flammarion
Foren-Redakteur
Tante Gerda
Als ich sie kennen lernte, war sie schon Mitte zwanzig und hatte für ihre 150cm Scheitelhöhe genügend weiblich Rundes, dazu ein freundliches Gesicht, war meist fröhlich, besonders, wenn fremde Leute in unserer Wohnung waren. Ansonsten war sie sehr ruhig und hatte nur selten eine eigene Meinung. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie gierig an der Zigarette sog (Rauchen war bei ihr ein trotziger Ausdruck von Erwachsensein und Selbständigkeit), und mit der anderen Hand imaginäre Falten in ihre Kittelschürze hinein- und wieder herausdrückte. Ihre rechte Hand benötigte ständige Bewegung, und war sie auch noch so unsinnig.
Dem Alter nach hätte sie bequem meine Mutter sein können, und oft mag sie sich eingebildet haben, so etwas wie eine Mutter für mich zu sein, denn sie kaufte etliche Jahre lang die gleichen Kleider für ihre Tochter und mich, ihre Tochter dabei mitunter hintanstellend. Waltraud war es gar nicht recht, als Backfisch noch das gleiche Kleid wie ein kleines Mädchen zu tragen, und es dauerte einige Kämpfe, ehe die Mutter das Modebewusstsein der Tochter akzeptierte. Von da an kaufte sie nichts mehr für mich, nur noch zu Weihnachten, wofür ich durchaus Verständnis hatte. Sie hatte mir gegenüber keine Verpflichtungen, und ich wusste, dass ich nicht das Recht hatte, irgendwelche Ansprüche zu stellen. Nur, wenn ich irgend etwas sehr heiß begehrte, das - nach meinem Kenntnisstand - nur sie mir beschaffen konnte - wurde ich mit meinen Bitten aufdringlich. Das war dreimal der Fall, als ich Lackbilder, Murmeln und ein Spielzeugauto begehrte. Letzteres bekam ich nie, ein Mädchen spielt nicht mit Autos, das bleibt den Jungs vorbehalten.
In mein Poesie-Album schrieb sie mir: "Liebe das Mutterherz, solange es schlägt, wenn es gebrochen ist, ist es zu spät." Aber sie beteiligte sich meist lebhaft daran, wenn über meine Mutter schlecht geredet wurde. Ich konnte Gerda beim besten Willen nicht als meine Mutter betrachten. Ich hatte eine leibliche Mutter, die ich schon deshalb liebte, weil immer wieder behauptet wurde, dass ich genau so dämlich sei wie sie. Wenn ich von Gerda wenigstens irgendetwas gelernt hätte! Aber sie vertrat generell Idas Meinungen und Ansichten; und häufig neckte sie mich aus Spaß, bis ich weinte. Ich bemühte mich stets, diese Vorkommnisse schnell zu vergessen. Es war nur Spaß; und es war mein Fehler, dass es mir wehtat.
Aus bei Familienfeiern Mitgehörtem weiß ich, dass sie mich nicht in meinem Kinderwagen spazieren fuhr. Sie fürchtete, die Nachbarn könnten denken, sie habe nun schon das zweite uneheliche Kind.
Mit Sicherheit hat sie mit mir all die Kleinkinderspiele gespielt, die ihr bekannt waren, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Eben, weil sie alles Gute am selben Tag unbewusst durch die Neckereien wieder wettmachte. Sie war nicht in der Lage, ein kleines Kind bereits als einen Menschen anzusehen, eher als ein lebendiges Ding. Und weil sie häufig schlecht über meine Mutter sprach und mir vorwarf, so "dämlich" wie meine Mutter zu sein, stieß sie mich ja von sich. Aber ich glaube, dass ihr auch das nicht bewusst war. Durch die ständigen Neckereien und die üblen Nachreden konnte ich jedenfalls nie unterscheiden, was Ernst und was Spaß war. Ich fiel immer wieder herein und "ärgerte mir die Platze".
Wahrscheinlich konnte Gerda sich keine Vorstellung davon machen, was "Mutter" bedeutet. Von ihrer eigenen Mutter war sie zum Tode verurteilt worden, und Ida ist mit ihr höchstwahrscheinlich genauso umgegangen wie mit mir. Obendrein durfte sie sich noch von ihrem Ziehvater anhören: "Dich haben wir uns gekauft", als wäre sie ein Gegenstand. Als sie dann mit siebzehn Jahren Mutter wurde, war sie vielleicht sogar froh, dass Ida ihr die Sorge um die Tochter abnahm. Vermutlich war Gerda der Meinung, dass eine Mutter ihrer Pflichten zur Genüge nachkommt, wenn sie dafür sorgt, dass ihr Kind stets satt zu essen hat und sauber angezogen ist, doch das genügt nicht einmal für ein Baby, auch das benötigt die liebevolle Zuwendung, die jeder Mensch ein Leben lang ersehnt. Sie besuchte ihre Tochter nur selten. wie sollte sie bei fehlendem Verständnis für das eigene Kind Verständnis für mich aufbringen?
Dennoch fragte ich sie - in dem normalen Drang jedes Kindes - woher ich gekommen sei? Sie antwortete schmunzelnd: "Dich haben wir in der Regenrinne gefunden." Ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich fragte meine Patentante Grete L., sie musste es wissen! Und sie antwortete mir, dass ich beim Bettenmachen gefunden wurde.
Ich erinnere mich nicht daran, ob Gerda mir irgendein Lied beigebracht hat, irgendein Spiel oder sonst etwas. Nur zwei ihrer Redensarten sind mir gegenwärtig: "Schtille biste, Schtulle kriste, Bette jehste, vaschtehste?" - "Siehste, siehste, der Kaktus schteht in ne Wüste!" und ein Lied, welches sie häufig bei Familienfeiern zu singen gebeten wurde. Ich versuchte vergeblich, mir den Text einzuprägen. Sie sang das Lied mit dem italienischen Originaltext, und es ist schwierig, sich Worte zu merken, die einem völlig unverständlich sind. Sie hatte dieses Lied von Waltrauds Vater gelernt, und Alfred - ihr Ehemann - blickte entsprechend sauer, wenn sie es mit ihrer zittrigen Stimme sang. Ich verdolmetschte mir den Liedanfang so: "Mama santa fanta lietsche, Mama santa fantala, leih mir ganz ohne Gequietsche dein ganzes Geld jedes Jahr." Ich ließ meine Variante niemals verlauten, denn ich spürte unbewusst, wie viel der Gerda dieses Lied bedeutete und dass mein Text - obwohl der pure Spaß - sie verletzen würde. Es handelte sich hierbei um das Lied "Mama", welches in den Fünfzigern von Bärbel Wachholz und in den Sechzigern von Heintje mit unterschiedlichem deutschen Text gesungen wurde.
In einigen wenigen Punkten war Gerda nachsichtiger als Ida, z.B. was den Bewegungsdrang von Kindern anging. Wo Ida mich längst angebrüllt hätte: "Wißte woll endlich schtille schtehn!", sagte sie immer noch: "Det Kind muss sich doch eenma am Tach bewejen könn!" So glaubte ich eines Tages, als ich - vierjährig - nach einem Besuch bei Gerda unbedingt bei ihr übernachten wollte, dass ich mich in ihrer Wohnung mal so richtig austoben könnte. Ich lief durch die Zimmer wie auf einer Rennbahn, tanzte in der Küche, hüpfte im Flur und vollführte danach eine Rolle rückwärts auf dem weichen Bettvorleger. Gerdas sanfte Ermahnungen ignorierte ich. Letztendlich drohte sie: "Wenn de jetz nich jleich aatich bist, schleefst de die Nacht in n Kohlnkasten!" Ich lachte, ich hielt diese Drohung für einen Witz.
Endlich hatte ich mich ausgetobt und sah mir ein Bilderbuch an, bis das Abendbrot auf dem Tisch stand. Ich wusch mir die Hände, aß so manierlich wie ich konnte und war begeistert, als Gerda mich bat, beim Tischabräumen zu helfen, denn das durfte ich bei Ida nicht. Gerda machte die Betten zurecht, gab mir ein Nachthemd, welches Waltraud zu klein geworden war, und schlug danach den Kohlenkasten mit etlichen Zeitungen aus. Ich fragte lachend: "Wat machst du denn da, Tante Jerda?" - "Na, du schleefst doch heut Nacht in n Kohlnkastn, ha ick dir doch vaschprochn, wenn de nich uffhörst zu tohm. Du hast weita rumjetobt, also schleefst de jetz in n Kohlnkastn. Zieh dir man det Nachthemde bloß so üba de Sachn, damit de nich friast." Ich konnte es nicht fassen - sie hatte das mit dem Kohlenkasten ernst gemeint! Sie faltete etliche Zeitungen zu einer Bettdecke zusammen und wartete darauf, dass ich mich in den schmutzigen Kohlenkasten legte! Für mich brach eine Welt zusammen. Gerda war nicht besser als Ida, auch bei ihr durfte ein Kind sich nicht frei bewegen. Ich weinte, bis sie mir das Versprechen abnahm, nie wieder so herumzutoben. Dann gestattete sie mir, wie schon mehrmals vorher, auf der "Besucherritze", auf den Mittelkanten der Ehebetten, zu schlafen. Ich wollte nie wieder bei ihr übernachten, aber nach Familienfeiern war es noch ein paar mal nötig.
