Kapitel 1: Zwischen Himmel und Erde

Najitzabeth

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11 Jahre später:

Eingepfercht zwischen Himmel und Erde, das war sie. Sie gehörte weder zu den Menschen der Erde noch zu den Fluglern des Himmels, irgendetwas dazwischen war sie. Ihr Blick richtete sich zum Fenster hinaus. Nur einen schmalen Streifen Blau konnte man erkennen, der Rest war von den Häusern gegenüber dem Schulgebäude verdeckt.
Marinas Gedanken drehten sich im Kreis, immer wieder versuchte sie herauszufinden, ob es für sie überhaupt Sinn machte, noch weiter zur Schule zu gehen, denn wenn der Zeitpunkt da war, und sie endlich ihre wahre Gestalt annahm, wäre dieses menschliche Wissen für sie überflüssig. Doch, und das war ein Problem, wann wird dieser Zeitpunkt sein? Es könnte morgen sein, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und freudige Erwartung ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch fliegen, oder aber auch erst in hundert Jahren. Das Lächeln verschwand. Marina seufzte und lenkte ihre sprunghaften Gedanken wieder auf den Unterricht. Es ging um den dreißigjährigen Krieg. Der Lehrer versuchte gerade, wild gestikulierend, achtundzwanzig desinteressierten Teenagern klarzumachen, wie das Leben der Menschen damals war. Er erzählte etwas von Soldaten, die in Dörfer einfielen, um den Einheimischen ihre wenigen Vorräte zu stehlen.
Wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie guckte schnell über die Schulter, zu dem Jungen neben ihr. Er starrte auf sein Heft, dann, als habe er sie bemerkt, schaute er in ihre Richtung. Schnell wandte sie den Blick ab und schaute auf die Tischplatte. Ihre langen braunen Haare fielen wie ein Vorhang vor ihr Gesicht, sodass niemand sah, dass es puterrot anlief. Eine ganz andere Art von Schmetterlingen tummelte sich plötzlich in ihrem Bauch. Einen Moment gönnte sie sich die Vorstellung, er habe wirklich sie angesehen, und nicht einfach einen Blick aus dem Fenster geworfen. Die Schmetterlinge flatterten wilder und sie genoss das Gefühl der Wärme und das Prickeln auf der Haut, als ihre Vorstellung Marina daran erinnerte, was außer einem Blick dann vielleicht noch möglich wäre.
Aber es war nicht möglich. Er hat nicht mich angesehen.
Das dachte sie einige Male hintereinander, um diese Fantasie aus dem Kopf zu bekommen. Sie war schließlich unsichtbar, nicht im magischen Sinne unsichtbar, aber die Menschen in ihrer Gegenwart ignorierten sie. Als würde Marina Wiesenbauer gar nicht existieren. Manchmal rempelten andere sie an und merkten erst dann, dass da noch jemand war. Marina war ein menschliches Chamäleon, sie duckte sich geschickt unter der Aufmerksamkeit fremder Leute weg. Manchmal, vorwiegend in der Schule, eine sehr nützliche Eigenschaft. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal aufgerufen worden war. Im Privatleben allerdings, besonders was die Jungs anging, war ihr spezielles Talent eher kontraproduktiv. Wie sollte sie denn jemals einer mögen, wenn sie von keinem bemerkt wurde?
Marina sah zur Uhr über der Tür. Noch fünf Minuten, dann begannen die Sommerferien und sie musste sich mit diesem Problem sechs wundervolle Wochen lang nicht mehr beschäftigen.
Um sie herum, fingen die anderen Schüler schon an, ihre Sachen zu packen. Es wurde unruhig in der Klasse und dem Lehrer entging das nicht. Er mahnte die Klasse zur Ruhe und machte leere Drohungen über das Nachsitzen während der Ferien.
Noch eine Minute.
Der Lehrer wünschte ihnen schöne Ferien und gab den Schülern noch den Rat, den Stoff der Unterrichtsstunde bis zum nächsten Schuljahr zu wiederholen. Vielleicht würde er das ausfragen. Dann, endlich, läutet es. Ein schriller, reißender Ton. Stühle kratzten über den Boden. Die Gespräche wurden lauter, jetzt wo man sich nicht mehr zurückhalten brauchte.
Manche stürmten auch ohne ein Wort aus dem Raum.
Marina hatte noch nicht einmal ihr Federmäppchen eingepackt, da war sie schon die Letzte im Klassenzimmer. Der Lehrer stand an der Tür, den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, und wartete darauf, dass auch sie endlich fertig wurde. Zumindest hatte er sie nicht aus Versehen eingeschlossen. Marina unterdrückte ein Kichern. Das wäre nicht das erste Mal. Zum Glück lag das Klassenzimmer im Erdgeschoss.
Keuchend warf sie sich den schweren Rucksack auf den Rücken.
„Schöne Ferien!“, rief sie dem Lehrer noch im Vorbeigehen zu und verließ mit großen Schritten und einem erleichterten Gefühl das Gebäude. Wieder ein Jahr geschafft.
Aus ihrer Hosentasche zog Marina die Kopfhörer ihres MP3-Players und schob sie sich in die Ohren. Ein Knopfdruck und die fließenden Klänge und klagende Stimmen ihrer Lieblingsband berauschten sie. Das Stück, das sie hörte, war melancholisch, wie ihre Stimmung. Der Sänger klagte mit hoher Stimme sein Leid, begleitet von den schnell wechselnden Melodien aus Bass und Gitarre, den Rhythmus seiner Klage vom Schlagzeug vorgegeben. Hin und wieder wechselte die Band von der Gitarre zum Klavier und helle glockenartige Töne klangen in ihren Ohren. Sie hatte das Bedürfnis mit ihm zu singen, ihren eigenen Jammer mit seinem zu verbinden, doch die Gefahr, das es jemand anderes hören könnte, war ihr zu groß und so ließ sie es lieber bleiben. In ihrer Fantasie stand sie mit der Band auf der Bühne. Ihre Stimme verband sich mit der des Sängers, als wären sie dafür bestimmt, dieses Lied gemeinsam zu singen, und die Massen zu ihren Füßen tobten. Marinas Laune besserte sich ein wenig, wie immer, wenn sie der Schule den Rücken kehrte.
Jetzt nur noch sechs Haltestellen mit der kreischenden Meute und dann bin ich endlich in den Ferien!
Der Gedanke an die Busfahrt gab ihrer Vorfreude noch einen kleinen Dämpfer, aber es war das letzte Mal für dieses Schuljahr. Das würde sie auch noch überleben.
An der Bushaltestelle standen schon mindestens zwanzig Fünftklässler, und einige aus höheren Jahrgängen. Der Geräuschpegel war so groß, dass sie ihre Musik lauter stellen musste um den Gesang noch verstehen zu können. Jetzt würde auch jemand, der neben ihr stand, mitbekommen, was sie sich anhörte. Das war ihr heute egal. Sollten sie doch die schmachtenden Worte hören, die von einer vergeblichen Liebe erzählten.
Vor ihr klaute ein Junge einem Mädchen die Schultasche, die sie auf den Boden gestellt hatte, und die Beiden begannen eine wilde Verfolgungsjagd. Marina trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.
Sie sah zum Himmel, die Sonne brannte auf sie herab. Gnadenlos stach sie auf ihre helle Haut. Vielleicht sollte sie lieber ihre Jacke überziehen um keinen Sonnenbrand zu bekommen, doch eigentlich war es viel zu heiß dafür. Marina wog das Für und Wieder ab, als der Bus kam.
Zuerst bemerkten es die Fünftklässler, und alle rannten nach vorne an die Straße, um ja einen Sitzplatz zu bekommen. Sie machte sich überhaupt keine Hoffnungen, auch einen zu erhaschen und blieb absichtlich zurück. Als sie durch die Tür trat, zeigte sie ihren Fahrschein hoch, doch Marina bezweifelte, das der Fahrer sie beachtete. Sie schob sich durch die Massen von lauten und pöbelnden Kindern bis sie bei der Hälfte des Busses angelangt war. Hier hielt sie sich an einer Stange fest. So konnte sie es bis zu Hause aushalten. Der Geruch von frischer Leberkäs-Semmel, in die jemand neben ihr grade herzhaft hinein biss, und einer Menge schwitzender Leiber stach ihr in die Nase. Mit dem Bus zu fahren war grausam, bis auf eine Kleinigkeit. Marina sah sich um. Hier irgendwo musste er auch stehen. Der Junge, der jeden Tag neben ihr in der Schule saß und auch seit einem Jahr mit demselben Bus wie sie fuhr. Sie erspähte ihn weiter hinten im Bus und neben ihm war der Platz nur von seinem Rucksack besetzt. Er drohte gerade einem Jungen mit der Faust, der sich auf den Sitz nieder lassen wollte. Marina überlegte, ob sie sich bis zu ihm durchschieben sollte, um sich zu ihm zu setzten, aber dazu müsste sie etwas sagen, und ihr fiel beim besten Willen nichts Cooles, Schlagfertiges ein. Es war sogar fraglich, ob sie ihm gegenüber überhaupt ein verständliches Wort herausbringen würde. Vielleicht wollte er ja alleine sitzen. Bevor sie den Blick wieder abwandte drehte er den Kopf und sah zu ihr. Marinas Herz setzte einen Schlag aus und sie fühlte, wie ihr Gesicht schon wieder rot anlief. Sie wollte ganz schnell wegsehen, doch er hob die Hand und winkte sie zu sich. Marina konnte nicht ganz glauben, was sie eben gesehen hatte. Meinte er wirklich sie? Sie sah hinter sich. Da waren nur Kinder, die sich, zum Spaß, gegenseitig schubsten. Er winkte noch mal. Sie schluckte und drückte sich bis zu ihm durch. Der Junge, Markus hieß er, hob seine Tasche weg und Marina setzte sich, bevor ihr Gehirn den Befehl zur Flucht an ihre Beine weiterleiten konnte.
„Hi!“, sagte er. Seine Stimme war weder tief noch hoch. Manchmal beides gleichzeitig. Er war mitten im Stimmbruch. „Was hörst du?“
In seiner Gegenwart roch es nach einem eigentümlichen, herben Parfüm. Vielleicht Rasierwasser? Wobei sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er sich schon rasierte, bei seiner glatten Gesichtshaut. Er sah sie mit großen braunen Augen an und wartete auf eine Antwort.
Marina konnte immer noch nicht so recht glauben, dass er mit ihr redete. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten Tango.
„Was?“ Ihre Stimme schien von ganz weit weg zu kommen und sie musste noch einmal schlucken, um das quiekende Etwas, das aus ihrem Mund kam, in den Griff zu bekommen, bevor sie weiter sprach: „Ach so! Das ist meine Lieblingsband.“ Sie reichte ihm einen Ohrstöpsel und spürte, dass ihr Gesicht noch röter wurde, obwohl sie gedacht hatte, dass es gar keine Steigerung mehr gäbe.
Er nahm ihr den Stöpsel aus der Hand. Ihre Finger berührten sich kurz und ihr Magen schlug Purzelbaum. Sie zog die Hand ganz schnell zurück, doch er hatte den Kopfhörer schon im Ohr.
„Wow, die kenn ich!“ Er grinste und schlug mit der Hand den Takt auf seinem Schenkel mit.
„Ich mag das neue Album.“ Sein Lächeln wurde sanfter und er sah in ihre Richtung. Marina musste sich zwingen den Mund wieder zu schließen und nicht zu gucken wie ein Vollidiot. Dieses Lächeln war einfach… unglaublich schön. Sie sammelte ihr Gesicht wieder ein und schluckte schon wieder.
Reiß dich zusammen!
„Ich mag es auch.“, sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen und wischte ihre schwitzigen Hände an der Jeans ab.
„Marina…“, den Rest des Satzes verstand sie nicht. Ihr Herz hüpfte heftiger.
Er kennt meinen Namen! Er weiß tatsächlich wie ich heiße!
Mit einem Puls, der einen Herzkranken sicherlich umgebracht hätte, registrierte sie, dass er sie schon wieder ansprach.
„Marina, hörst du mir zu?“ Sein Lächeln war verschwunden. „Ich muss hier aussteigen!“
„Oh!“, sie stand schnell auf, und wäre beinahe über einen Fünftklässler gefallen, konnte sich aber im letzten Moment noch abfangen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass der Bus angehalten hatte.
„Danke!“, sagte er: „Du bist echt komisch.“ Markus schüttelte den Kopf.
Als er schon an ihr vorbei war sah er sich noch mal um: „Schöne Ferien!“
„Dir auch.“, brachte sie gerade noch heraus, als sich schon ein dickes Kind an ihr vorbei schob und sich auf den Platz setzte, an dem gerade eben noch ihr Schwarm gesessen hatte.
Dann schloss sich die Tür des Busses wieder und er verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Schmetterlinge tanzten immer noch, als sie sich wieder auf ihren Platz setzte. Die restliche Fahrt verbrachte sie mit ihrer Fantasie und einem Song über Schwarze Löcher.

Endlos lange, so erschien es ihr, dauerte die Fahrt in dem stinkenden und völlig überfüllten Bus noch, bis sie aussteigen konnte.
Marina atmete tief ein und aus, als sich die Schiebetüren hinter ihr schlossen. Es war früher Nachmittag und die Sonne schien unablässig auf sie herunter. Sie musste die Straßenseite wechseln, um im Schatten zu sein. Mit großen Schritten nahm sie den restlichen Heimweg in Angriff. Die fünfzehn Minuten Fußmarsch wurden ihr versüßt durch weitere Lieder über Liebe und Leiden und den Gedanken an Markus´ Lächeln. Sechs Wochen, bis sie ihn wieder sehen würde…
Nachdem sie die große, vierspurige Straße überquert hatte, konnte sie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester lebte, erkennen. Es war ein quadratischer Wohnblock, fünf Stockwerke hoch, in einer Reihe aus vier beinahe völlig identischen Blöcken, die sich nur in der Farbe ihrer Balkone voneinander unterschieden. Blau, rot, grün und gelb. Im Vorbeigehen grüßte sie einen Nachbarn mit einem Nicken, der sie jedoch gar nicht wahrnahm und stur geradeaus an ihr vorbei lief. Marina bog von der Straße ab und ging den schmalen Weg zu dem Haus mit den grünen Balkonen. Sie suchte dabei den Schlüssel in ihrer Tasche. Bis sie ihn endlich, ganz unten, gefunden hatte, stand sie auch schon vor der Eingangstür.
Sei schloss auf. Die Tür quietschte beim Öffnen. Marina rannte die paar Stufen zur Wohnung hinauf. Der Hausgang roch nach dem kaltem Rauch einer Zigarette, also hatte wieder irgendjemand verbotener Weise im Flur gepafft. Ihre Mutter würde sich darüber sicher aufregen, wenn sie nach Hause kam.
In der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung war es angenehm kühl. Marinas Mom zog, bevor sie in die Arbeit ging, immer die Jalousien in jedem Raum halb herunter, damit die Sonne im Laufe des Tages nicht ihre Hitze herein trug. Marina warf ihre Schultasche in eine Ecke, wo sie die Zeit der Ferien wohl unberührt verbringen würde, und ging in die Küche. Einen Raum mit hellen, zweckmäßigen Möbeln und einen kleinen viereckigen Tisch, an dem, an jeder Seite, ein Stuhl stand. Ein paar grüne Pflanzen standen am Fensterbrett, als einziger Farbtupfer.
Als erstes zog sie das Fenster auf, es lag nach Osten, die Sonne war schon lange weg. Marina mochte keine halb-dunklen Räume. Entweder ganz hell oder ganz dunkel sollte es sein, nichts dazwischen. Dann zog sie ihren Player aus der Tasche, schaltete ihn aus und hing ihn an das Ladekabel. Der Akku musste übermorgen voll sein, wenn es, wie jedes Jahr, nach Italien in den Urlaub ging. Ans Meer.
Sie trat zum Kühlschrank und öffnete ihn, die Tür machte ein schmatzendes Geräusch und die Kälte biss angenehm in ihr Gesicht. Einen Moment überlegte sie, was ihr jetzt schmecken würde, dann griff sie sich eine Banane und einen Joghurt mit Schokostücken. Noch schnell einen Löffel aus der Schublade gefischt und schon machte sie sich auf, die nächsten zwei Stunden, bis ihre Mutter kam, zu genießen.
Endlich allein. Endlich hatte sie Frieden von der Welt.
Marina setzte sich ins Wohnzimmer und schälte die Banane. Es war so ruhig, einfach herrlich.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, da begann über ihr ein dröhnender, scheinbar vibrierender Ton. Ihre Nachbarn konnten wohl keinen Tag ohne ihre Bohrmaschine auskommen. Sie verzog das Gesicht und schaute böse zur weißen Decke über ihr, als wüssten diese Leute, dass sie jetzt ihre Ruhe haben wollte. Es kam ihr vor, als wollten sie, sie nur ärgern. Sie biss wütend in ihre Banane. Marina fragte sich, ob es in der Wohnung über ihnen überhaupt noch Platz in den Wänden für neue Löcher gab.
Vielleicht bohren sie mittlerweile ja in den Boden, das würde zumindest erklären, warum es so arg laut ist…
Das Geräusch setzte aus, und als sie gerade den Deckel ihres Joghurts aufzog fing es von vorne an. Den ganzen Nachmittag würde das jetzt so gehen. Marina stöhnte und schaltete den Fernseher an. Als sie beim Musiksender angelangt war, es lief ein Bericht über das unverschämt große Anwesen irgendeines Rockstars, drehte sie die Lautstärke voll auf. Zumindest konnte sie sich so aussuchen, was ihre Ohren dröhnen ließ. Aus war es mit der Ruhe.

