Tatwaffe. In der Küche steht ein Messerblock und-"
"... eins fehlt", beendete ich ihren Satz.
Sie nickte und wandte sich dann dem Revolver zu. Dean machte mehrere Fotos, dann zog sie ihn langsam aus der Vagina der Toten. Mit einem widerlich schlüpfrigen Geräusch rutschte er heraus. Sie packte ihn in einen Asservatenbeutel, den sie sorgfältig beschriftete.
"Der Schnitt am Hals wurde von rechts unten nach links oben ausgeführt", fuhr Gabe fort. "Der Täter muss auf ihr gesessen haben, als er ihn machte. Darauf weisen auch Prellungen an den Rippen hin. Er ist vermutlich Linkshänder. Ich habe ferner Stauungsblutungen in ihren Augenbindehäuten gefunden. Sie wurde vor ihrem Tod gewürgt."
"Da ist ein Muster", unterbrach ihn Leigh.
"Was meinst du?", fragte ich.
"Die Schnitte und Stiche auf Brust und Bauch..."
Jetzt sah ich es auch. Gabriel und Cora ebenfalls. Man brauchte viel Fantasie, um es in
dem scheinbar willkürlichen Muster zu sehen...
"Hure. Das war eindeutig persönlich. Niemand würde sich die Mühe machen, jemanden auf diese Art zu töten, wenn er ihn nicht kennen und hassen würde."
"Widerlich", murmelte Dean fassungslos.
"Die Schnittwunden an ihren Händen und Unterarmen sind Abwehrverletzungen?", fragte sie Gabe.
"Ja, aktive wie passive. Die Schnitte an ihren Händen zeigen mir, dass sie mindestens einmal versucht hat, das Messer an sich zu bringen; die Schnitte an ihren Armen, dass sie sie erhoben hatte, um ihren Körper zu schützen als er sie mit dem Messer angriff."
"Quälerei", sagte ich. "Purer Spaß am Quälen. Er wollte ihr vor ihrem Tod ein Maximum an Schmerzen zufügen. Ich glaube auch, dass er sie nicht erwürgt und dann den Schnitt am Hals gesetzt hat, sondern dass sie bei vollem Bewusstsein war. Es braucht drei bis fünf Minuten und konstanten Druck auf den Hals, bis man jemanden zu Tode gewürgt hat. Außerdem schlägt das Herz danach noch eine Zeitlang weiter, bis es aussetzt. Und ihr Herz hat noch geschlagen, sonst wäre das Blut nicht so gespritzt. Nein, er wollte, dass sie wusste, dass sie sterben muss. Er wollte, dass sie es miterlebte. Und ihre Position? Er hat sie regelrecht zur Schau gestellt. Viele Täter lassen die Toten einfach liegen, wenn sie mit ihnen fertig sind oder decken sie sogar hinterher zu. Er hat sie für uns so präsentiert, hat uns, aus welchem Grund auch immer, den Fehdenhandschuh hingeworfen. Schaut her, ihr konntet nichts dagegen tun."
Ich sah in die Runde. Die anderen sahen mich angewidert an.
"Seht mich nicht so an. ICH habe sie nicht umgebracht. Er hat sie außerdem fast enthauptet. Overkill. Extreme Wut. Er war voller Blut. Man braucht eine Riesenkraft, um jemandem so eine Wunde zu verpassen. Und seht ihr diese Narben?" Brandnarben, Schnitte, Stiche, nie ganz verschwunden. Sie legten Zeugnis über eine gewalttätige Vergangenheit ab. "Sie muss einmal in einem mit einem gewalttätigen Mann zusammen gewesen sein. Ich nehme nicht an, dass sie sich diese Wunden freiwillig hat zufügen lassen."
"Du nimmst richtig an", sagte Leigh leise.
Überrascht sah ich sie an, doch sie hatte sich schon Cora zugewendet. Woher wollte sie das wissen?
Cora sagte in die Stille hinein: "Sarge? Ich habe Spermaspuren auf ihrem Gesicht gefunden und Abstriche von Mund, Vagina und Anus gemacht, abgebrochene Fingernägel und -schmutz gesichert und ihr Schamhaar ausgekämmt."
Erniedrigung und Demütigung, Hass und Wut... sexualisierte Gewalt.
Gabe wandte sich an Cora: "Bist du soweit fertig? Sie wird nicht besser, wenn sie noch länger hier liegt."
"Ja, von mir aus kannst du die Jungs holen."
"Die Jungs" waren Tyrone Becket und Hector Sanchez, beide Pathologie-Assistenten.
In diesem Moment kam ein triumphierendes "Ja !" aus dem begehbaren Kleiderschrank.