Im Sommer 49 - ich war also fünfeinhalb Jahre alt - zog Gerda in eine größere Wohnung. Ich wollte unbedingt diesen Umzug nach Pankow miterleben und bot meine Hilfe an. "Wat du schon helfen kannst!" hieß es da. "Du schtehst doch höchstns bloß im Weech!" Aber ich bat solange, bis man mir doch gestattete, beim Umzug zu helfen. Es waren ja schließlich auch etliche kleine Dinge die Treppen hinauf und hinunter zu tragen. So packte ich also tüchtig mit an, bis nur noch die schweren Sachen zu tragen waren. Da wurde ich auf den Hof spielen geschickt: "Aba loof ja nich weg, wir kenn die Jejend hier noch nich so jenau. Wenn de wegloofst, findn wa dir nich wieda! Außadem jibt et jleich Mittach."
Ich ging also auf den Hof und wartete darauf, zum Essen nach oben gerufen zu werden. Ich ahnte, dass es einige Zeit dauern würde, denn wenn man eine neue Wohnung bezieht, hat man nicht gleich alles parat. Ich fasste mich in Geduld und hatte auch meinen Hunger längst beiseite geschoben. Ich sah mich auf dem Hof um. Da waren nicht viele Spielmöglichkeiten. Die Klopfstange stand so nahe an der Wand, dass ich es nicht wagen konnte, daran zu turnen. Auch war sie so verrostet, dass ich fürchtete, sie würde mein Gewicht nicht aushalten.
Außer der Klopfstange gab es nur noch die Mülltonnen, die mich nun wirklich nicht zum Spielen einluden. Ich hatte kein Spielzeug mitgenommen, ich war ja zum Arbeiten mitgefahren. So stand ich nun auf dem kleinen Hinterhof und wusste nicht, was ich beginnen sollte.
Ich suchte nach kleinen Steinchen oder Scherben, denn damit kann man immer etwas spielen. Aber auf diesem Hof fand sich nichts dergleichen. Was ich dann als "kleine Steine" aus dem Boden klaubte, war doch schon ein wenig größer. Doch unter den Steinen hatten Insekten ihre Eier abgelegt, die sich bereits zu Larven entwickelt hatten. Ich ließ die Maden über meine Hände krabbeln, bis mir einfiel, dass sie im nächsten Stadium Mistfliegen werden würden. Da zerquetschte ich sie alle mit den Steinchen und suchte unter weiteren Steinen nach den Maden. Ich wollte sie alle vernichten, damit Gerda nicht im Sommer unter der Fliegenplage zu leiden haben würde. Endlich hatte ich einen sinnvollen Zeitvertreib!
Doch bald waren keine Maden mehr zu finden, und die Langeweile zog wieder ein. Ich war schon drauf und dran, nach oben in die neue Wohnung zu gehen, aber ich wollte Gerda nicht durch vorzeitiges Erscheinen verärgern. Ich setzte mich auf die Haustürschwelle und rief eine meiner Phantastereien auf, die ich mir ansonsten vor dem Einschlafen gönnte. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass Gerda mich in diesem Winkel nicht erblicken konnte, wenn sie aus dem Fenster sah. Entsprechend besorgt klang ihre Stimme, als sie mich endlich rief.
In der Wohnung angekommen, schickte sie mich sofort ins Badezimmer zum Händewaschen, meine Hände waren so schmutzig, wie ich sie schon seit langem nicht mehr "hinbekommen" hatte. Natürlich wollte Gerda wissen, wie ich das angestellt hatte, und ich erzählte ihr gewohnheitsmäßig die volle Wahrheit, ich verschwieg lediglich, dass und warum ich die Maden erschlagen hatte, denn eines der zehn Gebote lautet: Du sollst nicht töten. Sie keifte: "Wat? Du schpielst mit Madn? Biste denn völlich blöde? Mit sowat eklijet schpielt keen Schwein! Naja, du bist villeicht mal die jrößte Drecksau von janz Berlin!"
Wenn ich - sechs bis achtjährig - mit ihr zusammen eine Straßenbahn- oder Busfahrt zu unternehmen hatte, schärfte sie mir vorher ein: "Wenn dir eena fraacht, denn biste erst fümwe, klar? Ick hab nich soville Jeld for ne Faakate for dir." Man beachte, dass eine Kinderfahrkarte seinerzeit nur zehn Pfennige kostete.
Um uns Kinder zu unterhalten, setzte sie manchmal ihre Fingerspitzen auf den ersten Knöchel des nachfolgenden Fingers, also den Mittelfinger auf den Zeigefinger, den Ringfinger auf den Mittelfinger und den kleinen auf den Ringfinger. Das sah lustig aus. Dazu sagte sie: "Lieba Jott, lass Banaan wachsn!" Wir machten das gerne nach und amüsierten uns über die kleinen runden Fensterchen, die auf diese Weise zwischen unseren Fingern entstanden.
Wenn wir im Herbst bei einem Spaziergang an einem Ahornbaum vorbeikamen, hob Gerda die herab gefallenen Früchte auf, öffnete sie an ihrem dicken Ende und setzte sie sich auf die Nase. Auch das fanden wir sehr lustig und machten es nach, auch, wenn wir später alleine zu einem Ahornbaum kamen, der seine "Nasen" abgeworfen hatte. Für mich war dadurch - bis zu meinem 14. Lebensjahr - ein Ahornbaum stets nur ein "Nasenbaum".
Gerda hatte übrigens Schneiderin gelernt, hatte aber kaum Gelegenheit, in diesem Beruf zu arbeiten, denn damals (1940) hätte sie nur in einer Schneiderei für Militärmäntel Anstellung bekommen, und das war für die immer noch sehr zierliche kleine 19jährige körperlich zu schwer. Und mitten in die Lehrzeit fiel ihre Schwangerschaft, sodass sie es mit den Prüfungen nicht leicht hatte, aber mit der Note "Gut" bestand.
Da sie in keiner Damenschneiderei Anstellung finden konnte, ging sie zu DEGUFA. Ich entsinne mich nicht, dass Gerda jemals irgendetwas genäht hatte, außer den beiden Kleidern für die "Lotte-Puppen". Ich wusste zwar, dass sie eine Nähmaschine besaß, aber in unserer Wohnung stand auch eine "Singer" unbenutzt herum. Waltraud erzählte mir 1990, dass Gerda Kleider und Mäntel für uns genäht habe, jedoch ich erinnere mich nicht daran. Ich vermute, dass Gerda nur für Waltraud genäht hatte.
Nach dem Krieg, als die Fabrik kaputt wie ganz Deutschland war, hatte sie das Glück, in einer Gärtnerei Arbeit zu finden, wo nicht nur Blumen gezüchtet wurden, sondern auch Gemüse angebaut wurde. Weil Geld zu jener Zeit auch bei den kleinen Unternehmern sehr knapp war, bekam Gerda einen Teil des Lohnes in Naturalien. So hatten Ida und die Ihrigen regelmäßig frisches Gemüse und Kartoffeln, zu jener Zeit ein großer Segen. Dennoch fuhren Gerda und Irma des Öfteren auf die Felder zum "Stoppeln", wie ich häufig bei Familienfeiern aus trunkenheitsverworrenen Berichten heraushörte, wo diese gefährlichen Fahrten als lustiges Abenteuer geschildert wurden.
Durch die Tätigkeit in der Gärtnerei erfuhr Gerda so nebenbei auch die Namen der meisten Gartenblumen. Dieses Wissen gab sie an ihre Tochter weiter und die übermittelte es mir dann später zu meiner großen Freude.
Zu meiner Jugendweihe schenkte sie mir etwas für meine "Aussteuer". Darüber war ich direkt erschrocken, denn ich hatte nicht vor, jemals zu heiraten. Diese Geschenke machten mir regelrecht Angst. Ich fürchtete, Ida könnte eines Tages sagen: "Jetz haste ne Aussteua, nu heirate ooch!", und ich müsste dann - so wie es in ihrer Jugend häufig vorkam - einen Mann heiraten, den ich gar nicht liebe!