Pünktlich um halb fünf bemerkte Marina, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür umdrehte. Ihre Mutter kam herein und schloss die Tür hinter sich. Wie jeden Tag hörte sie das Rascheln einer Jacke, die auf einen Kleiderbügel geschoben wurde, und das metallische Klingen, als ihre Mutter den Bügel wieder an die Garderobe hängte.
Jetzt stellt sie ihre Schuhe genau parallel zu meinen hingeworfenen, ordnet beide Paare genauso und stellt ihre Handtasche ab. Danach schaut sie zu mir und sagt: „Hallo, Marina… Mach bitte den Fernseher leiser!“
„Hallo Marina, mach doch bitte den Fernseher leise. Das hält doch keiner aus.“ Der rundliche Kopf ihrer Mutter schaute herein. Ihre Haare waren kurz, bis zu den Ohren, und immer ordentlich nach innen geföhnt.
„Hast du beim nach Hause kommen auch gerochen, wie das Treppenhaus stinkt?“, sie kam ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihren Sessel.
„Ja, Mom.“
Marina nahm die Fernbedienung und schaltete ganz aus. Es lief sowieso nur Blödsinn um diese Uhrzeit. Hirnlose Gerichtssendungen und Talkshows, das Schicksal von Menschen, die damit unbedingt die ganze Welt belästigen wollten. Dumme kleine Probleme von dummen Menschen. Auch auf den Musiksendern brachte sie entweder Musik, die sie nicht mochte, oder irgendwelche Kuppel-Shows.
Irgendwann würde sie das alles hinter sich lassen. Wenn es nur endlich so weit wäre!
„Hast du deine Sachen für Sonntag schon gepackt?“, die Stimme ihrer Mutter klang ein wenig vorwurfsvoll, so als kenne sie die Antwort schon.
„Nein…“, Marina suchte nach einer guten Begründung, und ihr fiel tatsächlich eine ein: „Mein Koffer ist im Keller und den Kellerschlüssel hast du!“
„Achso.“ Ihre Mutter sah sie mit einem unergründlichen Blick an: „Und wie war die Schule heute?“
Marina hasste diese Frage und sie gab dieselbe Antwort wie schon seit Jahren: „Wie immer…“
Bevor ihre Mutter noch weiter bohren konnte, ergriff sie die Flucht: „Ich hol dann mal meinen Koffer und fang an zu packen!“ Sie sprang von der Couch auf und rannte förmlich in den Gang. Auf dem Tischen neben der Tür lag der Schlüssel. Sie griff ihn sich und war auch schon zur Tür hinaus, bevor irgendwelche weiteren Fragen gestellt wurden.
Im Keller war es kalt, beinahe zu kalt. Marina fröstelte in ihrem T-Shirt und rieb sich die Arme.
Sie sah sich genau die Wände an, bevor sie auf den Lichtschalter drückte, damit sie ja nicht zu nahe an eine Spinne fasste. Allein bei der Vorstellung, wie sie den Schalter betätigte und daneben eine dicke, fette Spinne saß, bekam sie eine Gänsehaut. Sie schauderte.
Ganz hinten, das letzte Abteil, war das ihrer Mom. Marina sperrte auf und suchte einen Moment die vielen voll gestopften Regale ab. Im untersten sah sie ihren etwas mitgenommenen blauen Koffer. Sie zog ihn heraus und klopfte den Staub vom letzten Jahr herunter. Auf den Deckel hatte sie einen Patch mit dem Emblem ihrer Lieblingsband genäht. Sie mochte das alte Teil, auch wenn ihre Mutter stur behauptete, sie solle sich endlich einen neuen Koffer zulegen.
Wieder in der Wohnung verzog sie sich sofort in ihr Zimmer. Der Raum war zweigeteilt, da sie ihn sich mit ihrer kleinen Schwester teilen musste. Der hintere Teil, direkt am Fenster, wurde von ihrem großen Metallbett eingenommen, das war es dann auch schon wieder mit ihrem Bereich. Der Rest wurde von den Spielsachen ihrer Schwester und einem etwas kleineren Bett für sie beschlagnahmt. Sie schaltete die Stereoanlage, die zwischen zwei großen Stofftieren beinahe nicht zu erkennen war, ein. Hier hatte sie eine andere CD eingelegt, als sie auf MP3 hörte, man brauchte schließlich Abwechslung. Die Gitarrenrhythmen waren härter und der Sänger schrie mehr, als das er sang. Die Lieder waren nicht minder mit Emotionen voll gepackt, nur diese waren nicht melancholisch sondern wütend.
Marina legte den Koffer offen auf den Boden. Sie überlegte einen Moment, welche Sachen sie mitnehmen wollte. Sie zog eine Schublade auf. Zuerst schmiss sie einen Stapel Unterwäsche hinein und noch ein Paar einfacher, schwarzer Socken hinterher. Daneben legte sie die Bücher, die sie in diesem Urlaub lesen wollte. Jetzt kam der schwierigste Teil. Was sollte sie anziehen? Zu Hause trug sie die meiste Zeit Jeans und T-Shirt aber im Urlaub war es dafür zu warm. Sie warf einen Blick in den Kleiderschrank. In kurzen Röcken fühlte sie sich nicht wohl. Dafür war sie zu pummelig. Marina war zwar nicht dick, aber etwas mollig. Ihre Mutter würde weiblich dazu sagen. Es war eben nicht leicht sich in einer menschlichen Gestalt schön zu fühlen, wenn man genau wusste, wie man eigentlich aussehen sollte. Schlank und filigran, und nicht rund, wie zusammengestaucht. Auch ihr Gesicht wirkte irgendwie unfertig. Als hätte jemand versucht zwei völlig verschiedene Typen in einem zu verbinden. Das Experiment war wohl nicht gelungen. Ihre Nase nahm zu viel Platz ein und ihre Augen zu wenig. Ihr Mund lag zu weit oben, die Ohren zu weit unten. Sie war nicht hässlich, das konnte sie nicht behaupten, aber sie war eben auch nicht schön.
Marina seufzte und warf zwei kurze Hosen und einen langen Jeans-Rock in den Koffer. Damit würde sie die zehn Tage wohl auskommen müssen. Noch einige Tops, ihr Lieblings-Shirt und einen kurzen Schlafanzug. Sie war beinahe fertig. Im Bad kramte sie sich schnell alle Utensilien zusammen. Recht viel mehr als Shampoo, Deo und ihre Reise-Zahnbürste brauchte sie sowieso nicht.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, fiel ihr eiskalt ein, was sie beinahe vergessen hätte einzupacken. Aus dem hintersten Fach in ihrem Schrank kramte sie einen roten Bikini mit lila Punkten heraus und platzierte ihn bei dem restlichen Zeug. Zum Abschluss legte sie ein großes Strandtuch in den Koffer und verschloss ihn dann. Fertig! Na also, wieder ein Schritt näher am Meer!
Sie konnte es beinahe nicht mehr erwarten. Nur noch etwas mehr als einen Tag und dann würde sie den wunderschönen, unendlichen Ozean wieder sehen. Der salzige Geruch in der Luft und der Sand auf der Haut. Das Geräusch der Wellen in der Brandung… besser als jede Musik.
Es klingelte an der Tür. Marina hörte, wie ihre Mutter zur Tür stapfte. Das war sicher Frau Renner mit den Kleinen. Ihre Nachbarin holte jeden Tag ihre eigene Tochter und Sonja, Marinas kleine Schwester, vom Kindergarten ab. Dafür brachte ihre Mutter die beiden jeden Morgen dort hin.
Sie hörte die hohe Stimme des kleinen Mädchens unablässig plappern, als sich Fr. Renner verabschiedete und eine schöne Reise wünschte. Die Wohnungstür schloss sich wieder. Sonja erzählte von irgendeinem Spiel, das ihnen im Kindergarten beigebracht worden war, als sie zusammen mit ihrer Mutter ins Zimmer kam. Schnell stand Marina auf und schaltete die Musik aus. Ihre Mutter schaute erst die Stereoanlage und dann ihre große Tochter böse an, das Mädchen an der Hand.
„Was?“, blaffte Marina. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter so genervt tat. „Ich darf ja wohl in meinem Zimmer noch hören, was ich will!“
„Also ich weiß wirklich nicht, von wem du das hast!“
„Mir gefällt es eben!“
Ihre kleine Schwester grinste: „Die Musik ist blöd!“
„Du hältst besser mal die Klappe, Hosenscheißer!“ Manchmal konnte sich Marina in der Gegenwart ihrer Schwester, der ewigen Nervensäge, einfach nicht zusammenreißen.
Nun mischte sich auch noch ihre Mutter ein: „Fangt bitte nicht an zu streiten!“ Sie schrie schon wieder fast.
„Keine Sorge… ich muss sowieso lernen!“
„Dann geh bitte in die Küche dazu.“
Mist, warum war ihr keine bessere Ausrede zum alleine sein eingefallen? Marina stampfte ins Zimmer gegenüber und nahm im vorbeigehen ihre Schultasche mit. Jetzt musste sie das dumme Ding doch nach einmal in die Hand nehmen.
Hinter sich machte sie die Tür zu. Ihre Schwester labberte schon wieder irgendwelchen Kinderkram. Am Tisch angekommen steckte sie sich schnell die Kopfhörer des MP3-Players in die Ohren, um nichts mehr hören zu müssen, und packte ihre Schulhefte aus. Jetzt hatte sie wenigstens ihre Ruhe.

Als es Zeit zum Abendessen war, schmierte sie sich im Wohnzimmer nur schnell ein Brot und verzog sich wieder, mit der Begründung, die Hausaufgaben noch nicht fertig zu haben. Ihre Mutter runzelte dazu nur die Stirn und Sonja streckte ihr die Zunge raus.
Marina wartete noch so lange in der Küche, bis ihre Schwester ins Bett musste und ging dann duschen. Sie ließ sich mehr Zeit, als nötig gewesen wäre, und genoss das Gefühl des Wassers, das über ihre Haut lief. Erst als ihre Mutter ungeduldig, da sie auch noch ins Bad wollte, an die Tür klopfte, stieg sie aus der Dusche. Im Schlafanzug und noch mit nassen Haaren überließ sie ihrer Mom den Raum und machte sich auf ins Bett. Leise, um nur ja nicht die Nervensäge zu wecken, öffnete sie die Tür und schlich zu ihrem Bett. Der Mond strahlte ins Zimmer und erhellte ihr den Weg. Sie kletterte hinein, der Lattenrost knarrte, als sie sich hinlegte. Marina machte es sich bequem und zog sich die Decke bis über die Ohren. Sonja atmete gleichmäßig, sie schlief tief und fest. Zum Glück.
In Gedanken ging sie den gesamten Tag noch einmal durch. Bei Markus Lächeln angekommen überkam sie wieder das warme, kribbelnde Gefühl. Er hatte sie tatsächlich angelächelt. Wie schön das Leben doch manchmal sein konnte.
Ohne es zu bemerken sank sie in den Schlaf.
Marina träumte vom Meer und einer Frau in einem weißen Kleid. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich im Traum in die Lüfte erhob. Frei von allen Zwängen.

Am nächsten Morgen wurde sie von einem Rucken auf ihrem Bett geweckt.
„Marina, Marina wach auf!“ Eine quiekende Stimme direkt neben ihrem Ohr.
„Was ist denn, Sonja?“, nuschelte Marina. Sie öffnete ein Auge und schaute auf den Wecker am Fensterbrett. Die Sonne war noch auf der anderen Seite des Gebäudes und so war es einigermaßen dunkel in dem Zimmer der Mädchen.
„Es ist erst halb acht!“
„Mir ist langweilig. Komm, wir spielen irgendwas!“ Das Kind hüpfte wieder auf ihrem Bett auf und ab.
„Geh doch zu Mom. Ich bin zu müde zum Spielen.“
Sonja hörte auf zu hüpfen: „Aber Mama schimpf wieder mit mir, wenn ich sie so früh aufwecke.“ Sie zog eine Schnute.
„Was glaubst du, was ICH gleich mit dir mache?!“ Marina sah ihre kleine Schwester böse an.
Das Mädchen streckte ihr die Zunge raus und lief barfuss und im Nachthemd aus dem Zimmer.
Marina drehte sich auf die andere Seite und stöhnte. Hoffentlich hatte sie jetzt noch ein paar Stunden ihre Ruhe. Minuten später war sie wieder eingeschlafen.