Leigh und ich fuhren zusammen. Cora, Dean und Gabe zuckten nicht mal mit der Wimper. Linda Seger unterbrach ihre Arbeit im Bad und kam herüber.
"Hast du was gefunden, Archie?", fragte Cora.
"Jaaa... Ich hab den Jackpot geknackt! Komm her, Dean. Das ist wirklich toll."
"Wenn es eine Leiche ist, kotze ich!"
"Nein, es ist noch viiiiel besser."
Ein großer, schlaksiger junger Mann mit dunklen Haaren und Augen kam aus dem Schrank. An der Innenseite der Tür, in Höhe des Griffes, waren fünf wunderschöne Fingerabdrücke.
"Sie werden uns nicht weiterbringen."
Alle Köpfe fuhren zu mir herum.
"Warum?", fragte Leigh. "Wenn er irgendwo bei einer Bank oder einer staatlichen Behörde registriert ist, haben wir eine gute Chance, ihn zu identifizieren. Es wird zwar Monate dauern, all diese Abdrücke mit denen da zu vergleichen, aber irgendwann haben wir ihn."
Jeder staatliche Beamte musste zu Identifikationszwecken seine Fingerabdrücken abgeben.
"Er weiß genauso gut wie wir, dass wir ihn irgendwann haben. Das war, glaube ich, auch gar nicht ausschlaggebend für seine Entscheidung, sie zu hinterlassen. Was er getan hat, dient vermutlich einzig dem Zweck, uns auf der Nase herumzutanzen. Es hilft uns womöglich sogar, ihn zu fassen, denn er brauchte das nicht zu tun, um die Tat zu begehen, ganz im Gegenteil. Wenn er jedoch nicht von hier stammt und diese Möglichkeit sollten wir auch nicht außer Acht lassen, wäre er auch nicht hier registriert und würde ergo auch nicht erwischt, wenn er seine Fingerabdrücke hinterlässt. Kalkuliertes Risiko."
"Du hörst dich manchmal an, als hättest du in einem früheren Leben selbst ein Verbrechen begangen."
Wie Recht du hast, dachte ich. Ich wusste auch, dass ich es ihr irgendwann sagen musste. "Ich habe von den besten gelernt", sagte ich laut.
Und die "Besten" sind nun mal die Täter... Es gibt keine besseren Lehrer, wenn man kriminelles Verhalten studieren will. Ob man es auch versteht, ist eine andere Sache.
Archie hockte sich hin und hob eine behandschuhte Hand zu den Abdrücken.
"Der Typ hockte da drin und ist rausgesprungen wie ein Schachtelteufel, als sie die Tür öffnete." Er war äußerst zufrieden.
Dean machte mehrere Aufnahmen von den Abdrücken.
Kurz darauf kam Gabe mit seinen beiden Assistenten zurück; einem riesigen Schwarzen mit einem Faible für ausgefallenen Ohrschmuck und einem kleinen, kräftig gebauten Mexikaner. Beide trugen Schutzkleidung und Handschuhe. Während Ty den Leichensack ausbreitete und öffnete, sah Hector die tote Frau an und bekreuzigte sich. Dann hoben sie sie vorsichtig vom Bett in den Leichensack und trugen sie weg.
Gabriel verabschiedete sich ebenfalls. "Die Autopsie findet morgen früh um neun statt. Wenn ihr dabei sein wollt, seid pünktlich."
Scavo und ich wollten nicht, doch es war unser Job. Ich dachte an Rafael. Ich musste ihm sagen, was seiner Kollegin widerfahren war.
22.09 h
Leigh und ich verabschiedeten uns von den anderen. Die Spurensicherung würde noch länger dauern. Wir würden aufs Revier fahren und mit dem Papierkram anfangen. Doch zuerst wartete Wichtigeres auf mich. Mein älterer Bruder.
Als wir das Haus der Shepards verließen, hielten zwei groß gewachsene Cops einen noch größeren Mann fest, während Randy auf ihn einsprach. Der Mann hatte dunkle Haare und Augen, trug einen dunklen Anzug und war noch ein bisschen größer als ich. Zwei Meter. Er war es, den ich auf dem Bild auf Lauras Schreibtisch gesehen hatte.
"Scavo, sei so gut: Fahr allein ins Büro und fang schon mal mit dem Papierkram an. Ich werde mit Rafe reden."
"Okay. Aber ich hab kein Auto."
Ich nahm einen jungen Cop zur Seite. "Würden Sie Inspector Scavo zum Revier in der Eddy Street fahren, Officer? Danke. Bis später", sagte ich zu ihr und ging dann zu meinem Bruder.