Diese "Aussteuer" bestand aus einem großen und einem kleinen Frotteetuch, einem Laken, welches Gerda nach Idas Tod wieder an sich nahm und einem lindgrünen BH, der mir um so viel zu groß war, dass er mir zeitlebens nicht gepasst hätte. Gerda erwartete, dass ich einen ähnlich stattlichen Busen wie meine Mutter bekommen würde. Meiner Mutter passte der BH, und sie hat ihn gern und lange getragen.
Gerda wurde 75 Jahre alt.
Die Fahrt nach "Präng"
Alfred hatte eine Tante in Prenden, die ein wenig vermögend war. In der Hoffnung, einmal ihr Häuschen zu erben, besuchte er sie regelmäßig. Der Ortsname wurde von allen Familienmitgliedern stets "Präng" gesprochen, erst 1991 erfuhr ich, dass "Prenden" gemeint war, welches ja dicht bei Berlin liegt, so wurde mir klar, dass jene Reise, die mein Gedächtnis als "Fahrt nach Präng" gespeichert hatte, in Wirklichkeit zu einem anderen Ort führte.
Im Spätsommer 1947 erreichte uns die Nachricht, dass eine Tante unbedingt und recht bald die Waltraud zu sehen wünschte, um festzustellen, ob sie würdig war, später einmal ihr Haus zu erben. Ich glaubte, dass es sich um die Tante aus "Präng" handelte, es war kaum möglich, dass Alfred zwei Erbtanten hatte. Nun herrschte helle Aufregung bei uns. Waltraud wurde neu ausstaffiert und die Sache auch mit Grete L. besprochen. Ida hatte mich bei Grete L. für die Dauer der Fahrt in Obhut geben wollen, aber aus irgendeinem Grunde ging das nicht. Ich hörte Grete L. sagen: "Nehm man die Jöre ruhich mit, wer weeß, vielleicht jefällt die alte Schachtel die Christa ville bessa als die Waltraud, un denn erbt die die janze Soore!" (sie war fest überzeugt, dass man nur durch Diebstahl oder Betrug zu Reichtum kommen kann. “Sore” ist unrechtmäßig erworbenes.) Ich prustete vor Lachen - wem sollte die blonde, blauäugige, zierliche und damenhafte Waltraud wohl nicht gefallen? Derjenige konnte doch überhaupt keinen Geschmack haben!
Nachdem Ida der Tante unsere Ankunft brieflich mitgeteilt hatte, zogen wir eines Tages vor Morgengrauen los. Ich plärrte, weil unausgeschlafen, aber Ida zog mich rigoros mit sich. Endlich tröstete mich Irma in einem gewissen Singsang "Jetz fährste mit de Puffpuffbahn, mit de Huschhuschbahn, mit de Eisenbahn, damit kann nich ein jeda fahn, aba Christa kann mit de Puffpuffbahn, Puffbahn fahn!"
Sie trug unser Gepäck zur Bahn, worin sich außer Proviant, Beschäftigungsmaterial und Wechselkleidungsstücke - man kann nie wissen, was auf einer langen Bahnfahrt alles passiert und Waltraud sollte doch "wie aus dem Ei gepellt" sein - auch ein Geschenk für die "Erbtante" befand. Man geht nicht ohne Geschenk zu Besuch. So verflog meine Müdigkeit, und ich fieberte dem Abenteuer entgegen. Es erwies sich als arge Strapaze. Auf dem Bahnhof herrschte ein heilloses Gedränge. Ich musste mich an Idas Mantel festklammern, um nicht von ihr getrennt zu werden. Irma konnte uns nicht bis an den Zug bringen. Damals musste man, wenn man keine Fahrkarte hatte, beim Betreten des Bahnhofs eine Bahnsteigkarte kaufen. Soviel Geld hatten wir nicht. Also trug Ida jetzt das große Gepäck und hatte keine Hand frei. Waltraud folgte uns mit dem kleinen Gepäck. Sie war durch das Gedränge und den Lärm völlig verschüchtert. Nach langem Suchen und vielem Nachfragen befanden wir uns endlich im richtigen Zug und setzten uns in unser Abteil. Der letzte, den Ida fragte, hob mich - husch! In den Waggon.
Wir waren froh, dass der Zug nicht so überfüllt war wie der Bahnsteig. Jeder hatte bequem Platz. Ida reichte das Frühstück, bestehend aus Klappstullen. Waltraud war mäklig wie immer, ich aber biss herzhaft zu. Ida schimpfte über Waltrauds "Getue" und hielt ihr mich als Beispiel vor. Waltraud rümpfte die Nase und flüsterte: "Christa is doof und frisst viel!" Das war eine beliebte Äußerung von Ida, wenn sie ihrer Verachtung irgendeinem Menschen gegenüber Ausdruck verlieh. Ich legte die Stulle weg, aber Ida befahl mir, sie aufzuessen: "Wat man anjebissn hat, isst man ooch uff!" Diese Maxime hinderte mich später daran, eine mir unbekannte Speise zu probieren; ich hatte immer Angst, dass ich etwas, das überhaupt nicht schmeckt, aufessen muss.
Endlich bemerkte ich, dass der Zug fuhr, aber es war noch zu dunkel, um vor dem Fenster irgendetwas erkennen zu können. Ida gab uns unsere Bilderbücher. Bald hatten wir sie durchgeblättert. Wir besaßen sie schon länger und konnten nichts Neues mehr in ihnen entdecken. Nun spielten wir mit den Puppen, die Ida uns in die Manteltaschen gesteckt hatte. Aber es wurde mir bald langweilig, denn ich konnte Waltrauds Spielvorschlägen nicht so recht folgen. Ich war erst drei, sie neun Jahre alt. Sie wollte etwas spielen, das ihrem Bildungsstand entsprach.
Endlich stieg die Sonne über den Horizont und ich blickte begeistert in die Landschaft. AH! So sieht also die Welt aus! "Oma, kiek ma, sooo ne jroße Wiese!" - "Det is n Feld, du Dussel." Ich lernte: Wenn eine Wiese sehr groß ist, nennt man sie "Feld". "Oh, Omi - un da, da is die Erde janz putt!" Ida blickte kurz hinaus und schüttelte den Kopf über meine Blödheit: "Da is jeflüücht worn, Mensch!" - "Wat is n det, jeflüücht?" - "Na, der Baua hat sein n Fluch üba t Land jezooren." - "Wat hatta denn for n Fluch jesaacht?", fragte ich stark interessiert, denn jetzt wurde die Sache märchenhaft. Märchen waren mir das Liebste. Ida schalt mich ein saublödes Gör und widmete sich wieder ihrer Strickerei. Waltraud warf der Ida einen missbilligenden Blick zu, dann begann sie zu singen: "Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt . . ." Sie sang das ganze Lied und ich wusste nun etwas über Landwirtschaft.
Indessen ging die Fahrt weiter. Vor dem Fenster zogen Felder und Wälder vorbei. Nachdem ich den optischen Unterschied zwischen Misch- und Tannenwald festgestellt hatte, wollte ich natürlich wissen, warum der eine heller als der andere war und wurde auf die Schule vertröstet: "Der Leehra wird dir det schon allet beibring." Das ärgerte mich außerordentlich, denn es mussten ja noch soo viele Jahre vergehen, ehe ich schulreif war!
Manchmal erblickten wir auch kleine Dörfer, bis der Zug endlich in einer Stadt hielt. Ich sprang sofort auf, denn ich glaubte, wir seien am Ziel. Ida packte mich am Arm und setzte mich unsanft auf meinen Platz: "Wißte woll schdillesitzn, du Trampel!" Ich zeterte: "Sin wa jetz nich da?" - "Nee", erwiderte sie scharf, "wir müssn noch lange faahn."
Irgendwann stiegen wir auf einen anderen Zug um, das war eine mittlere Katastrophe, denn ich traute mich nicht vom Trittbrett herunter. Ich sah mich außerstande, mit meinen kurzen Beinen die nächste Stufe zu erreichen, die ich nicht einmal sehen konnte. Die Zugangsstufen der Eisenbahn befinden sich bekanntlich untereinander. Ida hatte beide Hände voll Gepäck, das sie nicht abstellen mochte - vor Taschendieben wird gewarnt! - und Waltraud war zu zierlich, um mir helfen zu können. Endlich kam ein Eisenbahner und hob mich plärrendes, ausgescholtenes Bündel vom Trittbrett herunter.