Erst kurz vor Mittag wachte Marina wieder auf. Die Sonne brannte jetzt mit ihrer ganzen Kraft zum Fenster herein und sie zog schnell die Vorhänge vor, bevor es zu heiß wurde. Sie schnupperte. Es roch bereits nach Essen. Marina streckte sich und stand dann auf. Ihre Schwester hatte sie wohl gehört, denn kaum stand sie auf beiden Beinen kam die Nervensäge auch schon hereingestürmt.
„Es gibt gleich ESSSSSEN!“, schrie sie und sprang im Kreis um Marina herum.
„Ja ja, ich komm ja schon.“, sie drehte sich um und schüttelte die Bettdecke, danach das Kissen auf. Sie schnappte sich die Hose von gestern und ein ärmelloses Shirt. Ihre Schwester, die sie beobachtete, ignorierend, zog sie sich an und ging ins Bad.
„Morgen!“, grummelte sie ihrer Mutter zu, als sie an der Küche vorbei ging.
Marina putzte sich schnell die Zähne und fasste ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Bis sie wieder zurück zur Küche kam, stand schon alles auf dem Tisch und ihre Mutter schaufelte jedem eine Portion Nudeln in den Teller. Unter den Augen ihrer Mom lagen dunkle Ringe, sie wirkte, als hätte sie heute Nacht nicht viel geschlafen, was schlecht war, schließlich musste sie in der kommenden Nacht, besser gesagt, in den frühen Morgenstunden, die ganze Strecke nach Italien mit dem Auto fahren. Sonja war wohl wirklich zu ihrer Mutter gegangen, nachdem sie bei Marina erfolglos gewesen war.
Sie setzten sich alle an den Tisch und fingen an, die Nudeln mit Tomatensoße zu essen. Ein kleiner Vorgeschmack auf ihren Urlaub. Die Soße war aromatisch und fast ein wenig zu scharf. Marina nahm einen Schluck Wasser.
„Marina, könntest du bitte nach dem Essen die Küche aufräumen, damit ich noch packen kann?“ Ihre Mutter sah sie an.
„Mach ich, Mom.“ Sie nahm noch eine Gabel voll. Nachdem sie heruntergeschluckt hatte sprach sie weiter: „Kannst du mich danach vielleicht auf den Hof raus fahren?“
Ihre Mutter nickte: „Wenn ich Sonja bei Oma abgeliefert hab fahr ich dich schnell. Ich brauche dringend noch ein paar Stunden Schlaf. Wahrscheinlich kann ich dich aber erst nach dem Abendessen wieder abholen.“ Sie sah sie fragend an.
„Kein Problem, dann brauche ich mich wenigstens nicht so zu beeilen.“
Marina war erleichtert, das sie den Nachmittag auf dem Mühlenhof verbringen konnte. Zusammen mit ihrer besten Freundin Beauty. Einem verfressenen, braunen Islandpferd.
Nachdem die drei mit dem Essen fertig waren, brachte Marinas Mom Sonja ins Bett zum Mittagsschlaf und verzog sich dann in ihr Schlafzimmer, um zu packen. Marina begann damit, die Teller und das Besteck in die Spülmaschine zu räumen und wischte dann den Tisch ab. Sie öffnete das Fenster um ein wenig Sommerluft herein zu lassen. Danach ließ sie Wasser ins Spülbecken und wusch die beiden Töpfe ab. Sie mochte diese Aufgabe, dabei konnte man wunderbar die Gedanken ziehen lassen. Während ihre Hände der monotonen Arbeit nachgingen, stellte sie sich vor, einfach aus dem Fenster zu springen und auf das Dach des anderen Hauses zu fliegen. Oder vielleicht auch über den Fluss hinweg auf den bewaldeten Hügel dahinter. Nur, um sehen zu können, was dahinter lag. Sie stellte sich vor, wie sie immer höher und weiter flog. Den Wind in ihrem Gefieder und auf der Haut, die Sonne im Rücken. Das musste ein fantastisches Gefühl sein.
Marina brachte den Abwasch zu Ende und wischte den Herd und die Arbeitsflächen, als ihre Mutter mit einem dicken Koffer aus ihrem Zimmer kam. Sie war also auch schon mit Sonjas Sachen fertig. Jetzt standen ein kleinerer blauer Koffer und ein großer brauner im Gang und warteten darauf, ins Auto gepackt zu werden.
„Ich bin fertig.“ Marina stand in der Küchentür und trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab.
Ihre Mutter sah sich kritisch in der Küche um. Sie würde später sicher noch einmal nachputzen, weil ihr irgendwas nicht ordentlich genug war.
„Ok, dann mach dich fertig, damit wir fahren können.“
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Aus ihrem Zimmer holte sie den Reithelm und ihre etwas mitgenommenen Handschuhe. Sie schlüpfte in die sauberen Stiefel und war bereit. Marina trug immer eine Jeans zum Reiten. In den speziellen Hosen, mit Lederbesatz im Schritt, fühlte sie sich einfach unwohl.
„Fertig!“, rief sie und legte die Hand an die Stirn, wie ein Soldat.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: „Also wenn es ums Reiten geht, bist du immer schnell wie der Wind!“
Endlose Minuten, musste sie noch warten, bis ihre Schwester sich ein Spielzeug, das sie mit zur Oma nehmen wollte, gesucht und gefunden hatte. Marina trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wollte am liebsten schon zum Auto, aber ihre Mom gab ihr den Schlüssel nicht. Als ihre Mutter endlich die Schuhe anzog und sich ihren Koffer nahm, dachte sie schon, sie müsse platzen.
„Wir nehmen die gleich mit raus. Damit wir das in der Nacht nicht machen brauchen!“
Marina stöhnte, da würden wieder kostbare Minuten vergehen, bis das Gepäck nach den Vorstellungen ihrer Mutter im Kofferraum verstaut war. Ohne etwas zu sagen hievte sie ihr Gepäck hoch und lief hinter ihrer Familie aus der Wohnung zum Auto.
Der rote Kleinwagen stand schon am Straßenrand parat. Ihre Mutter hievte gerade ihren Koffer hinein als Marina kam. So leicht wie gedacht war er doch nicht. Sie hatte auf dem Weg dreimal eine Pause einlegen müssen. Jetzt schwitzte sie wie ein Marathonläufer.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ihre Mutter damit zufrieden war, wie die Koffer im Auto platziert waren. Noch den Sonnenschirm auf die Rückbank, und alles, bis auf ihr Handgepäck, war verstaut. Marina ließ sich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. Ihre Schwester saß schon hinten in ihrem bunt gemusterten Kindersitz.
Ihre Mutter startete den Motor und der Wagen kam ruckend in Fahrt. Siebenundzwanzig Grad zeigte das Thermometer in der Anzeige. Marina kurbelte das Fenster herunter, die stickige Luft war kaum auszuhalten. Der Fahrtwind löste einige Strähnen aus ihrem Zopf, die ihr nun wild ins Gesicht peitschten. Sie schloss die Augen. Sonja sang bei dem Lied, das gerade im Radio lief, mit. Da sie kein Englisch konnte, waren die meisten Worte, die sie benutzte, völlig falsch und entfremdet.
Zehn Minuten Fahrt und sie standen vor dem kleinen Häuschen, in dem ihre Großeltern wohnten. Der Vorgarten war gepflegt und einige Büsche trugen protzige, rosafarbene Blüten. Ihre Mutter sagte Marina, sie solle kurz im Wagen warten. Sie nahm Sonja aus dem Sitz und ging mit ihr an der Hand die Stufen zur Eingangstür hinauf. Eine alte, gebeugte Frau mit silbergrauem Haar öffnete die Tür. Ihre Großmutter winkte Marina kurz zu. Marina winkte zurück. Hoffentlich dauert es nicht zu lang.
Marina bemerkte gar nicht, wie ihre Mutter wieder in das Auto stieg und den Motor anließ.
„Du hast den Kopf schon wieder in den Wolken.“, stellte sie fest, als Marina bei einer Bodenwelle zusammenzuckte. Wenn sie wüsste, wie recht sie damit hat!
Sie fuhren aus der Stadt heraus, eine schmale, kurvenreiche Landstraße entlang. Marina konnte die Pferde schon riechen, sie mochte den Geruch. Für sie bedeutete er Frieden und Ruhe vor den Menschen. Ihre Mutter fand ihn einfach nur ekelhaft. Sie blieb nur kurz am Hof stehen bis Marina ausgestiegen war. Dann drehte sie um und war schon wieder verschwunden. Endlich allein. Marina atmete ganz tief ein und genoss die Sonne in ihrem Gesicht für einen Moment. Der Reithof lag versteckt, zwischen einigen Hügeln, außerhalb der Stadt. Hinter den Ställen und der großzügigen Reithalle breitete sich ein großer Wald voller dunkler Fichten und Tannen aus. Marina fand, dass für Samstagnachmittag recht wenig Betrieb war. Sie konnte nur zwei andere Mädchen mit ihren Pferden erkennen, die sich gerade zu dem Waldweg wendeten, und einen Stallburschen, der eine vollbeladene Schubkarre Heu vor sich her schob.
Sie wandte sich um und rannte Richtung Stall. Das flache Gebäude lag versteckt zwischen einigen hohen Tannen. Die Pferde streckten neugierig die Köpfe aus den Lucken, als sich Marina näherte. Eines der Tiere erkannte sie und wieherte ihr zur Begrüßung entgegen. Beauty trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, als Marina vor ihrer Box stand.
„Ist ja gut, meine Liebe. Ein paar Minuten wirst du noch aushalten müssen, bevor wir los können!“ Sie hatte seit gut zwei Jahren eine Reitbeteiligung an ihrem Liebling. Zweimal in der Woche kam sie her, um mit ihr Ausreiten zu gehen.
Eine Hand legte sie auf die warme Nase des Tieres und Beauty beruhigte sich ein wenig. Als das Pferd schnaubte trat Marina zurück: „Ich hol nur noch schnell dein Zeug!“, rief sie der braunen Stute zu und ging zu der Kammer am Ende der Stallungen. Marina öffnete die knarrende Tür. Drinnen war es stickig und sie konnte Unmengen von Staub erkennen, der durch den Lichtstrahl, den sie mit hinein brachte, sichtbar wurde. Hier drinnen roch es etwas feucht und nach Leder.
Marina suchte sich aus einer großen Kiste am Boden einen Striegel und den Hufkratzer.
Zurück bei Beauty ging sie in die Box und begann ihr Fell durchzubürsten. Da das Wetter seit einigen Tagen schon gut war, gab es nicht allzu viel zu dabei zu tun. Einige Strohhalme zupfte sie aus der dichten Mähne des stämmigen Kleinpferdes und an der Stelle, an der der Sattelgurt lag, versuchte sie, soviel Staub wie möglich zu entfernen. Aus den Hufen kratzte sie einige Steinchen und Dreck, der sich fest getreten hatte. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, brachte Marina die Putzutensilien wieder zurück und nahm aus derselben Kammer den Sattel und das Zaumzeug mit.
Beauty stand ganz still, als Marina ihr den Sattel an die richtige Stelle ihres Rückens schob. Beim Aufzäumen brauchte Marina etwas Überredungskunst, da die Stute den Kopf immer wieder hochwarf, aber beim dritten Versuch klappte es schließlich.
„Stell dir vor“, erzählte Marina dem Pferd, während sie es aus der Box führte: „Markus hat mich gestern im Bus angelächelt! Kannst du das glauben?“ Beauty schüttelte, wie um ihr eine Antwort zu geben, den Kopf. „Ja, du hast Recht. Ich glaube es eigentlich auch nicht.“
An dem Waldweg angekommen stieg sie auf. Marina brachte die Steigbügel in die richtige Länge und setzte sich gerade auf. Mit einem leichten Druck ihrer Schenkel gegen den Pferdebauch, gab sie Beauty das Zeichen zum Schritt. Gemächlich lief die Stute los. Ein wenig zu gemächlich. Marina stupste sie noch einmal mit den Beinen an und schob die Hüfte gleichzeitig vor. Beauty fiel in einen flotteren Schritt. Das Mädchen passte sich den Bewegungen des Pferdes an und lies die Zügel ein wenig aus der Hand gleiten. Die erste Zeit behielten sie dieses Tempo bei, damit sich Beauty in Ruhe aufwärmen konnte. Der Waldweg war breit genug, damit zwei Pferde nebeneinander gehen konnten und führte schnurgerade zwischen den Bäumen hindurch. Das Licht war hier wie ein allgegenwärtiger grüner Schimmer. Die Luft roch feucht und frisch, im Schatten des Waldes war die Hitze leichter zu ertragen. Jeder Tritt des Pferdes war ein dumpfer Schlag auf dem moosigen Boden. Hin und wieder raschelte es zwischen einigen Blättern, ansonsten war es vollkommen still. Nach einer Weile nahm Marina die Zügel auf und machte sich etwas schwerer. Sie verkürzte die Schritte des Pferdes und schob es mit der Hüfte in den Tölt, einer speziellen Gangart der Isländer. Sie saß völlig ruhig auf Beauty während sie im flotten Tempo den geebneten Weg entlang ritt. Der Gegenwind kühlte beide etwas ab, der Schweiß auf Marinas Haut trocknete. Sie behielten den Gang für einige hundert Meter bei, dann bremste Marina ab. Dort vorne war ein schmaler Pfad, der tiefer in den Wald hineinführte. Das war ihre liebste Strecke. Sie war dort noch nie anderen Reitern begegnet und die Strecke eignete sich hervorragend zum Galoppieren. Der Weg war gerade Mal breit genug für die Beiden. Hier und da streifte ein Busch an Marinas Beinen entlang. Einige Kurven und eine sanfte Steigung würden sie auf eine idyllische kleine Lichtung führen. Dort konnten sie dann gemeinsam den Nachmittag genießen.
„Bist du bereit zu fliegen?“, fragte sie die Stute und tätschelte ihren Hals. Marina lenkte Beauty auf den schmalen Weg, der Wald hatte sie sogleich verschluckt und vom Hauptweg aus waren sie nicht mehr zu sehen. Sie verlagerte ihr Gewicht nach hinten und gab dem Pferd die Schenkelhilfe zum Galopp. Sofort sprang Beauty los, als habe sie nur darauf gewartet, endlich laufen zu dürfen. Marina ließ ihr wieder mehr Zügel, Beauty kannte den Weg. Als sie ihr Gewicht aus dem Sattel nahm, indem sie sich nach vorne beugte und das Gesäß anhob, konnte das Pferd noch etwas schneller laufen. Marina konzentrierte sich nur darauf, ihr Gleichgewicht zu halten, und genoss den Ritt. Manchmal stellte sie sich vor, sie bräuchte nur die Flügel auszubreiten um sich vom Pferderücken aus in die Lüfte zu erheben. Sie schloss die Augen. Das schnelle Trampeln der Hufe, Lichtreflexe, grüne und gelbe, und der Wind in ihren Haaren erfüllten ihr ganzes Sein. So könnte ihr Leben doch immer sein?

Die Sonne stand tief im Westen, als Marina und Beauty den Hof zwischen den Bäumen erspähten. Beide waren außer Atem von dem schnellen Ritt nach Hause. Marina hatte die Zeit völlig vergessen, während sie auf der Lichtung im Gras lag und zu den weißen, sich windenden Wolken emporschaute. Beauty nutzte die Zeit lieber um sich zu wälzen und ein wenig zu grasen.
Ihre Mutter würde sicher wütend sein, falls sie schon auf ihre Tochter wartete. Als sie die Bäume hinter sich ließen warf Marina einen Blick zum Parkplatz. Das Auto stand nicht da. Zum Glück. Sie brachte Beauty in ihre Box, nahm ihr den Sattel und den Zaum ab und brachte beides in die Sattelkammer. Wieder mit dem Putzzeug bewaffnet kam sie zurück und rieb dem Pferd den Schweiß aus dem Fell und säuberte ihre Beine. Marina verstaute gerade alles wieder in der Kiste, als ihre Mutter auf den Hof fuhr. Sonja saß hinten und winkte ihr. Das Mädchen verabschiedete sich von Beauty und schob ihr noch ein Leckerli ins Maul, dann rannte sie zu ihrer Mutter, die jetzt neben dem Auto stand und ungeduldig mit den Fingern aufs Dach trommelte.
„Und, wie war’s?“
„Schön!“ Marina warf sich auf den Beifahrersitz.
Ihre Mutter stieg ebenfalls wieder ein. Sie rümpfte die Nase, als sie ihre große Tochter sah, sagte aber nichts.
Zu Hause ging Marina sofort ins Bad und ließ sich die Wanne voll laufen. Sie legte sich mit einem wohligen Lächeln im Gesicht ins Wasser. Schweiß und Staub hatten sich auf ihrer Haut zu etwas Unschönem vermischt. Sie glitt tiefer, bis ihr Kopf unter Wasser verschwand und tauchte erst wieder auf, als ihre Lungen protestierten.
Erst als ihre Finger und Zehen schrumpelig wurden und sie sich wieder völlig sauber fühlte stieg sie aus der Wanne.
Ihre Mom sah sich gerade die Nachrichten an und Sonja war schon im Bett, darum beschloss sie, noch ein wenig zu lesen.
Das Buch, das sie im Moment las, handelte von einer Frau, die Visionen hatte und der Polizei half, Verbrechen aufzuklären. Nach einigen Seiten fielen ihr die Augen zu. Sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten umher, wie die Insekten an einem lauen Sommerabend.
Es war ihrer Meinung nach etwas früh, um ins Bett zu gehen, doch sie war müde und am nächsten Tag musste sie schließlich sehr zeitig aufstehen. Marina legte das Buch auf ihre Handtasche, in der sich auch der aufgeladene MP3-Player befand, damit sie es morgen nicht vergaß.
Sie warf noch einen Blick ins Wohnzimmer und wünschte ihrer Mutter gute Nacht, dann schlich sie in ihr Zimmer. Sonja öffnete kurz die Augen, als sie den Raum betrat, doch sie drehte sich um und schlief weiter ohne etwas zu sagen.
Marina schlüpfte unter ihre Decke und sah zum Fenster hinaus. Der Mond war hinter einer großen, schwarzen Wolke verborgen. Sie gähnte und drehte sich auf den Rücken.
Ob man als Flugler wohl auch auf den Rücken liegen konnte, oder störten die Flügel dabei?
Ein Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Irgendwann würde sie das herausfinden. Irgendwann. Und schon morgen würde sie das Meer wieder sehen. Sie dachte an das Schillern der Sonne auf den Wellen und das Kreischen der Möwen.
Selbst im Schlaf blieb das Lächeln auf ihrem Gesicht erhalten.
 

flammarion

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Korrekturvorschläge:

Kapitel 1: Zwischen Himmel und Erde
Veröffentlicht von Najitzabeth am 21. 09. 2009 21:05
11 Jahre später:

Eingepfercht zwischen Himmel und Erde, das war sie. Sie gehörte weder zu den Menschen der Erde noch zu den Fluglern des Himmels, irgendetwas dazwischen war sie. Ihr Blick richtete sich zum Fenster hinaus. Nur einen schmalen Streifen Blau konnte man erkennen, der Rest war von den Häusern gegenüber dem Schulgebäude verdeckt.
Marinas Gedanken drehten sich im Kreis, immer wieder versuchte sie herauszufinden, ob es für sie überhaupt Sinn machte, noch weiter zur Schule zu gehen, denn wenn der Zeitpunkt da war, und sie endlich ihre wahre Gestalt annahm, wäre dieses menschliche Wissen für sie überflüssig. Doch, und das war ein Problem, wann wird dieser Zeitpunkt sein? Es könnte morgen sein, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und freudige Erwartung ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch fliegen, oder aber auch erst in hundert Jahren. Das Lächeln verschwand. Marina seufzte und lenkte ihre sprunghaften Gedanken wieder auf den Unterricht. Es ging um den dreißigjährigen Krieg. Der Lehrer versuchte gerade, wild gestikulierend, achtundzwanzig desinteressierten Teenagern klarzumachen, wie das Leben der Menschen damals war. Er erzählte etwas von Soldaten, die in Dörfer einfielen, um den Einheimischen ihre wenigen Vorräte zu stehlen.
Wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie guckte schnell über die Schulter, zu dem Jungen neben ihr. Er starrte auf sein Heft, dann, als habe er sie bemerkt, schaute er in ihre Richtung. Schnell wandte sie den Blick ab und schaute auf die Tischplatte. Ihre langen braunen Haare fielen wie ein Vorhang vor ihr Gesicht, sodass niemand sah, dass es puterrot anlief. Eine ganz andere Art von Schmetterlingen tummelte sich plötzlich in ihrem Bauch. Einen Moment gönnte sie sich die Vorstellung, er habe wirklich sie angesehen, und nicht einfach einen Blick aus dem Fenster geworfen. Die Schmetterlinge flatterten wilder und sie genoss das Gefühl der Wärme und das Prickeln auf der Haut, als ihre Vorstellung Marina daran erinnerte, was außer einem Blick dann vielleicht noch möglich wäre.
Aber es war nicht möglich. Er hat nicht mich angesehen.
Das dachte sie einige Male hintereinander, um diese Fantasie aus dem Kopf zu bekommen. Sie war schließlich unsichtbar, nicht im magischen Sinne unsichtbar, aber die Menschen in ihrer Gegenwart ignorierten sie. Als würde Marina Wiesenbauer gar nicht existieren. Manchmal rempelten andere sie an und merkten erst dann, dass da noch jemand war. Marina war ein menschliches Chamäleon, sie duckte sich geschickt unter der Aufmerksamkeit fremder Leute weg. Manchmal, vorwiegend in der Schule, eine sehr nützliche Eigenschaft. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal aufgerufen worden war. Im Privatleben allerdings, besonders was die Jungs anging, war ihr spezielles Talent eher kontraproduktiv. Wie sollte sie denn jemals einer mögen, wenn sie von keinem bemerkt wurde?
Marina sah zur Uhr über der Tür. Noch fünf Minuten, dann begannen die Sommerferien und sie musste sich mit diesem Problem sechs wundervolle Wochen lang nicht mehr beschäftigen.
Um sie herum,[blue] (kein Komma) [/blue] fingen die anderen Schüler schon an, ihre Sachen zu packen. Es wurde unruhig in der Klasse und dem Lehrer entging das nicht. Er mahnte die Klasse zur Ruhe und machte leere Drohungen über das Nachsitzen während der Ferien.
Noch eine Minute.
Der Lehrer wünschte ihnen schöne Ferien und gab den Schülern noch den Rat, den Stoff der Unterrichtsstunde bis zum nächsten Schuljahr zu wiederholen. Vielleicht würde er das ausfragen. Dann, endlich, läutet es. Ein schriller, reißender Ton. Stühle kratzten über den Boden. Die Gespräche wurden lauter, jetzt[blue] (Komma) [/blue]wo man sich nicht mehr zurückhalten brauchte.
Manche stürmten auch ohne ein Wort aus dem Raum.
Marina hatte noch nicht einmal ihr Federmäppchen eingepackt, da war sie schon die Letzte im Klassenzimmer. Der Lehrer stand an der Tür, den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, und wartete darauf, dass auch sie endlich fertig wurde. Zumindest hatte er sie nicht aus Versehen eingeschlossen. Marina unterdrückte ein Kichern. Das wäre nicht das erste Mal. Zum Glück lag das Klassenzimmer im Erdgeschoss.
Keuchend warf sie sich den schweren Rucksack auf den Rücken.
„Schöne Ferien!“, rief sie dem Lehrer noch im Vorbeigehen zu und verließ mit großen Schritten und einem erleichterten Gefühl das Gebäude. Wieder ein Jahr geschafft.
Aus ihrer Hosentasche zog Marina die Kopfhörer ihres MP3-Players und schob sie sich in die Ohren. Ein Knopfdruck und die fließenden Klänge und klagende[red] (klagenden) [/red] Stimmen ihrer Lieblingsband berauschten sie. Das Stück, das sie hörte, war melancholisch, wie ihre Stimmung. Der Sänger klagte mit hoher Stimme sein Leid, begleitet von den schnell wechselnden Melodien aus Bass und Gitarre, den Rhythmus seiner Klage vom Schlagzeug vorgegeben. Hin und wieder wechselte die Band von der Gitarre zum Klavier und helle glockenartige Töne klangen in ihren Ohren. Sie hatte das Bedürfnis[red] (Komma) [/red] mit ihm zu singen, ihren eigenen Jammer mit seinem zu verbinden, doch die Gefahr, das[red] (dass[/red]) es jemand anderes hören könnte, war ihr zu groß und so ließ sie es lieber bleiben. In ihrer Fantasie stand sie mit der Band auf der Bühne. Ihre Stimme verband sich mit der des Sängers, als wären sie dafür bestimmt, dieses Lied gemeinsam zu singen, und die Massen zu ihren Füßen tobten. Marinas Laune besserte sich ein wenig, wie immer, wenn sie der Schule den Rücken kehrte.
Jetzt nur noch sechs Haltestellen mit der kreischenden Meute und dann bin ich endlich in den Ferien!
Der Gedanke an die Busfahrt gab ihrer Vorfreude noch einen kleinen Dämpfer, aber es war das letzte Mal für dieses Schuljahr. Das würde sie auch noch überleben.
An der Bushaltestelle standen schon mindestens zwanzig Fünftklässler, und einige aus höheren Jahrgängen. Der Geräuschpegel war so groß, dass sie ihre Musik lauter stellen musste[red] (Komma) [/red] um den Gesang noch verstehen zu können. Jetzt würde auch jemand, der neben ihr stand, mitbekommen, was sie sich anhörte. Das war ihr heute egal. Sollten sie doch die schmachtenden Worte hören, die von einer vergeblichen Liebe erzählten.
Vor ihr klaute ein Junge einem Mädchen die Schultasche, die sie auf den Boden gestellt hatte, und die Beiden[red] (beiden) [/red] begannen eine wilde Verfolgungsjagd. Marina trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.
Sie sah zum Himmel, die Sonne brannte auf sie herab. Gnadenlos stach sie auf ihre helle Haut. Vielleicht sollte sie lieber ihre Jacke überziehen[blue] (Komma) [/blue] um keinen Sonnenbrand zu bekommen, doch eigentlich war es viel zu heiß dafür. Marina wog das Für und Wieder ab, als der Bus kam.
Zuerst bemerkten es die Fünftklässler, und alle rannten nach vorne an die Straße, um ja einen Sitzplatz zu bekommen. Sie machte sich überhaupt keine Hoffnungen, auch einen zu erhaschen und blieb absichtlich zurück. Als sie durch die Tür trat, zeigte sie ihren Fahrschein hoch, doch Marina bezweifelte, das[red] (dass) [/red] der Fahrer sie beachtete. Sie schob sich durch die Massen von lauten und pöbelnden Kindern[blue] (Komma) [/blue] bis sie bei der Hälfte des Busses angelangt war. Hier hielt sie sich an einer Stange fest. So konnte sie es bis zu Hause aushalten. Der Geruch von frischer Leberkäs-Semmel, in die jemand neben ihr grade herzhaft hinein biss, und einer Menge schwitzender Leiber stach ihr in die Nase. Mit dem Bus zu fahren war grausam, bis auf eine Kleinigkeit. Marina sah sich um. Hier irgendwo musste er auch stehen. Der Junge, der jeden Tag neben ihr in der Schule saß und auch seit einem Jahr mit demselben Bus wie sie fuhr. Sie erspähte ihn weiter hinten im Bus und neben ihm war der Platz nur von seinem Rucksack besetzt. Er drohte gerade einem Jungen mit der Faust, der sich auf den Sitz nieder lassen wollte. Marina überlegte, ob sie sich bis zu ihm durchschieben sollte, um sich zu ihm zu setzten, aber dazu müsste sie etwas sagen, und ihr fiel beim besten Willen nichts Cooles, Schlagfertiges ein. Es war sogar fraglich, ob sie ihm gegenüber überhaupt ein verständliches Wort herausbringen würde. Vielleicht wollte er ja alleine sitzen. Bevor sie den Blick wieder abwandte drehte er den Kopf und sah zu ihr. Marinas Herz setzte einen Schlag aus und sie fühlte, wie ihr Gesicht schon wieder rot anlief. Sie wollte ganz schnell wegsehen, doch er hob die Hand und winkte sie zu sich. Marina konnte nicht ganz glauben, was sie eben gesehen hatte. Meinte er wirklich sie? Sie sah hinter sich. Da waren nur Kinder, die sich,[blue] (kein Komma) [/blue] zum Spaß,[blue] (kein Komma) [/blue] gegenseitig schubsten. Er winkte noch mal. Sie schluckte und drückte sich bis zu ihm durch. Der Junge, Markus hieß er, hob seine Tasche weg und Marina setzte sich, bevor ihr Gehirn den Befehl zur Flucht an ihre Beine weiterleiten konnte.
„Hi!“, sagte er. Seine Stimme war weder tief noch hoch. Manchmal beides gleichzeitig. Er war mitten im Stimmbruch. „Was hörst du?“
In seiner Gegenwart roch es nach einem eigentümlichen, herben Parfüm. Vielleicht Rasierwasser? Wobei sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er sich schon rasierte, bei seiner glatten Gesichtshaut. Er sah sie mit großen braunen Augen an und wartete auf eine Antwort.
Marina konnte immer noch nicht so recht glauben, dass er mit ihr redete. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten Tango.
„Was?“ Ihre Stimme schien von ganz weit weg zu kommen und sie musste noch einmal schlucken, um das quiekende Etwas, das aus ihrem Mund kam, in den Griff zu bekommen, bevor sie weiter sprach: „Ach so! Das ist meine Lieblingsband.“ Sie reichte ihm einen Ohrstöpsel und spürte, dass ihr Gesicht noch röter wurde, obwohl sie gedacht hatte, dass es gar keine Steigerung mehr gäbe.
Er nahm ihr den Stöpsel aus der Hand. Ihre Finger berührten sich kurz und ihr Magen schlug Purzelbaum. Sie zog die Hand ganz schnell zurück, doch er hatte den Kopfhörer schon im Ohr.
„Wow, die kenn ich!“ Er grinste und schlug mit der Hand den Takt auf seinem Schenkel mit.
„Ich mag das neue Album.“ Sein Lächeln wurde sanfter und er sah in ihre Richtung. Marina musste sich zwingen[blue] (Komma) [/blue] den Mund wieder zu schließen und nicht zu gucken wie ein Vollidiot. Dieses Lächeln war einfach… unglaublich schön. Sie sammelte ihr Gesicht wieder ein und schluckte schon wieder.
Reiß dich zusammen!
„Ich mag es auch.“, sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen und wischte ihre schwitzigen Hände an der Jeans ab.
„Marina…“, den Rest des Satzes verstand sie nicht. Ihr Herz hüpfte heftiger.
Er kennt meinen Namen! Er weiß tatsächlich wie ich heiße!
Mit einem Puls, der einen Herzkranken sicherlich umgebracht hätte, registrierte sie, dass er sie schon wieder ansprach.
„Marina, hörst du mir zu?“ Sein Lächeln war verschwunden. „Ich muss hier aussteigen!“
„Oh!“, sie stand schnell auf, und wäre beinahe über einen Fünftklässler gefallen, konnte sich aber im letzten Moment noch abfangen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass der Bus angehalten hatte.
„Danke!“, sagte er: „Du bist echt komisch.“ Markus schüttelte den Kopf.
Als er schon an ihr vorbei war[blue] (Komma) [/blue] sah er sich noch mal um: „Schöne Ferien!“
„Dir auch.“, brachte sie gerade noch heraus, als sich schon ein dickes Kind an ihr vorbei schob und sich auf den Platz setzte, an dem gerade eben noch ihr Schwarm gesessen hatte.
Dann schloss sich die Tür des Busses wieder und er verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Schmetterlinge tanzten immer noch, als sie sich wieder auf ihren Platz setzte. Die restliche Fahrt verbrachte sie mit ihrer Fantasie und einem Song über Schwarze Löcher.