Da mir auf der weiteren Fahrt die Landschaft nichts Neues mehr zu bieten hatte, begann sie mich zu langweilen. Nun bastelte Waltraud aus dem Stullenpapier Spielzeug für uns: Sie riss geschickt Silhouetten heraus, mit denen wir eine selbst erdachte Geschichte spielten. Ida strickte, wenn ich nicht irre, an Winterstrümpfen. Bald konnte ich dem Spiel nicht mehr folgen, meine Zeit für den Mittagsschlaf war um einiges überschritten. Ich begann, am Daumen zu lutschen. Inzwischen waren einige Leute zugestiegen, sodass nicht mehr soviel Platz war wie in dem anderen Zug. Ida bettete meinen Kopf in Waltrauds Schoß, die nun stillsitzen musste, damit ich schlafen konnte. Zwangsweise gehorchte sie. Dann wurde ich unsanft geweckt, denn wir waren am Ziel. Schlaftrunken wie am Morgen taumelte ich aus dem Zug - ich war so müde, dass mir die Höhe der Stufen völlig gleichgültig war, ich ließ mich am Haltegriff hinab gleiten und war auf dem Bahnsteig, bevor eine hilfreiche Hand in Sicht war. Später hieß es dann, ich hätte mich beim Umsteigen absichtlich blöd angestellt. Und ich zittere noch heute, wenn ich auf eine Stufe steigen soll, die ich nicht sehe!
Nun waren wir in der Stadt angekommen, wo die Tante wohnte, die der Waltraud später vielleicht ihr Haus vermachen würde. Wir fuhren noch ein paar Stationen mit dem Bus, dann befanden wir uns in einer Stadtrandsiedlung, wo kleine, hübsche, gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser in einer langen, sauberen Straße standen. Ich erfreute mich an den vielen in voller Pracht erblühten Blumen und wunderte mich über die geharkten Straßenränder. Als ich zu einem Gartenzaun rennen wollte, um eine mir bis dahin unbekannte Blume näher zu betrachten, wurde ich von Ida unsanft am Arm zurückgerissen und die Gartenbesitzerin keifte: "Wenn Sie auf das Gör nicht aufpassen können, dann sollten Sie sie lieber zu Hause lassen!"
Ich ließ nun die Blumen Blumen sein und blieb auf dem ungeharkten Teil des Gehsteigs - wir mussten, da wir zu dritt waren – hintereinander gehen, bis wir bei dem Haus der Tante angekommen waren.
Ida vergewisserte sich, dass wir in vorzeigbarem Zustand waren, dann klingelte sie. Wir wurden von einer eisgrauen Dame inspiziert, die sich als erstes darüber mokierte, dass Ida noch ein fremdes Gör mitgebracht hatte: "Wie viele Leute soll ick denn noch bewirten?" Ida beruhigte: "Die Jörn essn nich viel. Außadem hab ick ooch selba wat zu Essn injepackt."
Wir wurden zu Kaffee und Kuchen hereingebeten. Waltraud aß wirklich nicht viel. Sie benahm sich wie eine Prinzessin, absolut untadelig. Ich aß Kuchen, so lange er reichte. Die Tante hatte nicht damit gerechnet, dass jemand mehr als ein Stück essen würde, aber Ida hatte nach der langen Bahnfahrt Appetit und aß zwei Stückchen, so ließ auch ich mir noch ein drittes geben, das ich aufaß, ohne einen körperlichen Nachteil davon zu haben. Übrigens habe ich nie wieder so winzig kleine Kuchenstücken gesehen!
Nach Erledigung der Gastfreundschaftspflicht wurde ich hinausgeschickt, weil ich der nun folgenden Unterhaltung nicht beizuwohnen hatte. Die Hausherrin sagte, ich könne im hauseigenen Buddelkasten spielen. Ich hatte ihn schon erblickt, als wir das Anwesen betraten. Ich lief schnell dorthin und freute mich, einen so großen Buddelkasten ganz für mich allein zu haben. Obendrein lagen da etliche Spielgeräte in tadellosem Zustand parat: Förmchen, Schippe, Eimer und sogar AUTOS!
Ich habe mit den Förmchen viele Kuchen gebacken und dann mit Hilfe der Schippe Wege zu den Kuchen geebnet - für die Autos. Sie sollten die Kuchen "zum Verkauf" fahren. Plötzlich stand ein Junge neben mir und schrie: "Wer hat dir erlaubt, mit meinem Spielzeug zu spielen?" Ich konnte nichts erwidern, denn ich wusste nicht, in welchem Verhältnis er zu der Hausherrin stand. War er ihr Sohn? Unwahrscheinlich, der Altersunterschied war zu groß. War er ihr Enkel? Das schon eher, aber wenn die Tante leibliche Verwandte hatte, warum ließ sie dann die Traute aus Berlin kommen?
Aufs Geratewohl sagte ich: "Deine Oma hat mir det alaubt!" Der Junge erwiderte scharf: "Ich habe keine Oma, und du machst jetzt, dass du aus dem Garten kommst, aber dalli!" Nun begann ich zu zetern: "Meine Oma is mit die Waltraud da drinne int Haus, kannst ja nachkieken! Ick dürf hier spieln!"
Er ging ins Haus und kurze Zeit später kam die graue Dame heraus und rief nach mir. Unwillig stieg ich aus dem Buddelkasten. Mir war klar, dass ich das kleine Paradies verlassen musste, um nie wieder dahin zurückzukehren. Die Dame vergewisserte sich, dass ich mir kein Spielzeug aus dem Buddelkasten eingesteckt hatte. Damit war unser Besuch in dieser Villa beendet. Ich weiß nicht, was Ida und die "Erbtante" miteinander geredet hatten, aber ich sah, dass Ida stark verärgert war und Waltraud ihren hochroten Kopf tief gesenkt hielt.
Als ich nun "auf Diebstahl" untersucht wurde, platzte Ida der Kragen. Sie griff unsere Mäntel und wir gingen eiligst zur Bushaltestelle. Ich war so verblüfft über die Tatsache, dass diese Dame angenommen hatte, ich könnte mir etwas von dem Spielzeug eingesteckt haben - ich, die ich mit Müh und Not das eigene Spielzeug vom Spielplatz mit nach Hause nahm! -, dass nichts mehr vom Gespräch der Erwachsenen in mein Gedächtnis drang. Ich weiß nur, dass über diese Reise in Zukunft der Mantel des Schweigens gehüllt wurde.
Wir saßen noch einige Zeit auf dem Bahnhof herum, ehe unser Zug einfuhr. Ich weiß nicht, ob wir wieder umsteigen mussten - es ist anzunehmen - ich weiß nur, dass ich schrecklich müde war und buchstäblich im Gehen schlief. In tiefster Nacht kamen wir zu Hause an.
Als Grete L. am anderen Tag wissen wollte, wie die Sache ausgegangen war, winkte Ida nur ab.
Etliche Jahre später sagte Gerda auf einer Familienfeier scherzhaft zu Waltraud: "Du wärst ja beinah so n Keetschn von Heilbronn jeworn!" So nehme ich an, dass wir damals nach Heilbronn gefahren waren . . .
Familienfeiern
Diese Tage waren stets zu kurz. Und ihrer zu wenige. Wenn ich mal bitte aufzählen darf: Von Idas Geschwistern lebten seinerzeit noch zwei in Berlin. Es hätte also außer ihrem Geburtstag noch den ihrer Schwester Rosa und den ihres Bruders Otto (mein Vater) zu feiern gegeben. Ich erlebte beides nie. Tante Rosa war verheiratet und hatte zwei Kinder. Ihr Mann verstarb vor meiner Geburt, ihren Sohn erblickte ich nur einmal bei einem kurzen Besuch in seiner Wohnung.
Ida zog mich vor diesem Besuch sehr sorgfältig an (mitten in der Woche das Sonntagskleid!), damit ich recht niedlich aussehe, dann stauchte sie mich ganz schrecklich zusammen und gebot mir, mich absolut anständig zu benehmen, also nie den Mund aufzumachen, weil ich uns sonst blamieren würde mit meiner Albernheit und aus ihrem Plan nichts wird. Sie hatte finanzielle Schwierigkeiten und hoffte, den Neffen anbetteln zu können.
Die Wohnung im Munizipal-Viertel am Weißen See erschien mir sehr dunkel, weil mit nahezu schwarzen Möbeln ausgestattet. Noch auf der Treppe sagte Ida: “Du saachst jarnischt und machst, wat ick saare, denn klappt det.” Ich begann, mich vor Idas Neffen zu fürchten. Er war gewiss ein strenger Mensch! Nach der Begrüßung, die erfreulich nett war, setzte Ida mich in den Flur, damit ich die Unterredung nicht störe. Die Tür blieb offen und ich dokumentierte mein Desinteresse an der im Zimmer stattfindenden Unterhaltung durch Absingen von Kinderliedern. Aber vielleicht war gerade das falsch, denn plötzlich riss Ida mich hoch und verließ zornig die Wohnung ihres Neffen.
Obwohl ich sang, hatte ich doch gehört, dass Ida meinetwegen bettelte. Der Neffe entgegnete: “Du hättest sie lassen können, wo sie war.” Ida nannte ihn herzlos. Die Tochter lernte ich nie kennen, und ich vergaß ihrer beider Namen ganz schnell, weil beide Personen der Ida wohl nicht viel bedeuteten und mir erst recht nicht, denn ich kannte sie ja nicht.
Niemals wurde Irmas Geburtstag gefeiert, jedenfalls nicht von Ida, Gerda, Waltraud und mir. Soweit ich mich erinnern kann, war Irma nur noch Idas Untermieterin.
Waltrauds Geburtstag wurde nicht als Familienfeier begangen. An diesem Tag unternahmen ihre Eltern etwas mit ihr, einen Ausflug oder Ähnliches.
Selbst die Geburtstagsfeiern für Ida und Gerda sind mir nur sehr undeutlich in Erinnerung. Weil das Geburtstagskind nicht besonders hervorgehoben wurde. Für mich waren es "Familienfeiern". Sie liefen nach einem vorgegebenen Schema ab: Zuerst gab es Kaffee und Kuchen, danach diverse Getränke. Während die Erwachsenen mehrere Flaschen Alkohol leerten, teilten wir Kinder uns eine Brause. Zwischen 18 und 19 Uhr gab es das Abendbrot. 1946 bis 1950 bestand es im Wesentlichen aus Schmalzstullen, nach 1950 gab es auch Schinken und Käse aufs Brot.
Es gehörte sich, dass ausreichend alkoholische Getränke vorhanden waren. Ihnen wurde rege zugesprochen. Und dann begann man zu singen. "Es geht ein Rundgesang um unsern Tisch herum, widibum, es geht ein Rundgesang an unserm Tisch herum. Dreimal drei is neuhene, ihr wisst schon, wie ich s meihene, dreimal drei und eins ist zehn, der . . . die . . . lässt ein n gehn!"
Der jeweils Angesprochene hatte nun ein Liedlein zum Besten zu geben. Wir Kinder durften in diesem Reigen auch unsere Stimmen ertönen lassen. Nach meinem "Alle meine Entchen . . ." (1947) zollte mir jeder Beifall, und ich wurde ganz verlegen, denn so viel Aufmerksamkeit war ich nicht gewöhnt. Von nun an drängte ich mich an den Tisch, wenn ich glaubte, dass wieder gesungen wird und wollte unbedingt mitsingen. Durch mein Drängeln verdarb ich aber unbewusst die Stimmung, und die Gesänge wurden erst viel später angestimmt, meist waren wir Kinder dann schon zu Bett geschickt worden.
Durch die Wand hindurch lauschte ich dann andächtig den Äußerungen der Erwachsenen: "Dort ohm uff m Berje, da schteht ein Klosett, da machen die Zwerje aus Kacke Konfekt! Holladrihia, holladio, holladrihia, holladrio!" oder: "Dort ohm uff m Berje, da schteht n Jerüst, da werden die Meedchen elektrisch jeküßt!" Ich liebte den Frohsinn und den gemeinsamen Gesang so sehr, dass ich über die Texte nicht nachdachte. Ich wollte nur mitsingen.
Von meinen eigenen Geburtstagsfeiern ist mir in Erinnerung, dass ich jedes Jahr einen Blumentopf bekam, den Ida dann sorgfältig pflegte. Mal waren es Primeln, die sehr schnell eingingen, mal Pantoffelblumen, die auch nicht lange hielten und auch stets voller Läuse waren, mal eine blaue Blume, deren Namen ich nicht weiß, die aber ebenso schnell einging wie alle anderen. Ich habe im tiefsten Winter Geburtstag, da sind Blumen der totale Luxus. Das erkannte ich aber erst durch den Schulunterricht. Es wunderte mich, dass man mir Luxusgegenstände schenkte, wo doch niemand in unserer Familie reich war, und ich bat mir für die Zukunft aus, dass man mir statt der kurzlebigen Blumen Bücher schenken sollte.
Es gab jedenfalls Kaffee für die Erwachsenen, Milch für die Kinder (nach 1952 auch Kakao) und Kuchen für alle. Niemals waren zu einer meiner Geburtstagsfeiern alle Familienmitglieder zusammen. Meist kam nur Grete L. herunter, gratulierte mir mit einem Ständchen: "Ich freuhe mich, dass ich gebooren bin und haab Gebuhurtstag heut . . ." Das verwunderte mich, denn erstens hatte nicht sie Geburtstag und zweitens wusste ich nicht, warum ich mich über meine Geburt freuen sollte, nachdem ich in dieser "Familie" so fehl am Platze war.
Ida untersagte mir auch fürderhin, irgendwelche Spielkameraden als Geburtstagsgäste einzuladen. Sie akzeptierte lediglich Mäcky und/ oder Doris L. Ich habe mich niemals auf meinen Geburtstag gefreut. Ich hatte viele Jahre lang Mühe, mir den Tag zu merken. Erst, als meine Mutter mir persönlich zu meinem Geburtstag gratulierte, blieb das Datum bei mir haften. Da war ich schon zehn Jahre alt. Meine Mutter sagte, es wäre Sonntag gewesen, als ich geboren wurde. Ich und ein "Sonntagskind?" Ein "Sonntagskind" hat Glück! Wo war das Meinige? Ich sah es nicht. Aber ich war ja noch jung. Ich vertröstete mich auf später.
Im Spätsommer des Jahres 1948 waren wir bei einer alten Frau zu Gast, die in einem Gartenhäuschen wohnte. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wer sie war, denn ich sah sie nur dieses eine mal. Es war eine große Feier, zu der fast alle Familienmitglieder erschienen waren. Da wie gewöhnlich kein Spielzeug für mich mitgenommen worden war und ich auch nicht im Garten spielen durfte und Waltraud sich lieber mit den größeren Kindern unterhielt, war mir entsetzlich langweilig. Letztendlich saß ich Daumen lutschend in der Ecke.
Spät in der Nacht traten wir den Heimweg an. Ich eilte voraus in den Garten, Ida aber unterhielt sich noch lange mit jemandem. Als die alte Frau uns zur Gartenpforte geleitete, sah ich, dass sie ihr Gebiss schon herausgenommen hatte. Ihr Gesicht wirkte daher so eingefallen und hässlich, dass ich erschrak. Ich sagte leise: "Auweia, du siehst ja wie ne Hexe aus!" Sie hörte es und war äußerst erbost. Ida verpasste mir ein paar Ohrfeigen. Alfred versuchte vergeblich, der alten Dame zu erklären, dass ich blödes Gör das nicht so gemeint habe sondern nur unbedacht daherredete. Später kicherte er: "Die sieht ohne Zähne wirklich wie ne Hexe aus!" Das war mir kein Trost. Ich hatte ein Familienmitglied beleidigt und bekam keine Chance, mich zu entschuldigen.
Die schönsten Familienfeiern nach meinem Empfinden waren Weihnachten und Sylvester. Für das Weihnachtfest wurden tagelang Vorbereitungen getroffen. Ida buk Kuchen (in den ersten Jahren ließ sie den Kuchen beim Bäcker backen, der 1949 klagte: "Ida, von die Weihnachtskuchn kann ick nich leehm. Ick weer mein Jeschaft abjeehm müssn. Meine Tochta übanimmt det Janze, un denn kann hier keena mehr seine Privatkuchn backn." "Tja, wenn det soo is, wenn det soo is, . . . Denn man nischt for unjut, Meeesta, denn man nischt for unjut!" so verabschiedete sich Ida mit einem kräftigen Händedruck. Kurze Zeit später besaßen wir ein elektrisches "Backwunder", es stand DRALUMA an seiner Wand, man stellte die gefüllte Backform hinein und der Kuchen war in der vorgegebenen Zeit durch gebacken.