Endlos lange, so erschien es ihr, dauerte die Fahrt in dem stinkenden und völlig überfüllten Bus noch, bis sie aussteigen konnte.
Marina atmete tief ein und aus, als sich die Schiebetüren hinter ihr schlossen. Es war früher Nachmittag und die Sonne schien unablässig auf sie herunter. Sie musste die Straßenseite wechseln, um im Schatten zu sein. Mit großen Schritten nahm sie den restlichen Heimweg in Angriff. Die fünfzehn Minuten Fußmarsch wurden ihr versüßt durch weitere Lieder über Liebe und Leiden und den Gedanken an Markus´ Lächeln. Sechs Wochen, bis sie ihn wieder sehen würde…
Nachdem sie die große, vierspurige Straße überquert hatte, konnte sie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester lebte, erkennen. Es war ein quadratischer Wohnblock, fünf Stockwerke hoch, in einer Reihe aus vier beinahe völlig identischen Blöcken, die sich nur in der Farbe ihrer Balkone voneinander unterschieden. Blau, rot, grün und gelb. Im Vorbeigehen grüßte sie einen Nachbarn mit einem Nicken, der sie jedoch gar nicht wahrnahm und stur geradeaus an ihr vorbei lief. Marina bog von der Straße ab und ging den schmalen Weg zu dem Haus mit den grünen Balkonen. Sie suchte dabei den Schlüssel in ihrer Tasche. Bis sie ihn endlich,[blue] (kein Komma) [/blue] ganz unten,[blue] (kein Komma) [/blue] gefunden hatte, stand sie auch schon vor der Eingangstür.
Sei [red] (Sie) [/red] schloss auf. Die Tür quietschte beim Öffnen. Marina rannte die paar Stufen zur Wohnung hinauf. Der Hausgang roch nach dem kaltem Rauch einer Zigarette, also hatte wieder irgendjemand verbotener Weise im Flur gepafft. Ihre Mutter würde sich darüber sicher aufregen, wenn sie nach Hause kam.
In der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung war es angenehm kühl. Marinas Mom zog, bevor sie in die Arbeit ging, immer die Jalousien in jedem Raum halb herunter, damit die Sonne im Laufe des Tages nicht ihre Hitze herein trug. Marina warf ihre Schultasche in eine Ecke, wo sie die Zeit der Ferien wohl unberührt verbringen würde, und ging in die Küche. Einen [red] (Ein) [/red] Raum mit hellen, zweckmäßigen Möbeln und einen[red] (einem) [/red] kleinen viereckigen Tisch, an dem,[blue] (kein Komma) [/blue] an jeder Seite,[blue] (kein Komma) [/blue] ein Stuhl stand. Ein paar grüne Pflanzen standen am Fensterbrett, als einziger Farbtupfer.
Als erstes zog sie das Fenster auf, es lag nach Osten, die Sonne war schon lange weg. Marina mochte keine halb-dunklen Räume. Entweder ganz hell oder ganz dunkel sollte es sein, nichts dazwischen. Dann zog sie ihren Player aus der Tasche, schaltete ihn aus und hing ihn an das Ladekabel. Der Akku musste übermorgen voll sein, wenn es, wie jedes Jahr, nach Italien in den Urlaub ging. Ans Meer.
Sie trat zum Kühlschrank und öffnete ihn, die Tür machte ein schmatzendes Geräusch und die Kälte biss angenehm in ihr Gesicht. Einen Moment überlegte sie, was ihr jetzt schmecken würde, dann griff sie sich eine Banane und einen Joghurt mit Schokostücken. Noch schnell einen Löffel aus der Schublade gefischt und schon machte sie sich auf, die nächsten zwei Stunden, bis ihre Mutter kam, zu genießen.
Endlich allein. Endlich hatte sie Frieden von der Welt.
Marina setzte sich ins Wohnzimmer und schälte die Banane. Es war so ruhig, einfach herrlich.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, da begann über ihr ein dröhnender, scheinbar vibrierender Ton. Ihre Nachbarn konnten wohl keinen Tag ohne ihre Bohrmaschine auskommen. Sie verzog das Gesicht und schaute böse zur weißen Decke über ihr, als wüssten diese Leute, dass sie jetzt ihre Ruhe haben wollte. Es kam ihr vor, als wollten sie,[blue] (kein Komma) [/blue] sie nur ärgern. Sie biss wütend in ihre Banane. Marina fragte sich, ob es in der Wohnung über ihnen überhaupt noch Platz in den Wänden für neue Löcher gab.
Vielleicht bohren sie mittlerweile ja in den Boden, das würde zumindest erklären, warum es so arg laut ist…
Das Geräusch setzte aus, und als sie gerade den Deckel ihres Joghurts aufzog fing es von vorne an. Den ganzen Nachmittag würde das jetzt so gehen. Marina stöhnte und schaltete den Fernseher an. Als sie beim Musiksender angelangt war, es lief ein Bericht über das unverschämt große Anwesen irgendeines Rockstars, drehte sie die Lautstärke voll auf. Zumindest konnte sie sich so aussuchen, was ihre Ohren dröhnen ließ. Aus war es mit der Ruhe.

Pünktlich um halb fünf bemerkte Marina, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür umdrehte. Ihre Mutter kam herein und schloss die Tür hinter sich. Wie jeden Tag hörte sie das Rascheln einer Jacke, die auf einen Kleiderbügel geschoben wurde, und das metallische Klingen, als ihre Mutter den Bügel wieder an die Garderobe hängte.
Jetzt stellt sie ihre Schuhe genau parallel zu meinen hingeworfenen, ordnet beide Paare genauso und stellt ihre Handtasche ab. Danach schaut sie zu mir und sagt: „Hallo, Marina… Mach bitte den Fernseher leiser!“
„Hallo Marina, mach doch bitte den Fernseher leise. Das hält doch keiner aus.“ Der rundliche Kopf ihrer Mutter schaute herein. Ihre Haare waren kurz, bis zu den Ohren, und immer ordentlich nach innen geföhnt.
„Hast du beim nach Hause kommen auch gerochen, wie das Treppenhaus stinkt?“, sie kam ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihren Sessel.
„Ja, Mom.“
Marina nahm die Fernbedienung und schaltete ganz aus. Es lief sowieso nur Blödsinn um diese Uhrzeit. Hirnlose Gerichtssendungen und Talkshows, das Schicksal von Menschen, die damit unbedingt die ganze Welt belästigen wollten. Dumme kleine Probleme von dummen Menschen. Auch auf den Musiksendern brachte[red] (brachten) [/red] sie entweder Musik, die sie nicht mochte, oder irgendwelche Kuppel-Shows.
Irgendwann würde sie das alles hinter sich lassen. Wenn es nur endlich so weit wäre!
„Hast du deine Sachen für Sonntag schon gepackt?“, die Stimme ihrer Mutter klang ein wenig vorwurfsvoll, so als kenne sie die Antwort schon.
„Nein…“, Marina suchte nach einer guten Begründung, und ihr fiel tatsächlich eine ein: „Mein Koffer ist im Keller und den Kellerschlüssel hast du!“
„Ach[blue] (getrennt[/blue] )so.“ Ihre Mutter sah sie mit einem unergründlichen Blick an: „Und wie war die Schule heute?“
Marina hasste diese Frage und sie gab dieselbe Antwort wie schon seit Jahren: „Wie immer…“
Bevor ihre Mutter noch weiter bohren konnte, ergriff sie die Flucht: „Ich hol dann mal meinen Koffer und fang an zu packen!“ Sie sprang von der Couch auf und rannte förmlich in den Gang. Auf dem Tischen neben der Tür lag der Schlüssel. Sie [blue] griff ihn sich (schnappte ihn) [/blue] und war auch schon zur Tür hinaus, bevor irgendwelche weiteren Fragen gestellt wurden.
Im Keller war es kalt, beinahe zu kalt. Marina fröstelte in ihrem T-Shirt und rieb sich die Arme.
Sie sah sich genau die Wände an, bevor sie auf den Lichtschalter drückte, damit sie ja nicht zu nahe an eine Spinne fasste. Allein bei der Vorstellung, wie sie den Schalter betätigte und daneben eine dicke, fette Spinne saß, bekam sie eine Gänsehaut. Sie schauderte.
Ganz hinten, das letzte Abteil, war das ihrer Mom. Marina sperrte auf und suchte einen Moment die vielen voll gestopften Regale ab. Im untersten sah sie ihren etwas mitgenommenen blauen Koffer. Sie zog ihn heraus und klopfte den Staub vom letzten Jahr herunter. Auf den Deckel hatte sie einen Patch mit dem Emblem ihrer Lieblingsband genäht. Sie mochte das alte Teil, auch wenn ihre Mutter stur behauptete[blue] (anordnete oder mahnte[/blue]), sie solle sich endlich einen neuen Koffer zulegen.
Wieder in der Wohnung verzog sie sich sofort in ihr Zimmer. Der Raum war zweigeteilt, da sie ihn sich mit ihrer kleinen Schwester teilen musste. Der hintere Teil, direkt am Fenster, wurde von ihrem großen Metallbett eingenommen, das war es dann auch schon wieder mit ihrem Bereich. Der Rest wurde von den Spielsachen ihrer Schwester und einem etwas kleineren Bett für sie beschlagnahmt. Sie schaltete die Stereoanlage, die zwischen zwei großen Stofftieren beinahe nicht zu erkennen war, ein. Hier hatte sie eine andere CD eingelegt, als sie auf MP3 hörte, man brauchte schließlich Abwechslung. Die Gitarrenrhythmen waren härter und der Sänger schrie mehr, als das er sang. Die Lieder waren nicht minder mit Emotionen voll gepackt, nur diese waren nicht melancholisch[blue] (Komma) [/blue] sondern wütend.
Marina legte den Koffer offen auf den Boden. Sie überlegte einen Moment, welche Sachen sie mitnehmen wollte. Sie zog eine Schublade auf. Zuerst schmiss sie einen Stapel Unterwäsche hinein und noch ein Paar einfacher, schwarzer Socken hinterher. Daneben legte sie die Bücher, die sie in diesem Urlaub lesen wollte. Jetzt kam der schwierigste Teil. Was sollte sie anziehen? Zu Hause trug sie die meiste Zeit Jeans und T-Shirt[blue] (Komma) [/blue] aber im Urlaub war es dafür zu warm. Sie warf einen Blick in den Kleiderschrank. In kurzen Röcken fühlte sie sich nicht wohl. Dafür war sie zu pummelig. Marina war zwar nicht dick, aber etwas mollig. Ihre Mutter würde weiblich dazu sagen. Es war eben nicht leicht[blue] (Komma) [/blue] sich in einer menschlichen Gestalt schön zu fühlen, wenn man genau wusste, wie man eigentlich aussehen sollte. Schlank und filigran, und nicht rund, wie zusammengestaucht. Auch ihr Gesicht wirkte irgendwie unfertig. Als hätte jemand versucht[blue] (Komma) [/blue] zwei völlig verschiedene Typen in einem zu verbinden. Das Experiment war wohl nicht gelungen. Ihre Nase nahm zu viel Platz ein und ihre Augen zu wenig. Ihr Mund lag zu weit oben, die Ohren zu weit unten. Sie war nicht hässlich, das konnte sie nicht behaupten, aber sie war eben auch nicht schön.
Marina seufzte und warf zwei kurze Hosen und einen langen Jeans-Rock in den Koffer. Damit würde sie die zehn Tage wohl auskommen müssen. Noch einige Tops, ihr Lieblings-Shirt und einen kurzen Schlafanzug. Sie war beinahe fertig. Im Bad kramte sie sich schnell alle Utensilien zusammen. [blue] Recht [/blue] (überflüssig) viel mehr als Shampoo, Deo und ihre Reise-Zahnbürste brauchte sie sowieso nicht.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, fiel ihr eiskalt ein, was sie beinahe vergessen hätte[blue] einzupacken[/blue] (überflüssig). Aus dem hintersten Fach in ihrem Schrank kramte sie einen roten Bikini mit lila Punkten heraus und platzierte ihn bei dem restlichen Zeug. Zum Abschluss legte sie ein großes Strandtuch in den Koffer und verschloss ihn dann. Fertig! Na also, wieder ein Schritt näher am Meer!
Sie konnte es beinahe nicht mehr erwarten. Nur noch etwas mehr als einen Tag und dann würde sie den wunderschönen, unendlichen Ozean wieder sehen. Der salzige Geruch in der Luft und der Sand auf der Haut. Das Geräusch der Wellen in der Brandung… besser als jede Musik.
Es klingelte an der Tür. Marina hörte, wie ihre Mutter zur Tür stapfte. Das war sicher Frau Renner mit den Kleinen. Ihre Nachbarin holte jeden Tag ihre eigene Tochter und Sonja, Marinas kleine Schwester, vom Kindergarten ab. Dafür brachte ihre Mutter die beiden jeden Morgen dort hin.
Sie hörte die hohe Stimme des kleinen Mädchens unablässig plappern, als sich Fr. Renner verabschiedete und eine schöne Reise wünschte. Die Wohnungstür schloss sich wieder. Sonja erzählte von irgendeinem Spiel, das ihnen im Kindergarten beigebracht worden war, als sie zusammen mit ihrer Mutter ins Zimmer kam. Schnell stand Marina auf und schaltete die Musik aus. Ihre Mutter schaute erst die Stereoanlage und dann ihre große Tochter böse an, das Mädchen an der Hand.
„Was?“, blaffte Marina. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter so genervt tat. „Ich darf ja wohl in meinem Zimmer noch hören, was ich will!“
„Also ich weiß wirklich nicht, von wem du das hast!“
„Mir gefällt es eben!“
Ihre kleine Schwester grinste: „Die Musik ist blöd!“
„Du hältst besser mal die Klappe, Hosenscheißer!“ Manchmal konnte sich Marina in der Gegenwart ihrer Schwester, der ewigen Nervensäge, einfach nicht zusammenreißen.
Nun mischte sich auch noch ihre Mutter ein: „Fangt bitte nicht an zu streiten!“ Sie schrie schon wieder fast.
„Keine Sorge… ich muss sowieso lernen!“
„Dann geh bitte in die Küche dazu.“
Mist, warum war ihr keine bessere Ausrede zum alleine sein eingefallen? Marina stampfte ins Zimmer gegenüber und nahm im vorbeigehen[red] (Vorbeigehen) [/red] ihre Schultasche mit. Jetzt musste sie das dumme Ding doch nach einmal in die Hand nehmen.
Hinter sich machte sie die Tür zu. Ihre Schwester labberte[red] (laberte) [/red] schon wieder irgendwelchen Kinderkram. Am Tisch angekommen steckte sie sich schnell die Kopfhörer des MP3-Players in die Ohren, um nichts mehr hören zu müssen, und packte ihre Schulhefte aus. Jetzt hatte sie wenigstens ihre Ruhe.