Sehr gern sah ich Ida beim Kuchenbacken zu. Wie geschickt sie doch das Eigelb vom Weißen trennte! Wie gründlich sie Fett und Eigelb verrührte! Wie der Zucker beim Einrühren knirschte! Und wie appetitlich die gelb weiße Mischung aussah! Und wenn dann gar noch Kakaopulver hineingerührt wurde und braune Streifen zog! Wie glücklich war ich, wenn ich beim Kuchenbacken helfen durfte! Ida benötigte mich zwar nur zum Schüsselfesthalten, aber was machte das schon? Ich durfte helfen, ich, die sonst zu allem zu blöd war, hatte jetzt eine Funktion: Schüssel festhalten! Ich tat es mit aller Kraft. Ich freute mich, dass der Kuchen von allen mir bekannten Personen gegessen werden wird und vielleicht auch noch von ein paar mir Unbekannten. Weihnachten ist das Fest der Menschenliebe. Da ist uns der Heiland geboren und da sind wir zu allen Menschen lieb und nett und freundlich (wenn die Postbotin kam und Ida gerade beim Kartoffelpufferbacken war, durfte sie nicht gehen, ohne mindestens einen Puffer gegessen zu haben). So war Weihnachten für mich etwas ganz wunderbares.
Besonders, als Ida alle Familienmitglieder anwies, sich erst einmal um den geschmückten Tannenbaum zu versammeln und mehrere Weihnachtslieder zu singen. Ich hörte mit einigem Erstaunen die sonst so schroffen Erwachsenen in aller Andacht und Ergriffenheit singen: "Oh, Tannebaum, oh, Tannebaum . . ." "Alle Jahre wieder . . ." "Stille Nacht, heilige Nacht . . ." "Tochter Zion, freue dich . . ." "Es ist ein Ros entsprungen . . ." "Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen . . ." und "Fröhliche Weihnacht überall . . .".
Wenn wir sangen: "Süßer die Glocken nie klingen . . ." begannen meine Schwierigkeiten. Im Alter zwischen drei und sieben Jahren war ich nämlich felsenfest davon überzeugt, dass es heißt: "Süßer, die Glocken, die klingen . . ." (ich war auf mein Gehör angewiesen und bin mir völlig sicher, dass von den fünf anwesenden Personen mindestens zwei nicht "nie", sondern "die" gesungen haben). Ich bezog den Text total auf ein männliches Wesen. Nur einem Mann, der süß ist, klingen die Weihnachtsglocken überaus herrlich. Und wohl dem Weibe, dem es vergönnt ist, einem derart süßen Manne zu begegnen und zum Lebensgefährten zu erringen!
In der zweiten Strophe heißt es: "Segnet den Vater, die Mutter, das Kind . . .", da sang ich lauter als die anderen und wünschte mit aller Kraft meines Herzens meinen leiblichen Eltern allen Segen, um selbst als Kind gesegnet zu sein. Ich ahnte ja längst, dass ich nicht Idas Kind war. Wie sollte ich ihr Himmelssegen, der auf eine Mutter bezogen ist, wünschen? Sie konnten es noch so gut mit mir meinen, es war nicht das Echte, es war nicht das, was mir zustand, ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit, Ida schrieb mir vor, was ich zu denken und zu tun hatte und sagte mir, dass man seine Mutter lieb hat und schrieb mir vor, meine Mutter "Tante" zu nennen. Mit welchem Recht hat sie meiner Mutter und mir so weh getan? Und warum sahen alle der Ungerechtigkeit zu?
Doch zurück zu den Weihnachtsliedern. Ida kannte auch einige sehr alte Lieder, in denen lateinische Worte vorkamen. Stimmte sie ein solches an, bat Gerda: "Och, det olle Ding nich, Mama!", und Ida brach das Lied ab. Bat ich sie anderntags, diese Lieder mit mir zu singen, antwortete sie mir: "Dafor bist de zu deemlich, det vaschdehst de ja doch nich!" Gerda wollte die Lieder nicht singen, weil ihr das Lateinische nicht gegenwärtig war. Und ich, die ich diese Lieder jahrzehntelang nicht hörte, erinnere mich an die lateinischen Worte. So dämlich bin ich.
Die Sylvesterfeier des Jahres 1948 begingen wir in der Wohnung von Gerda, wo wir auch übernachteten. Auf der Heimfahrt am anderen Mittag erzählte ich Ida in der Straßenbahn einen Witz, den sie am Vortag verpasst hatte. Er ging so: Eine Frau hatte ein sehr junges Dienstmädchen, das häufig lieber mit den Jungs schäkerte, anstatt die Stube auszufegen. Die Hausfrau sagte: "Wenn du so weitermachst, bekommst du die Besenkrankheit!" Das Mädchen wollte wissen, wie sich diese Krankheit äußert. Die Frau antwortete: "Da wachsen dir Haare an einer Stelle, wo du dich wundern wirst!" Eines Tages waren dem Mädchen tatsächlich zwischen den Beinen Haare gewachsen! Angsterfüllt lief sie zum Arzt: "Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe die Besenkrankheit, bitte, bitte, geben Sie mir etwas dagegen!" Der Arzt ließ sich erklären, um was genau es sich eigentlich handelt, denn eine Besenkrankheit kannte er nicht. Als er dann Bescheid wusste, sagte er: "Aber Kind, das ist doch ganz natürlich, das habe ich auch!" Und zum Beweis ließ er die Hose herunter. Entsetzt fuhr das Mädchen zurück: "Aber Herr Doktor, bei Ihnen kuckt ja schon der Besenstiel raus!" Ich wusste nicht, warum alle Leute in der Straßenbahn lachten, aber ich freute mich, dass sie lachten.
Zum nächsten Sylvester war bei uns doppelt eingekauft worden. Ida hatte für jeden ein paar Wiener gekauft und Gerda ebenfalls. "Du liebe Zeit, wat solln wa denn nu jetz man bloß mit die janzn Wiena?" klagte Ida. Gerda sagte: "Mach se man ruhich alle warm, die wern schon jejessn werdn."
Als das Abendbrot beendet war, lagen immer noch zwölf Würstchen im Topf und ich spürte, wie sie mich durch das Blech hindurch ansahen und mich lockten: "Komm, Christa, iss noch eine! Es ist nur einmal im Jahr Sylvester, Wiener gibts so bald nicht wieder! Komm und iss noch eine, die werden ja langsam weich und schrumplich!" Ich ließ mich verführen und aß langsam und bedächtig eine Wiener nach der anderen auf. Danach konnte ich jahrelang kein Wiener mehr sehen!
Bei Familie L. war es zu Sylvester üblich, um Mitternacht Blei zu gießen. 1954 durften auch Waltraud und ich daran teilhaben. Wir mussten natürlich warten, bis die anderen ihr Blei gegossen hatten, und es war nur eine kleine Menge vorhanden. Was Waltraud goss, konnte man mit etwas gutem Willen als eine Blume bezeichnen. Darüber war sie recht froh, denn es bedeutete, dass sie einen von Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit geprägten Charakter hatte. Ich verkniff mir das Lachen.
Als das Blei endlich an mich kam, war es schon ziemlich verschmutzt. Obendrein gab ich ihm zuviel Schwung beim Gießen, sodass es in viele kleine Kügelchen zerplatzte. Nur eine Kugel war fast einen halben Zentimeter dick, knapp 2cm lang und auch halbwegs sauber. Der untere Teil war glatt und rund, der obere Teil war kraus und mehrfach gespalten. Grete L. sagte: "Det sieht aus wie . . . sowat jipts heut nich mehr . . . so n Jemüse . . . Ick hab s! Schickorree heißt det Zeuch! Naja, Krille, det bedeutt, det du noch zu t jrüne Jemüse zeehlst". Was sollte ich mit meinen zwölf Jahren wohl sonst sein? dachte ich belustigt.
Bei einer Weihnachtsfeier, die in unserer Wohnung noch von Gerda, Alfred, Waltraud, Grete und Walter L. (eventuell auch von Irma) begangen wurde, erlauschte ich abgewiesenes Kind ich sollte mich mit mir selber beschäftigen die Bemerkung eines Mannes: "Für mich sin politische Vabrecha keene Vabrecha, die haam doch nur ihra Überzeujung gefolcht. Man kann een politischn Vabrecha nich behandeln wie n Mörda!"
Wenn ich mich recht erinnere, war es Alfred, der dieses verlauten ließ. Ich blickte auf die beiden Männer, die die Unterhaltung führten. Sie waren stark angetrunken. Ich wusste inzwischen: "In Vino Veritas!" und ich war Alfred ob dieser Wahrheit sehr zugetan. Ich teilte seine Ansicht, dass man einen Menschen nicht wegen seiner politischen Anschauungen hinrichten darf. Mit politischen Gegnern muss man reden.
Das Osterfest verursachte mir höchst zwiespältige Gefühle. Einesteils freute ich mich auf die Ostereier, andernteils hasste ich das Suchen. Ich fand es zwar lustig, dass die Eier versteckt wurden, aber es war nicht mehr lustig, wenn ich ausgelacht wurde, weil ich die für mich bestimmten Süßigkeiten nicht auf Anhieb fand. So begann der Ostersonntag bis 1950 für mich mit Tränen.
Danach fuhren wir nicht mehr schon am Karfreitag oder Ostersonnabend zu Gerda, sondern höchstens am Sonntagnachmittag. Oder Gerda besuchte uns Ostermontag. Nun musste ich nicht mehr nach den Ostereiern suchen, denn Ida war das Verstecken zu mühselig, und traditionsgemäß sucht man Ostereier am Ostermorgen und nicht später. Außerdem hatte ich 1950 nicht nur meine Süßigkeiten auf Anhieb gefunden, sondern auch Waltrauds.
Die letzte Familienfeier, auf der fast alle Familienmitglieder und auch Grete L. nebst zweier Töchter anwesend waren, war die Einsegnung von Christa in Westberlin. Damals war ich zehn Jahre alt und total in meine Phantasiewelt eingesponnen. So sehr, dass ich mich an diese Feier überhaupt nicht mehr erinnern kann. Und hätte ich nicht nach Gerdas Tod ein Foto von jener Feier geerbt, wüsste ich nicht, wer alles dort war. Ich weiß nur noch, dass auch auf dieser Feier getanzt wurde. Wie gewöhnlich wollte auch diesmal niemand mit mir tanzen, so tanzte ich alleine. Ida ermahnte mich bald: "Man hebt die Arme nich üba n Kopp bein Tanzn, du Dämlack, wie sieht n det aus!" So war mir auch dieser Spaß vergangen.
Waren wir irgendwo zu Besuch, hieß es beim Abschied: "Kommt jut zu Hause!"
Als ich sie kennen lernte, war sie schon Mitte zwanzig und hatte für ihre 150cm Scheitelhöhe genügend weiblich Rundes, dazu ein freundliches Gesicht, war meist fröhlich, besonders, wenn fremde Leute in unserer Wohnung waren. Ansonsten war sie sehr ruhig und hatte nur selten eine eigene Meinung. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie gierig an der Zigarette sog (Rauchen war bei ihr ein trotziger Ausdruck von Erwachsensein und Selbständigkeit), und mit der anderen Hand imaginäre Falten in ihre Kittelschürze hinein- und wieder herausdrückte. Ihre rechte Hand benötigte ständige Bewegung, und war sie auch noch so unsinnig.
Dem Alter nach hätte sie bequem meine Mutter sein können, und oft mag sie sich eingebildet haben, so etwas wie eine Mutter für mich zu sein, denn sie kaufte etliche Jahre lang die gleichen Kleider für ihre Tochter und mich, ihre Tochter dabei mitunter hintanstellend. Waltraud war es gar nicht recht, als Backfisch noch das gleiche Kleid wie ein kleines Mädchen zu tragen, und es dauerte einige Kämpfe, ehe die Mutter das Modebewusstsein der Tochter akzeptierte. Von da an kaufte sie nichts mehr für mich, nur noch zu Weihnachten, wofür ich durchaus Verständnis hatte. Sie hatte mir gegenüber keine Verpflichtungen, und ich wusste, dass ich nicht das Recht hatte, irgendwelche Ansprüche zu stellen. Nur, wenn ich irgend etwas sehr heiß begehrte, das - nach meinem Kenntnisstand - nur sie mir beschaffen konnte - wurde ich mit meinen Bitten aufdringlich. Das war dreimal der Fall, als ich Lackbilder, Murmeln und ein Spielzeugauto begehrte. Letzteres bekam ich nie, ein Mädchen spielt nicht mit Autos, das bleibt den Jungs vorbehalten.
In mein Poesie-Album schrieb sie mir: "Liebe das Mutterherz, solange es schlägt, wenn es gebrochen ist, ist es zu spät." Aber sie beteiligte sich meist lebhaft daran, wenn über meine Mutter schlecht geredet wurde. Ich konnte Gerda beim besten Willen nicht als meine Mutter betrachten. Ich hatte eine leibliche Mutter, die ich schon deshalb liebte, weil immer wieder behauptet wurde, dass ich genau so dämlich sei wie sie. Wenn ich von Gerda wenigstens irgendetwas gelernt hätte! Aber sie vertrat generell Idas Meinungen und Ansichten; und häufig neckte sie mich aus Spaß, bis ich weinte. Ich bemühte mich stets, diese Vorkommnisse schnell zu vergessen. Es war nur Spaß; und es war mein Fehler, dass es mir wehtat.
Aus bei Familienfeiern Mitgehörtem weiß ich, dass sie mich nicht in meinem Kinderwagen spazieren fuhr. Sie fürchtete, die Nachbarn könnten denken, sie habe nun schon das zweite uneheliche Kind.
Mit Sicherheit hat sie mit mir all die Kleinkinderspiele gespielt, die ihr bekannt waren, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Eben, weil sie alles Gute am selben Tag unbewusst durch die Neckereien wieder wettmachte. Sie war nicht in der Lage, ein kleines Kind bereits als einen Menschen anzusehen, eher als ein lebendiges Ding. Und weil sie häufig schlecht über meine Mutter sprach und mir vorwarf, so "dämlich" wie meine Mutter zu sein, stieß sie mich ja von sich. Aber ich glaube, dass ihr auch das nicht bewusst war. Durch die ständigen Neckereien und die üblen Nachreden konnte ich jedenfalls nie unterscheiden, was Ernst und was Spaß war. Ich fiel immer wieder herein und "ärgerte mir die Platze".
Wahrscheinlich konnte Gerda sich keine Vorstellung davon machen, was "Mutter" bedeutet. Von ihrer eigenen Mutter war sie zum Tode verurteilt worden, und Ida ist mit ihr höchstwahrscheinlich genauso umgegangen wie mit mir. Obendrein durfte sie sich noch von ihrem Ziehvater anhören: "Dich haben wir uns gekauft", als wäre sie ein Gegenstand. Als sie dann mit siebzehn Jahren Mutter wurde, war sie vielleicht sogar froh, dass Ida ihr die Sorge um die Tochter abnahm. Vermutlich war Gerda der Meinung, dass eine Mutter ihrer Pflichten zur Genüge nachkommt, wenn sie dafür sorgt, dass ihr Kind stets satt zu essen hat und sauber angezogen ist, doch das genügt nicht einmal für ein Baby, auch das benötigt die liebevolle Zuwendung, die jeder Mensch ein Leben lang ersehnt. Sie besuchte ihre Tochter nur selten. wie sollte sie bei fehlendem Verständnis für das eigene Kind Verständnis für mich aufbringen?
Dennoch fragte ich sie - in dem normalen Drang jedes Kindes - woher ich gekommen sei? Sie antwortete schmunzelnd: "Dich haben wir in der Regenrinne gefunden." Ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich fragte meine Patentante Grete L., sie musste es wissen! Und sie antwortete mir, dass ich beim Bettenmachen gefunden wurde.
Ich erinnere mich nicht daran, ob Gerda mir irgendein Lied beigebracht hat, irgendein Spiel oder sonst etwas. Nur zwei ihrer Redensarten sind mir gegenwärtig: "Schtille biste, Schtulle kriste, Bette jehste, vaschtehste?" - "Siehste, siehste, der Kaktus schteht in ne Wüste!" und ein Lied, welches sie häufig bei Familienfeiern zu singen gebeten wurde. Ich versuchte vergeblich, mir den Text einzuprägen. Sie sang das Lied mit dem italienischen Originaltext, und es ist schwierig, sich Worte zu merken, die einem völlig unverständlich sind. Sie hatte dieses Lied von Waltrauds Vater gelernt, und Alfred - ihr Ehemann - blickte entsprechend sauer, wenn sie es mit ihrer zittrigen Stimme sang. Ich verdolmetschte mir den Liedanfang so: "Mama santa fanta lietsche, Mama santa fantala, leih mir ganz ohne Gequietsche dein ganzes Geld jedes Jahr." Ich ließ meine Variante niemals verlauten, denn ich spürte unbewusst, wie viel der Gerda dieses Lied bedeutete und dass mein Text - obwohl der pure Spaß - sie verletzen würde. Es handelte sich hierbei um das Lied "Mama", welches in den Fünfzigern von Bärbel Wachholz und in den Sechzigern von Heintje mit unterschiedlichem deutschen Text gesungen wurde.