Als es Zeit zum Abendessen war, schmierte sie sich im Wohnzimmer nur schnell ein Brot und verzog sich wieder, mit der Begründung, die Hausaufgaben noch nicht fertig zu haben. Ihre Mutter runzelte dazu nur die Stirn und Sonja streckte ihr die Zunge raus.
Marina wartete noch so lange in der Küche, bis ihre Schwester ins Bett musste und ging dann duschen. Sie ließ sich mehr Zeit, als nötig gewesen wäre, und genoss das Gefühl des Wassers, das über ihre Haut lief. Erst als ihre Mutter ungeduldig, da sie auch noch ins Bad wollte, an die Tür klopfte, stieg sie aus der Dusche. Im Schlafanzug und noch mit nassen Haaren überließ sie ihrer Mom den Raum und machte sich auf ins Bett. Leise, um nur ja nicht die Nervensäge zu wecken, öffnete sie die Tür und schlich zu ihrem Bett. Der Mond strahlte ins Zimmer und erhellte ihr den Weg. Sie kletterte hinein, der Lattenrost knarrte, als sie sich hinlegte. Marina machte es sich bequem und zog sich die Decke bis über die Ohren. Sonja atmete gleichmäßig, sie schlief tief und fest. Zum Glück.
In Gedanken ging sie den gesamten Tag noch einmal durch. Bei Markus Lächeln angekommen überkam sie wieder das warme, kribbelnde Gefühl. Er hatte sie tatsächlich angelächelt. Wie schön das Leben doch manchmal sein konnte.
Ohne es zu bemerken sank sie in den Schlaf.
Marina träumte vom Meer und einer Frau in einem weißen Kleid. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich im Traum in die Lüfte erhob. Frei von allen Zwängen.

Am nächsten Morgen wurde sie von einem Rucken auf ihrem Bett geweckt.
„Marina, Marina wach auf!“ Eine quiekende Stimme direkt neben ihrem Ohr.
„Was ist denn, Sonja?“, nuschelte Marina. Sie öffnete ein Auge und schaute auf den Wecker am Fensterbrett. Die Sonne war noch auf der anderen Seite des Gebäudes und so war es einigermaßen dunkel in dem Zimmer der Mädchen.
„Es ist erst halb acht!“
„Mir ist langweilig. Komm, wir spielen irgendwas!“ Das Kind hüpfte wieder auf ihrem Bett auf und ab.
„Geh doch zu Mom. Ich bin zu müde zum Spielen.“
Sonja hörte auf zu hüpfen: „Aber Mama schimpf wieder mit mir, wenn ich sie so früh aufwecke.“ Sie zog eine Schnute.
„Was glaubst du, was ICH gleich mit dir mache?!“ Marina sah ihre kleine Schwester böse an.
Das Mädchen streckte ihr die Zunge raus und lief barfuss und im Nachthemd aus dem Zimmer.
Marina drehte sich auf die andere Seite und stöhnte. Hoffentlich hatte sie jetzt noch ein paar Stunden ihre Ruhe. Minuten später war sie wieder eingeschlafen.

Erst kurz vor Mittag wachte Marina wieder auf. Die Sonne brannte jetzt mit ihrer ganzen Kraft zum Fenster herein und sie zog schnell die Vorhänge vor, bevor es zu heiß wurde. Sie schnupperte. Es roch bereits nach Essen. Marina streckte sich und stand dann auf. Ihre Schwester hatte sie wohl gehört, denn kaum stand sie auf beiden Beinen[blue] (Komma) [/blue] kam die Nervensäge auch schon hereingestürmt.
„Es gibt gleich ESSSSSEN!“, schrie sie und sprang im Kreis um Marina herum.
„Ja ja, ich komm ja schon.“, sie drehte sich um und schüttelte die Bettdecke, danach das Kissen auf. Sie schnappte sich die Hose von gestern und ein ärmelloses Shirt. Ihre Schwester, die sie beobachtete, ignorierend, zog sie sich an und ging ins Bad.
„Morgen!“, grummelte sie ihrer Mutter zu, als sie an der Küche vorbei ging.
Marina putzte sich schnell die Zähne und fasste ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Bis sie wieder zurück zur Küche kam, stand schon alles auf dem Tisch und ihre Mutter schaufelte jedem eine Portion Nudeln in den Teller. Unter den Augen ihrer Mom lagen dunkle Ringe, sie wirkte, als hätte sie heute Nacht nicht viel geschlafen, was schlecht war, schließlich musste sie in der kommenden Nacht, besser gesagt, in den frühen Morgenstunden, die ganze Strecke nach Italien mit dem Auto fahren. Sonja war wohl wirklich zu ihrer Mutter gegangen, nachdem sie bei Marina erfolglos gewesen war. (und marina hat den ganzen Vormittag verschlafen?)
Sie setzten sich alle an den Tisch und fingen an, die Nudeln mit Tomatensoße zu essen. Ein kleiner Vorgeschmack auf ihren Urlaub. Die Soße war aromatisch und fast ein wenig zu scharf. Marina nahm einen Schluck Wasser.
„Marina, könntest du bitte nach dem Essen die Küche aufräumen, damit ich noch packen kann?“ Ihre Mutter sah sie an.
„Mach ich, Mom.“ Sie nahm noch eine Gabel voll. Nachdem sie heruntergeschluckt hatte sprach sie weiter: „Kannst du mich danach vielleicht auf den Hof raus fahren?“
Ihre Mutter nickte: „Wenn ich Sonja bei Oma abgeliefert hab[blue] (Komma) [/blue] fahr ich dich schnell. Ich brauche dringend noch ein paar Stunden Schlaf. Wahrscheinlich kann ich dich aber erst nach dem Abendessen wieder abholen.“ Sie sah sie fragend an.
„Kein Problem, dann brauche ich mich wenigstens nicht so zu beeilen.“
Marina war erleichtert, das[red] (dass) [/red] sie den Nachmittag auf dem Mühlenhof verbringen konnte. Zusammen mit ihrer besten Freundin Beauty. Einem verfressenen, braunen Islandpferd.
Nachdem die drei mit dem Essen fertig waren, brachte Marinas Mom Sonja ins Bett zum Mittagsschlaf und verzog sich dann in ihr Schlafzimmer, um zu packen. Marina begann damit, die Teller und das Besteck in die Spülmaschine zu räumen und wischte dann den Tisch ab. Sie öffnete das Fenster[blue] (Komma) [/blue] um ein wenig Sommerluft herein zu lassen. Danach ließ sie Wasser ins Spülbecken und wusch die beiden Töpfe ab. Sie mochte diese Aufgabe, dabei konnte man wunderbar die Gedanken ziehen lassen. Während ihre Hände der monotonen Arbeit nachgingen, stellte sie sich vor, einfach aus dem Fenster zu springen und auf das Dach des anderen Hauses zu fliegen. Oder vielleicht auch über den Fluss hinweg auf den bewaldeten Hügel dahinter. Nur, um sehen zu können, was dahinter lag. Sie stellte sich vor, wie sie immer höher und weiter flog. Den Wind in ihrem Gefieder und auf der Haut, die Sonne im Rücken. Das musste ein fantastisches Gefühl sein.
Marina brachte den Abwasch zu Ende und wischte den Herd und die Arbeitsflächen, als ihre Mutter mit einem dicken Koffer aus ihrem Zimmer kam. Sie war also auch schon mit Sonjas Sachen fertig. Jetzt standen ein kleinerer blauer Koffer und ein großer brauner im Gang und warteten darauf, ins Auto gepackt zu werden.
„Ich bin fertig.“ Marina stand in der Küchentür und trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab.
Ihre Mutter sah sich kritisch in der Küche um. Sie würde später sicher noch einmal nachputzen, weil ihr irgendwas nicht ordentlich genug war.
„Ok, dann mach dich fertig, damit wir fahren können.“
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Aus ihrem Zimmer holte sie den Reithelm und ihre etwas mitgenommenen Handschuhe. Sie schlüpfte in die sauberen Stiefel und war bereit. Marina trug immer eine Jeans zum Reiten. In den speziellen Hosen, mit Lederbesatz im Schritt, fühlte sie sich einfach unwohl.
„Fertig!“, rief sie und legte die Hand an die Stirn, wie ein Soldat.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: „Also wenn es ums Reiten geht, bist du immer schnell wie der Wind!“
Endlose Minuten,[blue] (kein Komma) [/blue] musste sie noch warten, bis ihre Schwester sich ein Spielzeug, das sie mit zur Oma nehmen wollte, gesucht und gefunden hatte. Marina trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wollte am liebsten schon zum Auto, aber ihre Mom gab ihr den Schlüssel nicht. Als ihre Mutter endlich die Schuhe anzog und sich ihren Koffer nahm, dachte sie schon, sie müsse platzen.
„Wir nehmen die gleich mit raus. Damit wir das in der Nacht nicht machen brauchen!“
Marina stöhnte, da würden wieder kostbare Minuten vergehen, bis das Gepäck nach den Vorstellungen ihrer Mutter im Kofferraum verstaut war. Ohne etwas zu sagen hievte sie ihr Gepäck hoch und lief hinter ihrer Familie aus der Wohnung zum Auto.
Der rote Kleinwagen stand schon am Straßenrand parat. Ihre Mutter hievte gerade ihren Koffer hinein[blue] (Komma) [/blue] als Marina kam. So leicht wie gedacht war er doch nicht. Sie hatte auf dem Weg dreimal eine Pause einlegen müssen. Jetzt schwitzte sie wie ein Marathonläufer.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ihre Mutter damit zufrieden war, wie die Koffer im Auto platziert waren. Noch den Sonnenschirm auf die Rückbank, und alles, bis auf ihr Handgepäck, war verstaut. Marina ließ sich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. Ihre Schwester saß schon hinten in ihrem bunt gemusterten Kindersitz.
Ihre Mutter startete den Motor und der Wagen kam ruckend in Fahrt. Siebenundzwanzig Grad zeigte das Thermometer in der Anzeige. Marina kurbelte das Fenster herunter, die stickige Luft war kaum auszuhalten. Der Fahrtwind löste einige Strähnen aus ihrem Zopf, die ihr nun wild ins Gesicht peitschten. Sie schloss die Augen. Sonja sang bei dem Lied, das gerade im Radio lief, mit. Da sie kein Englisch konnte, waren die meisten Worte, die sie benutzte, völlig falsch und entfremdet.
Zehn Minuten Fahrt und sie standen vor dem kleinen Häuschen, in dem ihre Großeltern wohnten. Der Vorgarten war gepflegt und einige Büsche trugen protzige, rosafarbene Blüten. Ihre Mutter sagte Marina, sie solle kurz im Wagen warten. Sie nahm Sonja aus dem Sitz und ging mit ihr an der Hand die Stufen zur Eingangstür hinauf. Eine alte, gebeugte Frau mit silbergrauem Haar öffnete die Tür. Ihre Großmutter winkte Marina kurz zu. Marina winkte zurück. Hoffentlich dauert es nicht zu lang.
Marina bemerkte gar nicht, wie ihre Mutter wieder in das Auto stieg und den Motor anließ.
„Du hast den Kopf schon wieder in den Wolken.“, stellte sie fest, als Marina bei einer Bodenwelle zusammenzuckte. Wenn sie wüsste, wie recht sie damit hat!
Sie fuhren aus der Stadt heraus, eine schmale, kurvenreiche Landstraße entlang. Marina konnte die Pferde schon riechen, sie mochte den Geruch. Für sie bedeutete er Frieden und Ruhe vor den Menschen. Ihre Mutter fand ihn einfach nur ekelhaft. Sie blieb nur kurz am Hof stehen[blue] (Komma) [/blue] bis Marina ausgestiegen war. Dann drehte sie um und war schon wieder verschwunden. Endlich allein. Marina atmete ganz tief ein und genoss die Sonne in ihrem Gesicht für einen Moment. Der Reithof lag versteckt, zwischen einigen Hügeln, außerhalb der Stadt[blue] (Der Reithof lag außerhalb der Stadt zwischen einigen Hügeln versteckt). [/blue] Hinter den Ställen und der großzügigen Reithalle breitete sich ein großer Wald voller dunkler Fichten und Tannen aus. Marina fand, dass für Samstagnachmittag recht wenig Betrieb war. Sie konnte nur zwei andere Mädchen mit ihren Pferden erkennen, die sich gerade zu dem Waldweg wendeten, und einen Stallburschen, der eine vollbeladene Schubkarre Heu vor sich her schob.
Sie wandte sich um und rannte Richtung Stall. Das flache Gebäude lag versteckt[blue] (duckte sich) [/blue] zwischen einigen hohen Tannen. Die Pferde streckten neugierig die Köpfe aus den Lucken[red] (Luken), [/red] als sich Marina näherte. Eines der Tiere erkannte sie und wieherte ihr zur Begrüßung entgegen. Beauty trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, als Marina vor ihrer Box stand.
„Ist ja gut, meine Liebe. Ein paar Minuten wirst du noch aushalten müssen, bevor wir los können!“ Sie hatte seit gut zwei Jahren eine Reitbeteiligung an ihrem Liebling. Zweimal in der Woche kam sie her, um mit ihr Ausreiten zu gehen.
Eine Hand legte sie auf die warme Nase des Tieres und Beauty beruhigte sich ein wenig. Als das Pferd schnaubte[blue] (Komma) [/blue] trat Marina zurück: „Ich hol nur noch schnell dein Zeug!“, rief sie der braunen Stute zu und ging zu der Kammer am Ende der Stallungen. Marina öffnete die knarrende Tür. Drinnen war es stickig und sie konnte Unmengen von Staub erkennen, der durch den Lichtstrahl, den sie mit hinein brachte, sichtbar wurde. Hier drinnen roch es etwas feucht und nach Leder.
Marina suchte sich aus einer großen Kiste am Boden einen Striegel und den Hufkratzer.
Zurück bei Beauty ging sie in die Box und begann ihr Fell durchzubürsten. Da das Wetter seit einigen Tagen schon gut war, gab es nicht allzu viel zu dabei zu tun. Einige Strohhalme zupfte sie aus der dichten Mähne des stämmigen Kleinpferdes und an der Stelle, an der der Sattelgurt lag, versuchte sie, soviel Staub wie möglich zu entfernen. Aus den Hufen kratzte sie einige Steinchen und Dreck, der sich fest getreten hatte. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, brachte Marina die Putzutensilien wieder zurück und nahm aus derselben Kammer den Sattel und das Zaumzeug mit.
Beauty stand ganz still, als Marina ihr den Sattel an die richtige Stelle ihres Rückens schob. Beim Aufzäumen brauchte Marina etwas Überredungskunst, da die Stute den Kopf immer wieder hochwarf, aber beim dritten Versuch klappte es schließlich.
„Stell dir vor“, erzählte Marina dem Pferd, während sie es aus der Box führte: „Markus hat mich gestern im Bus angelächelt! Kannst du das glauben?“ Beauty schüttelte, wie um ihr eine Antwort zu geben, den Kopf. „Ja, du hast Recht. Ich glaube es eigentlich auch nicht.“
An dem Waldweg angekommen stieg sie auf. Marina brachte die Steigbügel in die richtige Länge und setzte sich gerade auf. Mit einem leichten Druck ihrer Schenkel gegen den Pferdebauch,[blue] (kein Komma) [/blue] gab sie Beauty das Zeichen zum Schritt. Gemächlich lief die Stute los. Ein wenig zu gemächlich. Marina stupste sie noch einmal mit den Beinen an und schob die Hüfte gleichzeitig vor. Beauty fiel in einen flotteren Schritt. Das Mädchen passte sich den Bewegungen des Pferdes an und lies[red] (ließ) [/red] die Zügel ein wenig aus der Hand gleiten. Die erste Zeit behielten sie dieses Tempo bei, damit sich Beauty in Ruhe aufwärmen konnte. Der Waldweg war breit genug, damit zwei Pferde nebeneinander gehen konnten und führte schnurgerade zwischen den Bäumen hindurch. Das Licht war hier wie ein allgegenwärtiger grüner Schimmer. Die Luft roch feucht und frisch, im Schatten des Waldes war die Hitze leichter zu ertragen. Jeder Tritt des Pferdes war ein dumpfer Schlag auf dem moosigen Boden. Hin und wieder raschelte es zwischen einigen Blättern, ansonsten war es vollkommen still. Nach einer Weile nahm Marina die Zügel auf und machte sich etwas schwerer. Sie verkürzte die Schritte des Pferdes und schob es mit der Hüfte in den Tölt, einer speziellen Gangart der Isländer. Sie saß völlig ruhig auf Beauty[blue] (Komma) [/blue] während sie im flotten Tempo den geebneten Weg entlang ritt. Der Gegenwind kühlte beide etwas ab, der Schweiß auf Marinas Haut trocknete. Sie behielten den Gang für einige hundert Meter bei, dann bremste Marina ab. Dort vorne war ein schmaler Pfad, der tiefer in den Wald hineinführte. Das war ihre liebste Strecke. Sie war dort noch nie anderen Reitern begegnet und die Strecke eignete sich hervorragend zum Galoppieren. Der Weg war gerade [blue] Mal [/blue] (überflüssig) breit genug für die Beiden[red] (beiden). [/red] Hier und da streifte ein Busch an Marinas Beinen entlang. Einige Kurven und eine sanfte Steigung würden sie auf eine idyllische kleine Lichtung führen. Dort konnten sie dann gemeinsam den Nachmittag genießen.
„Bist du bereit zu fliegen?“, fragte sie die Stute und tätschelte ihren Hals. Marina lenkte Beauty auf den schmalen Weg, der Wald hatte sie sogleich verschluckt und vom Hauptweg aus waren sie nicht mehr zu sehen. Sie verlagerte ihr Gewicht nach hinten und gab dem Pferd die Schenkelhilfe zum Galopp. Sofort sprang Beauty los, als habe sie nur darauf gewartet, endlich laufen zu dürfen. Marina ließ ihr wieder mehr Zügel, Beauty kannte den Weg. Als sie ihr Gewicht aus dem Sattel nahm, indem sie sich nach vorne beugte und das Gesäß anhob, konnte das Pferd noch etwas schneller laufen. Marina konzentrierte sich nur darauf, ihr Gleichgewicht zu halten, und genoss den Ritt. Manchmal stellte sie sich vor, sie bräuchte nur die Flügel auszubreiten um sich vom Pferderücken aus in die Lüfte zu erheben. Sie schloss die Augen. Das schnelle Trampeln der Hufe, Lichtreflexe, grüne und gelbe, und der Wind in ihren Haaren erfüllten ihr ganzes Sein. So könnte ihr Leben doch immer sein?

Die Sonne stand tief im Westen, als Marina und Beauty den Hof zwischen den Bäumen erspähten. Beide waren außer Atem von dem schnellen Ritt nach Hause. Marina hatte die Zeit völlig vergessen, während sie auf der Lichtung im Gras lag und zu den weißen, sich windenden Wolken emporschaute. Beauty nutzte die Zeit lieber[blue] (Komma) [/blue] um sich zu wälzen und ein wenig zu grasen.
Ihre Mutter würde sicher wütend sein, falls sie schon auf ihre Tochter wartete. Als sie die Bäume hinter sich ließen[blue] (Komma) [/blue] warf Marina einen Blick zum Parkplatz. Das Auto stand nicht da. Zum Glück. Sie brachte Beauty in ihre Box, nahm ihr den Sattel und den Zaum ab und brachte beides in die Sattelkammer. Wieder mit dem Putzzeug bewaffnet kam sie zurück und rieb dem Pferd den Schweiß aus dem Fell und säuberte ihre Beine. Marina verstaute gerade alles wieder in der Kiste, als ihre Mutter auf den Hof fuhr. Sonja saß hinten und winkte ihr. Das Mädchen verabschiedete sich von Beauty und schob ihr noch ein Leckerli ins Maul, dann rannte sie zu ihrer Mutter, die jetzt neben dem Auto stand und ungeduldig mit den Fingern aufs Dach trommelte.
„Und, wie war’s?“
„Schön!“ Marina warf sich auf den Beifahrersitz.
Ihre Mutter stieg ebenfalls wieder ein. Sie rümpfte die Nase, als sie ihre große Tochter sah, sagte aber nichts.
Zu Hause ging Marina sofort ins Bad und ließ sich die Wanne voll laufen. Sie legte sich mit einem wohligen Lächeln im Gesicht ins Wasser. Schweiß und Staub hatten sich auf ihrer Haut zu etwas Unschönem vermischt. Sie glitt tiefer, bis ihr Kopf unter Wasser verschwand und tauchte erst wieder auf, als ihre Lungen protestierten.
Erst als ihre Finger und Zehen schrumpelig wurden und sie sich wieder völlig sauber fühlte stieg sie aus der Wanne.
Ihre Mom sah sich gerade die Nachrichten an und Sonja war schon im Bett, darum beschloss sie, noch ein wenig zu lesen.
Das Buch, das sie im Moment las, handelte von einer Frau, die Visionen hatte und der Polizei half, Verbrechen aufzuklären. Nach einigen Seiten fielen ihr die Augen zu. Sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten umher, wie die Insekten an einem lauen Sommerabend.
Es war ihrer Meinung nach etwas früh, um ins Bett zu gehen, doch sie war müde und am nächsten Tag musste sie schließlich sehr zeitig aufstehen. Marina legte das Buch auf ihre Handtasche, in der sich auch der aufgeladene MP3-Player befand, damit sie es morgen nicht vergaß.
Sie warf noch einen Blick ins Wohnzimmer und wünschte ihrer Mutter gute Nacht, dann schlich sie in ihr Zimmer. Sonja öffnete kurz die Augen, als sie den Raum betrat, doch sie drehte sich um und schlief weiter ohne etwas zu sagen.
Marina schlüpfte unter ihre Decke und sah zum Fenster hinaus. Der Mond war hinter einer großen, schwarzen Wolke verborgen. Sie gähnte und drehte sich auf den Rücken.
Ob man als Flugler wohl auch auf den Rücken liegen konnte, oder störten die Flügel dabei?
Ein Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Irgendwann würde sie das herausfinden. Irgendwann. Und schon morgen würde sie das Meer wieder sehen. Sie dachte an das Schillern der Sonne auf den Wellen und das Kreischen der Möwen.
Selbst im Schlaf blieb das Lächeln auf ihrem Gesicht erhalten.

__________________
Wenn etwas leicht zu lesen ist, dann war es schwer zu schreiben.
Enrique Jardiel Poncela
spanischer Humorist

Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
lg
 

Najitzabeth

Mitglied
11 Jahre später:
Zwischen Himmel und Erde

Eingepfercht zwischen Himmel und Erde, das war sie. Sie gehörte weder zu den Menschen der Erde noch zu den Fluglern des Himmels, irgendetwas dazwischen war sie. Ihr Blick richtete sich zum Fenster hinaus. Nur einen schmalen Streifen Blau konnte man erkennen, der Rest war von den Häusern gegenüber dem Schulgebäude verdeckt.
Marinas Gedanken drehten sich im Kreis, immer wieder versuchte sie herauszufinden, ob es für sie überhaupt Sinn machte, noch weiter zur Schule zu gehen, denn wenn der Zeitpunkt da war, und sie endlich ihre wahre Gestalt annahm, wäre dieses menschliche Wissen für sie überflüssig. Doch, und das war ein Problem, wann wird dieser Zeitpunkt sein? Es könnte morgen sein, ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und freudige Erwartung ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch fliegen, oder aber auch erst in hundert Jahren. Das Lächeln verschwand. Marina seufzte und lenkte ihre sprunghaften Gedanken wieder auf den Unterricht. Es ging um den dreißigjährigen Krieg. Der Lehrer versuchte gerade, wild gestikulierend, achtundzwanzig desinteressierten Teenagern klarzumachen, wie das Leben der Menschen damals war. Er erzählte etwas von Soldaten, die in Dörfer einfielen, um den Einheimischen ihre wenigen Vorräte zu stehlen.
Wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie guckte schnell über die Schulter, zu dem Jungen neben ihr. Er starrte auf sein Heft, dann, als habe er sie bemerkt, schaute er in ihre Richtung. Schnell wandte sie den Blick ab und schaute auf die Tischplatte. Ihre langen braunen Haare fielen wie ein Vorhang vor ihr Gesicht, sodass niemand sah, dass es puterrot anlief. Eine ganz andere Art von Schmetterlingen tummelte sich plötzlich in ihrem Bauch. Einen Moment gönnte sie sich die Vorstellung, er habe wirklich sie angesehen, und nicht einfach einen Blick aus dem Fenster geworfen. Die Schmetterlinge flatterten wilder und sie genoss das Gefühl der Wärme und das Prickeln auf der Haut, als ihre Vorstellung Marina daran erinnerte, was außer einem Blick dann vielleicht noch möglich wäre.
Aber es war nicht möglich. Er hat nicht mich angesehen.
Das dachte sie einige Male hintereinander, um diese Fantasie aus dem Kopf zu bekommen. Sie war schließlich unsichtbar, nicht im magischen Sinne unsichtbar, aber die Menschen in ihrer Gegenwart ignorierten sie. Als würde Marina Wiesenbauer gar nicht existieren. Manchmal rempelten andere sie an und merkten erst dann, dass da noch jemand war. Marina war ein menschliches Chamäleon, sie duckte sich geschickt unter der Aufmerksamkeit fremder Leute weg. Manchmal, vorwiegend in der Schule, eine sehr nützliche Eigenschaft. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal aufgerufen worden war. Im Privatleben allerdings, besonders was die Jungs anging, war ihr spezielles Talent eher kontraproduktiv. Wie sollte sie denn jemals einer mögen, wenn sie von keinem bemerkt wurde?
Marina sah zur Uhr über der Tür. Noch fünf Minuten, dann begannen die Sommerferien und sie musste sich mit diesem Problem sechs wundervolle Wochen lang nicht mehr beschäftigen.
Um sie herum fingen die anderen Schüler schon an, ihre Sachen zu packen. Es wurde unruhig in der Klasse und dem Lehrer entging das nicht. Er mahnte die Klasse zur Ruhe und machte leere Drohungen über das Nachsitzen während der Ferien.
Noch eine Minute.
Der Lehrer wünschte ihnen schöne Ferien und gab den Schülern noch den Rat, den Stoff der Unterrichtsstunde bis zum nächsten Schuljahr zu wiederholen. Vielleicht würde er das ausfragen. Dann, endlich, läutet es. Ein schriller, reißender Ton. Stühle kratzten über den Boden. Die Gespräche wurden lauter, jetzt, wo man sich nicht mehr zurückhalten brauchte.
Manche stürmten auch ohne ein Wort aus dem Raum.
Marina hatte noch nicht einmal ihr Federmäppchen eingepackt, da war sie schon die Letzte im Klassenzimmer. Der Lehrer stand an der Tür, den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, und wartete darauf, dass auch sie endlich fertig wurde. Zumindest hatte er sie nicht aus Versehen eingeschlossen. Marina unterdrückte ein Kichern. Das wäre nicht das erste Mal. Zum Glück lag das Klassenzimmer im Erdgeschoss.
Keuchend warf sie sich den schweren Rucksack auf den Rücken.
„Schöne Ferien!“, rief sie dem Lehrer noch im Vorbeigehen zu und verließ mit großen Schritten und einem erleichterten Gefühl das Gebäude. Wieder ein Jahr geschafft.
Aus ihrer Hosentasche zog Marina die Kopfhörer ihres MP3-Players und schob sie sich in die Ohren. Ein Knopfdruck und die fließenden Klänge und klagenden Stimmen ihrer Lieblingsband berauschten sie. Das Stück, das sie hörte, war melancholisch, wie ihre Stimmung. Der Sänger klagte mit hoher Stimme sein Leid, begleitet von den schnell wechselnden Melodien aus Bass und Gitarre, den Rhythmus seiner Klage vom Schlagzeug vorgegeben. Hin und wieder wechselte die Band von der Gitarre zum Klavier und helle glockenartige Töne klangen in ihren Ohren. Sie hatte das Bedürfnis, mit ihm zu singen, ihren eigenen Jammer mit seinem zu verbinden, doch die Gefahr, dass es jemand anderes hören könnte, war ihr zu groß und so ließ sie es lieber bleiben. In ihrer Fantasie stand sie mit der Band auf der Bühne. Ihre Stimme verband sich mit der des Sängers, als wären sie dafür bestimmt, dieses Lied gemeinsam zu singen, und die Massen zu ihren Füßen tobten. Marinas Laune besserte sich ein wenig, wie immer, wenn sie der Schule den Rücken kehrte.
Jetzt nur noch sechs Haltestellen mit der kreischenden Meute und dann bin ich endlich in den Ferien!
Der Gedanke an die Busfahrt gab ihrer Vorfreude noch einen kleinen Dämpfer, aber es war das letzte Mal für dieses Schuljahr. Das würde sie auch noch überleben.
An der Bushaltestelle standen schon mindestens zwanzig Fünftklässler, und einige aus höheren Jahrgängen. Der Geräuschpegel war so groß, dass sie ihre Musik lauter stellen musste, um den Gesang noch verstehen zu können. Jetzt würde auch jemand, der neben ihr stand, mitbekommen, was sie sich anhörte. Das war ihr heute egal. Sollten sie doch die schmachtenden Worte hören, die von einer vergeblichen Liebe erzählten.
Vor ihr klaute ein Junge einem Mädchen die Schultasche, die sie auf den Boden gestellt hatte, und die beiden begannen eine wilde Verfolgungsjagd. Marina trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.
Sie sah zum Himmel, die Sonne brannte auf sie herab. Gnadenlos stach sie auf ihre helle Haut. Vielleicht sollte sie lieber ihre Jacke überziehen, um keinen Sonnenbrand zu bekommen, doch eigentlich war es viel zu heiß dafür. Marina wog das Für und Wieder ab, als der Bus kam.
Zuerst bemerkten es die Fünftklässler, und alle rannten nach vorne an die Straße, um ja einen Sitzplatz zu bekommen. Sie machte sich überhaupt keine Hoffnungen, auch einen zu erhaschen und blieb absichtlich zurück. Als sie durch die Tür trat, zeigte sie ihren Fahrschein hoch, doch Marina bezweifelte, dass der Fahrer sie beachtete. Sie schob sich durch die Massen von lauten und pöbelnden Kindern, bis sie bei der Hälfte des Busses angelangt war. Hier hielt sie sich an einer Stange fest. So konnte sie es bis zu Hause aushalten. Der Geruch von frischer Leberkäs-Semmel, in die jemand neben ihr grade herzhaft hinein biss, und einer Menge schwitzender Leiber stach ihr in die Nase. Mit dem Bus zu fahren war grausam, bis auf eine Kleinigkeit. Marina sah sich um. Hier irgendwo musste er auch stehen. Der Junge, der jeden Tag neben ihr in der Schule saß und auch seit einem Jahr mit demselben Bus wie sie fuhr. Sie erspähte ihn weiter hinten im Bus und neben ihm war der Platz nur von seinem Rucksack besetzt. Er drohte gerade einem Jungen mit der Faust, der sich auf den Sitz nieder lassen wollte. Marina überlegte, ob sie sich bis zu ihm durchschieben sollte, um sich zu ihm zu setzten, aber dazu müsste sie etwas sagen, und ihr fiel beim besten Willen nichts Cooles, Schlagfertiges ein. Es war sogar fraglich, ob sie ihm gegenüber überhaupt ein verständliches Wort herausbringen würde. Vielleicht wollte er ja alleine sitzen. Bevor sie den Blick wieder abwandte drehte er den Kopf und sah zu ihr. Marinas Herz setzte einen Schlag aus und sie fühlte, wie ihr Gesicht schon wieder rot anlief. Sie wollte ganz schnell wegsehen, doch er hob die Hand und winkte sie zu sich. Marina konnte nicht ganz glauben, was sie eben gesehen hatte. Meinte er wirklich sie? Sie sah hinter sich. Da waren nur Kinder, die sich zum Spaß gegenseitig schubsten. Er winkte noch mal. Sie schluckte und drückte sich bis zu ihm durch. Der Junge, Markus hieß er, hob seine Tasche weg und Marina setzte sich, bevor ihr Gehirn den Befehl zur Flucht an ihre Beine weiterleiten konnte.
„Hi!“, sagte er. Seine Stimme war weder tief noch hoch. Manchmal beides gleichzeitig. Er war mitten im Stimmbruch. „Was hörst du?“
In seiner Gegenwart roch es nach einem eigentümlichen, herben Parfüm. Vielleicht Rasierwasser? Wobei sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er sich schon rasierte, bei seiner glatten Gesichtshaut. Er sah sie mit großen braunen Augen an und wartete auf eine Antwort.
Marina konnte immer noch nicht so recht glauben, dass er mit ihr redete. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten Tango.
„Was?“ Ihre Stimme schien von ganz weit weg zu kommen und sie musste noch einmal schlucken, um das quiekende Etwas, das aus ihrem Mund kam, in den Griff zu bekommen, bevor sie weiter sprach: „Ach so! Das ist meine Lieblingsband.“ Sie reichte ihm einen Ohrstöpsel und spürte, dass ihr Gesicht noch röter wurde, obwohl sie gedacht hatte, dass es gar keine Steigerung mehr gäbe.
Er nahm ihr den Stöpsel aus der Hand. Ihre Finger berührten sich kurz und ihr Magen schlug Purzelbaum. Sie zog die Hand ganz schnell zurück, doch er hatte den Kopfhörer schon im Ohr.
„Wow, die kenn ich!“ Er grinste und schlug mit der Hand den Takt auf seinem Schenkel mit.
„Ich mag das neue Album.“ Sein Lächeln wurde sanfter und er sah in ihre Richtung. Marina musste sich zwingen, den Mund wieder zu schließen und nicht zu gucken wie ein Vollidiot. Dieses Lächeln war einfach… unglaublich schön. Sie sammelte ihr Gesicht wieder ein und schluckte schon wieder.
Reiß dich zusammen!
„Ich mag es auch.“, sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen und wischte ihre schwitzigen Hände an der Jeans ab.
„Marina…“, den Rest des Satzes verstand sie nicht. Ihr Herz hüpfte heftiger.
Er kennt meinen Namen! Er weiß tatsächlich wie ich heiße!
Mit einem Puls, der einen Herzkranken sicherlich umgebracht hätte, registrierte sie, dass er sie schon wieder ansprach.
„Marina, hörst du mir zu?“ Sein Lächeln war verschwunden. „Ich muss hier aussteigen!“
„Oh!“, sie stand schnell auf, und wäre beinahe über einen Fünftklässler gefallen, konnte sich aber im letzten Moment noch abfangen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass der Bus angehalten hatte.
„Danke!“, sagte er: „Du bist echt komisch.“ Markus schüttelte den Kopf.
Als er schon an ihr vorbei war, sah er sich noch mal um: „Schöne Ferien!“
„Dir auch.“, brachte sie gerade noch heraus, als sich schon ein dickes Kind an ihr vorbei schob und sich auf den Platz setzte, an dem gerade eben noch ihr Schwarm gesessen hatte.
Dann schloss sich die Tür des Busses wieder und er verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Schmetterlinge tanzten immer noch, als sie sich wieder auf ihren Platz setzte. Die restliche Fahrt verbrachte sie mit ihrer Fantasie und einem Song über Schwarze Löcher.

Endlos lange, so erschien es ihr, dauerte die Fahrt in dem stinkenden und völlig überfüllten Bus noch, bis sie aussteigen konnte.
Marina atmete tief ein und aus, als sich die Schiebetüren hinter ihr schlossen. Es war früher Nachmittag und die Sonne schien unablässig auf sie herunter. Sie musste die Straßenseite wechseln, um im Schatten zu sein. Mit großen Schritten nahm sie den restlichen Heimweg in Angriff. Die fünfzehn Minuten Fußmarsch wurden ihr versüßt durch weitere Lieder über Liebe und Leiden und den Gedanken an Markus´ Lächeln. Sechs Wochen, bis sie ihn wieder sehen würde…
Nachdem sie die große, vierspurige Straße überquert hatte, konnte sie das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester lebte, erkennen. Es war ein quadratischer Wohnblock, fünf Stockwerke hoch, in einer Reihe aus vier beinahe völlig identischen Blöcken, die sich nur in der Farbe ihrer Balkone voneinander unterschieden. Blau, rot, grün und gelb. Im Vorbeigehen grüßte sie einen Nachbarn mit einem Nicken, der sie jedoch gar nicht wahrnahm und stur geradeaus an ihr vorbei lief. Marina bog von der Straße ab und ging den schmalen Weg zu dem Haus mit den grünen Balkonen. Sie suchte dabei den Schlüssel in ihrer Tasche. Bis sie ihn endlich ganz unten gefunden hatte, stand sie auch schon vor der Eingangstür.
Sie schloss auf. Die Tür quietschte beim Öffnen. Marina rannte die paar Stufen zur Wohnung hinauf. Der Hausgang roch nach dem kaltem Rauch einer Zigarette, also hatte wieder irgendjemand verbotener Weise im Flur gepafft. Ihre Mutter würde sich darüber sicher aufregen, wenn sie nach Hause kam.
In der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung war es angenehm kühl. Marinas Mom zog, bevor sie in die Arbeit ging, immer die Jalousien in jedem Raum halb herunter, damit die Sonne im Laufe des Tages nicht ihre Hitze herein trug. Marina warf ihre Schultasche in eine Ecke, wo sie die Zeit der Ferien wohl unberührt verbringen würde, und ging in die Küche. Ein Raum mit hellen, zweckmäßigen Möbeln und einem kleinen viereckigen Tisch, an dem an jeder Seite ein Stuhl stand. Ein paar grüne Pflanzen standen am Fensterbrett, als einziger Farbtupfer.
Als erstes zog sie das Fenster auf, es lag nach Osten, die Sonne war schon lange weg. Marina mochte keine halb-dunklen Räume. Entweder ganz hell oder ganz dunkel sollte es sein, nichts dazwischen. Dann zog sie ihren Player aus der Tasche, schaltete ihn aus und hing ihn an das Ladekabel. Der Akku musste übermorgen voll sein, wenn es, wie jedes Jahr, nach Italien in den Urlaub ging. Ans Meer.
Sie trat zum Kühlschrank und öffnete ihn, die Tür machte ein schmatzendes Geräusch und die Kälte biss angenehm in ihr Gesicht. Einen Moment überlegte sie, was ihr jetzt schmecken würde, dann griff sie sich eine Banane und einen Joghurt mit Schokostücken. Noch schnell einen Löffel aus der Schublade gefischt und schon machte sie sich auf, die nächsten zwei Stunden, bis ihre Mutter kam, zu genießen.
Endlich allein. Endlich hatte sie Frieden von der Welt.
Marina setzte sich ins Wohnzimmer und schälte die Banane. Es war so ruhig, einfach herrlich.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, da begann über ihr ein dröhnender, scheinbar vibrierender Ton. Ihre Nachbarn konnten wohl keinen Tag ohne ihre Bohrmaschine auskommen. Sie verzog das Gesicht und schaute böse zur weißen Decke über ihr, als wüssten diese Leute, dass sie jetzt ihre Ruhe haben wollte. Es kam ihr vor, als wollten sie sie nur ärgern. Sie biss wütend in ihre Banane. Marina fragte sich, ob es in der Wohnung über ihnen überhaupt noch Platz in den Wänden für neue Löcher gab.
Vielleicht bohren sie mittlerweile ja in den Boden, das würde zumindest erklären, warum es so arg laut ist…
Das Geräusch setzte aus, und als sie gerade den Deckel ihres Joghurts aufzog fing es von vorne an. Den ganzen Nachmittag würde das jetzt so gehen. Marina stöhnte und schaltete den Fernseher an. Als sie beim Musiksender angelangt war, es lief ein Bericht über das unverschämt große Anwesen irgendeines Rockstars, drehte sie die Lautstärke voll auf. Zumindest konnte sie sich so aussuchen, was ihre Ohren dröhnen ließ. Aus war es mit der Ruhe.

Pünktlich um halb fünf bemerkte Marina, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür umdrehte. Ihre Mutter kam herein und schloss die Tür hinter sich. Wie jeden Tag hörte sie das Rascheln einer Jacke, die auf einen Kleiderbügel geschoben wurde, und das metallische Klingen, als ihre Mutter den Bügel wieder an die Garderobe hängte.
Jetzt stellt sie ihre Schuhe genau parallel zu meinen hingeworfenen, ordnet beide Paare genauso und stellt ihre Handtasche ab. Danach schaut sie zu mir und sagt: „Hallo, Marina… Mach bitte den Fernseher leiser!“
„Hallo Marina, mach doch bitte den Fernseher leise. Das hält doch keiner aus.“ Der rundliche Kopf ihrer Mutter schaute herein. Ihre Haare waren kurz, bis zu den Ohren, und immer ordentlich nach innen geföhnt.
„Hast du beim nach Hause kommen auch gerochen, wie das Treppenhaus stinkt?“, sie kam ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihren Sessel.
„Ja, Mom.“
Marina nahm die Fernbedienung und schaltete ganz aus. Es lief sowieso nur Blödsinn um diese Uhrzeit. Hirnlose Gerichtssendungen und Talkshows, das Schicksal von Menschen, die damit unbedingt die ganze Welt belästigen wollten. Dumme kleine Probleme von dummen Menschen. Auch auf den Musiksendern brachten sie entweder Musik, die sie nicht mochte, oder irgendwelche Kuppel-Shows.
Irgendwann würde sie das alles hinter sich lassen. Wenn es nur endlich so weit wäre!
„Hast du deine Sachen für Sonntag schon gepackt?“, die Stimme ihrer Mutter klang ein wenig vorwurfsvoll, so als kenne sie die Antwort schon.
„Nein…“, Marina suchte nach einer guten Begründung, und ihr fiel tatsächlich eine ein: „Mein Koffer ist im Keller und den Kellerschlüssel hast du!“
„Ach so.“ Ihre Mutter sah sie mit einem unergründlichen Blick an: „Und wie war die Schule heute?“
Marina hasste diese Frage und sie gab dieselbe Antwort wie schon seit Jahren: „Wie immer…“
Bevor ihre Mutter noch weiter bohren konnte, ergriff sie die Flucht: „Ich hol dann mal meinen Koffer und fang an zu packen!“ Sie sprang von der Couch auf und rannte förmlich in den Gang. Auf dem Tischen neben der Tür lag der Schlüssel. Sie schnappte ihn und war auch schon zur Tür hinaus, bevor irgendwelche weiteren Fragen gestellt wurden.
Im Keller war es kalt, beinahe zu kalt. Marina fröstelte in ihrem T-Shirt und rieb sich die Arme.
Sie sah sich genau die Wände an, bevor sie auf den Lichtschalter drückte, damit sie ja nicht zu nahe an eine Spinne fasste. Allein bei der Vorstellung, wie sie den Schalter betätigte und daneben eine dicke, fette Spinne saß, bekam sie eine Gänsehaut. Sie schauderte.
Ganz hinten, das letzte Abteil, war das ihrer Mom. Marina sperrte auf und suchte einen Moment die vielen voll gestopften Regale ab. Im untersten sah sie ihren etwas mitgenommenen blauen Koffer. Sie zog ihn heraus und klopfte den Staub vom letzten Jahr herunter. Auf den Deckel hatte sie einen Patch mit dem Emblem ihrer Lieblingsband genäht. Sie mochte das alte Teil, auch wenn ihre Mutter stur drängte, sie solle sich endlich einen neuen Koffer zulegen.
Wieder in der Wohnung verzog sie sich sofort in ihr Zimmer. Der Raum war zweigeteilt, da sie ihn sich mit ihrer kleinen Schwester teilen musste. Der hintere Teil, direkt am Fenster, wurde von ihrem großen Metallbett eingenommen, das war es dann auch schon wieder mit ihrem Bereich. Der Rest wurde von den Spielsachen ihrer Schwester und einem etwas kleineren Bett für sie beschlagnahmt. Sie schaltete die Stereoanlage, die zwischen zwei großen Stofftieren beinahe nicht zu erkennen war, ein. Hier hatte sie eine andere CD eingelegt, als sie auf MP3 hörte, man brauchte schließlich Abwechslung. Die Gitarrenrhythmen waren härter und der Sänger schrie mehr, als das er sang. Die Lieder waren nicht minder mit Emotionen voll gepackt, nur diese waren nicht melancholisch, sondern wütend.
Marina legte den Koffer offen auf den Boden. Sie überlegte einen Moment, welche Sachen sie mitnehmen wollte. Sie zog eine Schublade auf. Zuerst schmiss sie einen Stapel Unterwäsche hinein und noch ein Paar einfacher, schwarzer Socken hinterher. Daneben legte sie die Bücher, die sie in diesem Urlaub lesen wollte. Jetzt kam der schwierigste Teil. Was sollte sie anziehen? Zu Hause trug sie die meiste Zeit Jeans und T-Shirt, aber im Urlaub war es dafür zu warm. Sie warf einen Blick in den Kleiderschrank. In kurzen Röcken fühlte sie sich nicht wohl. Dafür war sie zu pummelig. Marina war zwar nicht dick, aber etwas mollig. Ihre Mutter würde weiblich dazu sagen. Es war eben nicht leicht, sich in einer menschlichen Gestalt schön zu fühlen, wenn man genau wusste, wie man eigentlich aussehen sollte. Schlank und filigran, und nicht rund, wie zusammengestaucht. Auch ihr Gesicht wirkte irgendwie unfertig. Als hätte jemand versucht, zwei völlig verschiedene Typen in einem zu verbinden. Das Experiment war wohl nicht gelungen. Ihre Nase nahm zu viel Platz ein und ihre Augen zu wenig. Ihr Mund lag zu weit oben, die Ohren zu weit unten. Sie war nicht hässlich, das konnte sie nicht behaupten, aber sie war eben auch nicht schön.
Marina seufzte und warf zwei kurze Hosen und einen langen Jeans-Rock in den Koffer. Damit würde sie die zehn Tage wohl auskommen müssen. Noch einige Tops, ihr Lieblings-Shirt und einen kurzen Schlafanzug. Sie war beinahe fertig. Im Bad kramte sie sich schnell alle Utensilien zusammen. Viel mehr als Shampoo, Deo und ihre Reise-Zahnbürste brauchte sie sowieso nicht.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, fiel ihr eiskalt ein, was sie beinahe vergessen hätte. Aus dem hintersten Fach in ihrem Schrank kramte sie einen roten Bikini mit lila Punkten heraus und platzierte ihn bei dem restlichen Zeug. Zum Abschluss legte sie ein großes Strandtuch in den Koffer und verschloss ihn dann. Fertig! Na also, wieder ein Schritt näher am Meer!
Sie konnte es beinahe nicht mehr erwarten. Nur noch etwas mehr als einen Tag und dann würde sie den wunderschönen, unendlichen Ozean wieder sehen. Der salzige Geruch in der Luft und der Sand auf der Haut. Das Geräusch der Wellen in der Brandung… besser als jede Musik.
Es klingelte an der Tür. Marina hörte, wie ihre Mutter zur Tür stapfte. Das war sicher Frau Renner mit den Kleinen. Ihre Nachbarin holte jeden Tag ihre eigene Tochter und Sonja, Marinas kleine Schwester, vom Kindergarten ab. Dafür brachte ihre Mutter die beiden jeden Morgen dort hin.
Sie hörte die hohe Stimme des kleinen Mädchens unablässig plappern, als sich Fr. Renner verabschiedete und eine schöne Reise wünschte. Die Wohnungstür schloss sich wieder. Sonja erzählte von irgendeinem Spiel, das ihnen im Kindergarten beigebracht worden war, als sie zusammen mit ihrer Mutter ins Zimmer kam. Schnell stand Marina auf und schaltete die Musik aus. Ihre Mutter schaute erst die Stereoanlage und dann ihre große Tochter böse an, das Mädchen an der Hand.
„Was?“, blaffte Marina. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter so genervt tat. „Ich darf ja wohl in meinem Zimmer noch hören, was ich will!“
„Also ich weiß wirklich nicht, von wem du das hast!“
„Mir gefällt es eben!“
Ihre kleine Schwester grinste: „Die Musik ist blöd!“
„Du hältst besser mal die Klappe, Hosenscheißer!“ Manchmal konnte sich Marina in der Gegenwart ihrer Schwester, der ewigen Nervensäge, einfach nicht zusammenreißen.
Nun mischte sich auch noch ihre Mutter ein: „Fangt bitte nicht an zu streiten!“ Sie schrie schon wieder fast.
„Keine Sorge… ich muss sowieso lernen!“
„Dann geh bitte in die Küche dazu.“
Mist, warum war ihr keine bessere Ausrede zum alleine sein eingefallen? Marina stampfte ins Zimmer gegenüber und nahm im Vorbeigehen ihre Schultasche mit. Jetzt musste sie das dumme Ding doch nach einmal in die Hand nehmen.
Hinter sich machte sie die Tür zu. Ihre Schwester laberte schon wieder irgendwelchen Kinderkram. Am Tisch angekommen steckte sie sich schnell die Kopfhörer des MP3-Players in die Ohren, um nichts mehr hören zu müssen, und packte ihre Schulhefte aus. Jetzt hatte sie wenigstens ihre Ruhe.

Als es Zeit zum Abendessen war, schmierte sie sich im Wohnzimmer nur schnell ein Brot und verzog sich wieder, mit der Begründung, die Hausaufgaben noch nicht fertig zu haben. Ihre Mutter runzelte dazu nur die Stirn und Sonja streckte ihr die Zunge raus.
Marina wartete noch so lange in der Küche, bis ihre Schwester ins Bett musste und ging dann duschen. Sie ließ sich mehr Zeit, als nötig gewesen wäre, und genoss das Gefühl des Wassers, das über ihre Haut lief. Erst als ihre Mutter ungeduldig, da sie auch noch ins Bad wollte, an die Tür klopfte, stieg sie aus der Dusche. Im Schlafanzug und noch mit nassen Haaren überließ sie ihrer Mom den Raum und machte sich auf ins Bett. Leise, um nur ja nicht die Nervensäge zu wecken, öffnete sie die Tür und schlich zu ihrem Bett. Der Mond strahlte ins Zimmer und erhellte ihr den Weg. Sie kletterte hinein, der Lattenrost knarrte, als sie sich hinlegte. Marina machte es sich bequem und zog sich die Decke bis über die Ohren. Sonja atmete gleichmäßig, sie schlief tief und fest. Zum Glück.
In Gedanken ging sie den gesamten Tag noch einmal durch. Bei Markus Lächeln angekommen überkam sie wieder das warme, kribbelnde Gefühl. Er hatte sie tatsächlich angelächelt. Wie schön das Leben doch manchmal sein konnte.
Ohne es zu bemerken sank sie in den Schlaf.
Marina träumte vom Meer und einer Frau in einem weißen Kleid. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich im Traum in die Lüfte erhob. Frei von allen Zwängen.

Am nächsten Morgen wurde sie von einem Rucken auf ihrem Bett geweckt.
„Marina, Marina wach auf!“ Eine quiekende Stimme direkt neben ihrem Ohr.
„Was ist denn, Sonja?“, nuschelte Marina. Sie öffnete ein Auge und schaute auf den Wecker am Fensterbrett. Die Sonne war noch auf der anderen Seite des Gebäudes und so war es einigermaßen dunkel in dem Zimmer der Mädchen.
„Es ist erst halb acht!“
„Mir ist langweilig. Komm, wir spielen irgendwas!“ Das Kind hüpfte wieder auf ihrem Bett auf und ab.
„Geh doch zu Mom. Ich bin zu müde zum Spielen.“
Sonja hörte auf zu hüpfen: „Aber Mama schimpf wieder mit mir, wenn ich sie so früh aufwecke.“ Sie zog eine Schnute.
„Was glaubst du, was ICH gleich mit dir mache?!“ Marina sah ihre kleine Schwester böse an.
Das Mädchen streckte ihr die Zunge raus und lief barfuss und im Nachthemd aus dem Zimmer.
Marina drehte sich auf die andere Seite und stöhnte. Hoffentlich hatte sie jetzt noch ein paar Stunden ihre Ruhe. Minuten später war sie wieder eingeschlafen.

Erst kurz vor Mittag wachte Marina wieder auf. Die Sonne brannte jetzt mit ihrer ganzen Kraft zum Fenster herein und sie zog schnell die Vorhänge vor, bevor es zu heiß wurde. Sie schnupperte. Es roch bereits nach Essen. Marina streckte sich und stand dann auf. Ihre Schwester hatte sie wohl gehört, denn kaum stand sie auf beiden Beinen, kam die Nervensäge auch schon hereingestürmt.
„Es gibt gleich ESSSSSEN!“, schrie sie und sprang im Kreis um Marina herum.
„Ja ja, ich komm ja schon.“, sie drehte sich um und schüttelte die Bettdecke, danach das Kissen auf. Sie schnappte sich die Hose von gestern und ein ärmelloses Shirt. Ihre Schwester, die sie beobachtete, ignorierend, zog sie sich an und ging ins Bad.
„Morgen!“, grummelte sie ihrer Mutter zu, als sie an der Küche vorbei ging.
Marina putzte sich schnell die Zähne und fasste ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Bis sie wieder zurück zur Küche kam, stand schon alles auf dem Tisch und ihre Mutter schaufelte jedem eine Portion Nudeln in den Teller. Unter den Augen ihrer Mom lagen dunkle Ringe, sie wirkte, als hätte sie heute Nacht nicht viel geschlafen, was schlecht war, schließlich musste sie in der kommenden Nacht, besser gesagt, in den frühen Morgenstunden, die ganze Strecke nach Italien mit dem Auto fahren. Sonja war wohl wirklich zu ihrer Mutter gegangen, nachdem sie bei Marina erfolglos gewesen war.
Sie setzten sich alle an den Tisch und fingen an, die Nudeln mit Tomatensoße zu essen. Ein kleiner Vorgeschmack auf ihren Urlaub. Die Soße war aromatisch und fast ein wenig zu scharf. Marina nahm einen Schluck Wasser.
„Marina, könntest du bitte nach dem Essen die Küche aufräumen, damit ich noch packen kann?“ Ihre Mutter sah sie an.
„Mach ich, Mom.“ Sie nahm noch eine Gabel voll. Nachdem sie heruntergeschluckt hatte sprach sie weiter: „Kannst du mich danach vielleicht auf den Hof raus fahren?“
Ihre Mutter nickte: „Wenn ich Sonja bei Oma abgeliefert hab, fahr ich dich schnell. Ich brauche dringend noch ein paar Stunden Schlaf. Wahrscheinlich kann ich dich aber erst nach dem Abendessen wieder abholen.“ Sie sah sie fragend an.
„Kein Problem, dann brauche ich mich wenigstens nicht so zu beeilen.“
Marina war erleichtert, dass sie den Nachmittag auf dem Mühlenhof verbringen konnte. Zusammen mit ihrer besten Freundin Beauty. Einem verfressenen, braunen Islandpferd.
Nachdem die drei mit dem Essen fertig waren, brachte Marinas Mom Sonja ins Bett zum Mittagsschlaf und verzog sich dann in ihr Schlafzimmer, um zu packen. Marina begann damit, die Teller und das Besteck in die Spülmaschine zu räumen und wischte dann den Tisch ab. Sie öffnete das Fenster, um ein wenig Sommerluft herein zu lassen. Danach ließ sie Wasser ins Spülbecken und wusch die beiden Töpfe ab. Sie mochte diese Aufgabe, dabei konnte man wunderbar die Gedanken ziehen lassen. Während ihre Hände der monotonen Arbeit nachgingen, stellte sie sich vor, einfach aus dem Fenster zu springen und auf das Dach des anderen Hauses zu fliegen. Oder vielleicht auch über den Fluss hinweg auf den bewaldeten Hügel dahinter. Nur, um sehen zu können, was dahinter lag. Sie stellte sich vor, wie sie immer höher und weiter flog. Den Wind in ihrem Gefieder und auf der Haut, die Sonne im Rücken. Das musste ein fantastisches Gefühl sein.
Marina brachte den Abwasch zu Ende und wischte den Herd und die Arbeitsflächen, als ihre Mutter mit einem dicken Koffer aus ihrem Zimmer kam. Sie war also auch schon mit Sonjas Sachen fertig. Jetzt standen ein kleinerer blauer Koffer und ein großer brauner im Gang und warteten darauf, ins Auto gepackt zu werden.
„Ich bin fertig.“ Marina stand in der Küchentür und trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab.
Ihre Mutter sah sich kritisch in der Küche um. Sie würde später sicher noch einmal nachputzen, weil ihr irgendwas nicht ordentlich genug war.
„Ok, dann mach dich fertig, damit wir fahren können.“
Das ließ sie sich nicht zwei Mal sagen. Aus ihrem Zimmer holte sie den Reithelm und ihre etwas mitgenommenen Handschuhe. Sie schlüpfte in die sauberen Stiefel und war bereit. Marina trug immer eine Jeans zum Reiten. In den speziellen Hosen, mit Lederbesatz im Schritt, fühlte sie sich einfach unwohl.
„Fertig!“, rief sie und legte die Hand an die Stirn, wie ein Soldat.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf: „Also wenn es ums Reiten geht, bist du immer schnell wie der Wind!“
Endlose Minuten musste sie noch warten, bis ihre Schwester sich ein Spielzeug, das sie mit zur Oma nehmen wollte, gesucht und gefunden hatte. Marina trat von einem Fuß auf den anderen. Sie wollte am liebsten schon zum Auto, aber ihre Mom gab ihr den Schlüssel nicht. Als ihre Mutter endlich die Schuhe anzog und sich ihren Koffer nahm, dachte sie schon, sie müsse platzen.
„Wir nehmen die gleich mit raus. Damit wir das in der Nacht nicht machen brauchen!“
Marina stöhnte, da würden wieder kostbare Minuten vergehen, bis das Gepäck nach den Vorstellungen ihrer Mutter im Kofferraum verstaut war. Ohne etwas zu sagen hievte sie ihr Gepäck hoch und lief hinter ihrer Familie aus der Wohnung zum Auto.
Der rote Kleinwagen stand schon am Straßenrand parat. Ihre Mutter hievte gerade ihren Koffer hinein, als Marina kam. So leicht wie gedacht war er doch nicht. Sie hatte auf dem Weg dreimal eine Pause einlegen müssen. Jetzt schwitzte sie wie ein Marathonläufer.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ihre Mutter damit zufrieden war, wie die Koffer im Auto platziert waren. Noch den Sonnenschirm auf die Rückbank, und alles, bis auf ihr Handgepäck, war verstaut. Marina ließ sich erleichtert auf den Beifahrersitz fallen. Ihre Schwester saß schon hinten in ihrem bunt gemusterten Kindersitz.
Ihre Mutter startete den Motor und der Wagen kam ruckend in Fahrt. Siebenundzwanzig Grad zeigte das Thermometer in der Anzeige. Marina kurbelte das Fenster herunter, die stickige Luft war kaum auszuhalten. Der Fahrtwind löste einige Strähnen aus ihrem Zopf, die ihr nun wild ins Gesicht peitschten. Sie schloss die Augen. Sonja sang bei dem Lied, das gerade im Radio lief, mit. Da sie kein Englisch konnte, waren die meisten Worte, die sie benutzte, völlig falsch und entfremdet.
Zehn Minuten Fahrt und sie standen vor dem kleinen Häuschen, in dem ihre Großeltern wohnten. Der Vorgarten war gepflegt und einige Büsche trugen protzige, rosafarbene Blüten. Ihre Mutter sagte Marina, sie solle kurz im Wagen warten. Sie nahm Sonja aus dem Sitz und ging mit ihr an der Hand die Stufen zur Eingangstür hinauf. Eine alte, gebeugte Frau mit silbergrauem Haar öffnete die Tür. Ihre Großmutter winkte Marina kurz zu. Marina winkte zurück. Hoffentlich dauert es nicht zu lang.
Marina bemerkte gar nicht, wie ihre Mutter wieder in das Auto stieg und den Motor anließ.
„Du hast den Kopf schon wieder in den Wolken.“, stellte sie fest, als Marina bei einer Bodenwelle zusammenzuckte. Wenn sie wüsste, wie recht sie damit hat!
Sie fuhren aus der Stadt heraus, eine schmale, kurvenreiche Landstraße entlang. Marina konnte die Pferde schon riechen, sie mochte den Geruch. Für sie bedeutete er Frieden und Ruhe vor den Menschen. Ihre Mutter fand ihn einfach nur ekelhaft. Sie blieb nur kurz am Hof stehen, bis Marina ausgestiegen war. Dann drehte sie um und war schon wieder verschwunden. Endlich allein. Marina atmete ganz tief ein und genoss die Sonne in ihrem Gesicht für einen Moment. Der Reithof lag außerhalb der Stadt zwischen einigen Hügeln versteckt. Hinter den Ställen und der großzügigen Reithalle breitete sich ein großer Wald voller dunkler Fichten und Tannen aus. Marina fand, dass für Samstagnachmittag recht wenig Betrieb war. Sie konnte nur zwei andere Mädchen mit ihren Pferden erkennen, die sich gerade zu dem Waldweg wendeten, und einen Stallburschen, der eine voll beladene Schubkarre Heu vor sich her schob.
Sie wandte sich um und rannte Richtung Stall. Das flache Gebäude duckte sich zwischen hohen Tannen. Die Pferde streckten neugierig die Köpfe aus den Luken, als sich Marina näherte. Eines der Tiere erkannte sie und wieherte ihr zur Begrüßung entgegen. Beauty trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, als Marina vor ihrer Box stand.
„Ist ja gut, meine Liebe. Ein paar Minuten wirst du noch aushalten müssen, bevor wir los können!“ Sie hatte seit gut zwei Jahren eine Reitbeteiligung an ihrem Liebling. Zweimal in der Woche kam sie her, um mit ihr Ausreiten zu gehen.
Eine Hand legte sie auf die warme Nase des Tieres und Beauty beruhigte sich ein wenig. Als das Pferd schnaubte, trat Marina zurück: „Ich hol nur noch schnell dein Zeug!“, rief sie der braunen Stute zu und ging zu der Kammer am Ende der Stallungen. Marina öffnete die knarrende Tür. Drinnen war es stickig und sie konnte Unmengen von Staub erkennen, der durch den Lichtstrahl, den sie mit hinein brachte, sichtbar wurde. Hier drinnen roch es etwas feucht und nach Leder.
Marina suchte sich aus einer großen Kiste am Boden einen Striegel und den Hufkratzer.
Zurück bei Beauty ging sie in die Box und begann ihr Fell durchzubürsten. Da das Wetter seit einigen Tagen schon gut war, gab es nicht allzu viel zu dabei zu tun. Einige Strohhalme zupfte sie aus der dichten Mähne des stämmigen Kleinpferdes und an der Stelle, an der der Sattelgurt lag, versuchte sie, soviel Staub wie möglich zu entfernen. Aus den Hufen kratzte sie einige Steinchen und Dreck, der sich fest getreten hatte. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, brachte Marina die Putzutensilien wieder zurück und nahm aus derselben Kammer den Sattel und das Zaumzeug mit.
Beauty stand ganz still, als Marina ihr den Sattel an die richtige Stelle ihres Rückens schob. Beim Aufzäumen brauchte Marina etwas Überredungskunst, da die Stute den Kopf immer wieder hochwarf, aber beim dritten Versuch klappte es schließlich.
„Stell dir vor“, erzählte Marina dem Pferd, während sie es aus der Box führte: „Markus hat mich gestern im Bus angelächelt! Kannst du das glauben?“ Beauty schüttelte, wie um ihr eine Antwort zu geben, den Kopf. „Ja, du hast Recht. Ich glaube es eigentlich auch nicht.“
An dem Waldweg angekommen stieg sie auf. Marina brachte die Steigbügel in die richtige Länge und setzte sich gerade auf. Mit einem leichten Druck ihrer Schenkel gegen den Pferdebauch gab sie Beauty das Zeichen zum Schritt. Gemächlich lief die Stute los. Ein wenig zu gemächlich. Marina stupste sie noch einmal mit den Beinen an und schob die Hüfte gleichzeitig vor. Beauty fiel in einen flotteren Schritt. Das Mädchen passte sich den Bewegungen des Pferdes an und ließ die Zügel ein wenig aus der Hand gleiten. Die erste Zeit behielten sie dieses Tempo bei, damit sich Beauty in Ruhe aufwärmen konnte. Der Waldweg war breit genug, damit zwei Pferde nebeneinander gehen konnten und führte schnurgerade zwischen den Bäumen hindurch. Das Licht war hier wie ein allgegenwärtiger grüner Schimmer. Die Luft roch feucht und frisch, im Schatten des Waldes war die Hitze leichter zu ertragen. Jeder Tritt des Pferdes war ein dumpfer Schlag auf dem moosigen Boden. Hin und wieder raschelte es zwischen einigen Blättern, ansonsten war es vollkommen still. Nach einer Weile nahm Marina die Zügel auf und machte sich etwas schwerer. Sie verkürzte die Schritte des Pferdes und schob es mit der Hüfte in den Tölt, einer speziellen Gangart der Isländer. Sie saß völlig ruhig auf Beauty, während sie im flotten Tempo den geebneten Weg entlang ritt. Der Gegenwind kühlte beide etwas ab, der Schweiß auf Marinas Haut trocknete. Sie behielten den Gang für einige hundert Meter bei, dann bremste Marina ab. Dort vorne war ein schmaler Pfad, der tiefer in den Wald hineinführte. Das war ihre liebste Strecke. Sie war dort noch nie anderen Reitern begegnet und die Strecke eignete sich hervorragend zum Galoppieren. Der Weg war gerade breit genug für die beiden. Hier und da streifte ein Busch an Marinas Beinen entlang. Einige Kurven und eine sanfte Steigung würden sie auf eine idyllische kleine Lichtung führen. Dort konnten sie dann gemeinsam den Nachmittag genießen.
„Bist du bereit zu fliegen?“, fragte sie die Stute und tätschelte ihren Hals. Marina lenkte Beauty auf den schmalen Weg, der Wald hatte sie sogleich verschluckt und vom Hauptweg aus waren sie nicht mehr zu sehen. Sie verlagerte ihr Gewicht nach hinten und gab dem Pferd die Schenkelhilfe zum Galopp. Sofort sprang Beauty los, als habe sie nur darauf gewartet, endlich laufen zu dürfen. Marina ließ ihr wieder mehr Zügel, Beauty kannte den Weg. Als sie ihr Gewicht aus dem Sattel nahm, indem sie sich nach vorne beugte und das Gesäß anhob, konnte das Pferd noch etwas schneller laufen. Marina konzentrierte sich nur darauf, ihr Gleichgewicht zu halten, und genoss den Ritt. Manchmal stellte sie sich vor, sie bräuchte nur die Flügel auszubreiten um sich vom Pferderücken aus in die Lüfte zu erheben. Sie schloss die Augen. Das schnelle Trampeln der Hufe, Lichtreflexe, grüne und gelbe, und der Wind in ihren Haaren erfüllten ihr ganzes Sein. So könnte ihr Leben doch immer sein?

Die Sonne stand tief im Westen, als Marina und Beauty den Hof zwischen den Bäumen erspähten. Beide waren außer Atem von dem schnellen Ritt nach Hause. Marina hatte die Zeit völlig vergessen, während sie auf der Lichtung im Gras lag und zu den weißen, sich windenden Wolken emporschaute. Beauty nutzte die Zeit lieber, um sich zu wälzen und ein wenig zu grasen.
Ihre Mutter würde sicher wütend sein, falls sie schon auf ihre Tochter wartete. Als sie die Bäume hinter sich ließen, warf Marina einen Blick zum Parkplatz. Das Auto stand nicht da. Zum Glück. Sie brachte Beauty in ihre Box, nahm ihr den Sattel und den Zaum ab und brachte beides in die Sattelkammer. Wieder mit dem Putzzeug bewaffnet kam sie zurück und rieb dem Pferd den Schweiß aus dem Fell und säuberte ihre Beine. Marina verstaute gerade alles wieder in der Kiste, als ihre Mutter auf den Hof fuhr. Sonja saß hinten und winkte ihr. Das Mädchen verabschiedete sich von Beauty und schob ihr noch ein Leckerli ins Maul, dann rannte sie zu ihrer Mutter, die jetzt neben dem Auto stand und ungeduldig mit den Fingern aufs Dach trommelte.
„Und, wie war’s?“
„Schön!“ Marina warf sich auf den Beifahrersitz.
Ihre Mutter stieg ebenfalls wieder ein. Sie rümpfte die Nase, als sie ihre große Tochter sah, sagte aber nichts.
Zu Hause ging Marina sofort ins Bad und ließ sich die Wanne voll laufen. Sie legte sich mit einem wohligen Lächeln im Gesicht ins Wasser. Schweiß und Staub hatten sich auf ihrer Haut zu etwas Unschönem vermischt. Sie glitt tiefer, bis ihr Kopf unter Wasser verschwand und tauchte erst wieder auf, als ihre Lungen protestierten.
Erst als ihre Finger und Zehen schrumpelig wurden und sie sich wieder völlig sauber fühlte stieg sie aus der Wanne.
Ihre Mom sah sich gerade die Nachrichten an und Sonja war schon im Bett, darum beschloss sie, noch ein wenig zu lesen.
Das Buch, das sie im Moment las, handelte von einer Frau, die Visionen hatte und der Polizei half, Verbrechen aufzuklären. Nach einigen Seiten fielen ihr die Augen zu. Sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ihre Gedanken schwirrten umher, wie die Insekten an einem lauen Sommerabend.
Es war ihrer Meinung nach etwas früh, um ins Bett zu gehen, doch sie war müde und am nächsten Tag musste sie schließlich sehr zeitig aufstehen. Marina legte das Buch auf ihre Handtasche, in der sich auch der aufgeladene MP3-Player befand, damit sie es morgen nicht vergaß.
Sie warf noch einen Blick ins Wohnzimmer und wünschte ihrer Mutter gute Nacht, dann schlich sie in ihr Zimmer. Sonja öffnete kurz die Augen, als sie den Raum betrat, doch sie drehte sich um und schlief weiter ohne etwas zu sagen.
Marina schlüpfte unter ihre Decke und sah zum Fenster hinaus. Der Mond war hinter einer großen, schwarzen Wolke verborgen. Sie gähnte und drehte sich auf den Rücken.
Ob man als Flugler wohl auch auf den Rücken liegen konnte, oder störten die Flügel dabei?
Ein Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Irgendwann würde sie das herausfinden. Irgendwann. Und schon morgen würde sie das Meer wieder sehen. Sie dachte an das Schillern der Sonne auf den Wellen und das Kreischen der Möwen.
Selbst im Schlaf blieb das Lächeln auf ihrem Gesicht erhalten.

Danke für die Korrektur! Habs gleich geändert.
lg
 



 
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