In einigen wenigen Punkten war Gerda nachsichtiger als Ida, z.B. was den Bewegungsdrang von Kindern anging. Wo Ida mich längst angebrüllt hätte: "Wißte woll endlich schtille schtehn!", sagte sie immer noch: "Det Kind muss sich doch eenma am Tach bewejen könn!" So glaubte ich eines Tages, als ich - vierjährig - nach einem Besuch bei Gerda unbedingt bei ihr übernachten wollte, dass ich mich in ihrer Wohnung mal so richtig austoben könnte. Ich lief durch die Zimmer wie auf einer Rennbahn, tanzte in der Küche, hüpfte im Flur und vollführte danach eine Rolle rückwärts auf dem weichen Bettvorleger. Gerdas sanfte Ermahnungen ignorierte ich. Letztendlich drohte sie: "Wenn de jetz nich jleich aatich bist, schleefst de die Nacht in n Kohlnkasten!" Ich lachte, ich hielt diese Drohung für einen Witz.
Endlich hatte ich mich ausgetobt und sah mir ein Bilderbuch an, bis das Abendbrot auf dem Tisch stand. Ich wusch mir die Hände, aß so manierlich wie ich konnte und war begeistert, als Gerda mich bat, beim Tischabräumen zu helfen, denn das durfte ich bei Ida nicht. Gerda machte die Betten zurecht, gab mir ein Nachthemd, welches Waltraud zu klein geworden war, und schlug danach den Kohlenkasten mit etlichen Zeitungen aus. Ich fragte lachend: "Wat machst du denn da, Tante Jerda?" - "Na, du schleefst doch heut Nacht in n Kohlnkastn, ha ick dir doch vaschprochn, wenn de nich uffhörst zu tohm. Du hast weita rumjetobt, also schleefst de jetz in n Kohlnkastn. Zieh dir man det Nachthemde bloß so üba de Sachn, damit de nich friast." Ich konnte es nicht fassen - sie hatte das mit dem Kohlenkasten ernst gemeint! Sie faltete etliche Zeitungen zu einer Bettdecke zusammen und wartete darauf, dass ich mich in den schmutzigen Kohlenkasten legte! Für mich brach eine Welt zusammen. Gerda war nicht besser als Ida, auch bei ihr durfte ein Kind sich nicht frei bewegen. Ich weinte, bis sie mir das Versprechen abnahm, nie wieder so herumzutoben. Dann gestattete sie mir, wie schon mehrmals vorher, auf der "Besucherritze", auf den Mittelkanten der Ehebetten, zu schlafen. Ich wollte nie wieder bei ihr übernachten, aber nach Familienfeiern war es noch ein paar mal nötig.
Im Sommer 49 - ich war also fünfeinhalb Jahre alt - zog Gerda in eine größere Wohnung. Ich wollte unbedingt diesen Umzug nach Pankow miterleben und bot meine Hilfe an. "Wat du schon helfen kannst!" hieß es da. "Du schtehst doch höchstns bloß im Weech!" Aber ich bat solange, bis man mir doch gestattete, beim Umzug zu helfen. Es waren ja schließlich auch etliche kleine Dinge die Treppen hinauf und hinunter zu tragen. So packte ich also tüchtig mit an, bis nur noch die schweren Sachen zu tragen waren. Da wurde ich auf den Hof spielen geschickt: "Aba loof ja nich weg, wir kenn die Jejend hier noch nich so jenau. Wenn de wegloofst, findn wa dir nich wieda! Außadem jibt et jleich Mittach."
Ich ging also auf den Hof und wartete darauf, zum Essen nach oben gerufen zu werden. Ich ahnte, dass es einige Zeit dauern würde, denn wenn man eine neue Wohnung bezieht, hat man nicht gleich alles parat. Ich fasste mich in Geduld und hatte auch meinen Hunger längst beiseite geschoben. Ich sah mich auf dem Hof um. Da waren nicht viele Spielmöglichkeiten. Die Klopfstange stand so nahe an der Wand, dass ich es nicht wagen konnte, daran zu turnen. Auch war sie so verrostet, dass ich fürchtete, sie würde mein Gewicht nicht aushalten.
Außer der Klopfstange gab es nur noch die Mülltonnen, die mich nun wirklich nicht zum Spielen einluden. Ich hatte kein Spielzeug mitgenommen, ich war ja zum Arbeiten mitgefahren. So stand ich nun auf dem kleinen Hinterhof und wusste nicht, was ich beginnen sollte.
Ich suchte nach kleinen Steinchen oder Scherben, denn damit kann man immer etwas spielen. Aber auf diesem Hof fand sich nichts dergleichen. Was ich dann als "kleine Steine" aus dem Boden klaubte, war doch schon ein wenig größer. Doch unter den Steinen hatten Insekten ihre Eier abgelegt, die sich bereits zu Larven entwickelt hatten. Ich ließ die Maden über meine Hände krabbeln, bis mir einfiel, dass sie im nächsten Stadium Mistfliegen werden würden. Da zerquetschte ich sie alle mit den Steinchen und suchte unter weiteren Steinen nach den Maden. Ich wollte sie alle vernichten, damit Gerda nicht im Sommer unter der Fliegenplage zu leiden haben würde. Endlich hatte ich einen sinnvollen Zeitvertreib!
Doch bald waren keine Maden mehr zu finden, und die Langeweile zog wieder ein. Ich war schon drauf und dran, nach oben in die neue Wohnung zu gehen, aber ich wollte Gerda nicht durch vorzeitiges Erscheinen verärgern. Ich setzte mich auf die Haustürschwelle und rief eine meiner Phantastereien auf, die ich mir ansonsten vor dem Einschlafen gönnte. Ich war mir dessen nicht bewusst, dass Gerda mich in diesem Winkel nicht erblicken konnte, wenn sie aus dem Fenster sah. Entsprechend besorgt klang ihre Stimme, als sie mich endlich rief.
In der Wohnung angekommen, schickte sie mich sofort ins Badezimmer zum Händewaschen, meine Hände waren so schmutzig, wie ich sie schon seit langem nicht mehr "hinbekommen" hatte. Natürlich wollte Gerda wissen, wie ich das angestellt hatte, und ich erzählte ihr gewohnheitsmäßig die volle Wahrheit, ich verschwieg lediglich, dass und warum ich die Maden erschlagen hatte, denn eines der zehn Gebote lautet: Du sollst nicht töten. Sie keifte: "Wat? Du schpielst mit Madn? Biste denn völlich blöde? Mit sowat eklijet schpielt keen Schwein! Naja, du bist villeicht mal die jrößte Drecksau von janz Berlin!"
Wenn ich - sechs bis achtjährig - mit ihr zusammen eine Straßenbahn- oder Busfahrt zu unternehmen hatte, schärfte sie mir vorher ein: "Wenn dir eena fraacht, denn biste erst fümwe, klar? Ick hab nich soville Jeld for ne Faakate for dir." Man beachte, dass eine Kinderfahrkarte seinerzeit nur zehn Pfennige kostete.
Um uns Kinder zu unterhalten, setzte sie manchmal ihre Fingerspitzen auf den ersten Knöchel des nachfolgenden Fingers, also den Mittelfinger auf den Zeigefinger, den Ringfinger auf den Mittelfinger und den kleinen auf den Ringfinger. Das sah lustig aus. Dazu sagte sie: "Lieba Jott, lass Banaan wachsn!" Wir machten das gerne nach und amüsierten uns über die kleinen runden Fensterchen, die auf diese Weise zwischen unseren Fingern entstanden.
Wenn wir im Herbst bei einem Spaziergang an einem Ahornbaum vorbeikamen, hob Gerda die herab gefallenen Früchte auf, öffnete sie an ihrem dicken Ende und setzte sie sich auf die Nase. Auch das fanden wir sehr lustig und machten es nach, auch, wenn wir später alleine zu einem Ahornbaum kamen, der seine "Nasen" abgeworfen hatte. Für mich war dadurch - bis zu meinem 14. Lebensjahr - ein Ahornbaum stets nur ein "Nasenbaum".
Gerda hatte übrigens Schneiderin gelernt, hatte aber kaum Gelegenheit, in diesem Beruf zu arbeiten, denn damals (1940) hätte sie nur in einer Schneiderei für Militärmäntel Anstellung bekommen, und das war für die immer noch sehr zierliche kleine 19jährige körperlich zu schwer. Und mitten in die Lehrzeit fiel ihre Schwangerschaft, sodass sie es mit den Prüfungen nicht leicht hatte, aber mit der Note "Gut" bestand.
Da sie in keiner Damenschneiderei Anstellung finden konnte, ging sie zu DEGUFA. Ich entsinne mich nicht, dass Gerda jemals irgendetwas genäht hatte, außer den beiden Kleidern für die "Lotte-Puppen". Ich wusste zwar, dass sie eine Nähmaschine besaß, aber in unserer Wohnung stand auch eine "Singer" unbenutzt herum. Waltraud erzählte mir 1990, dass Gerda Kleider und Mäntel für uns genäht habe, jedoch ich erinnere mich nicht daran. Ich vermute, dass Gerda nur für Waltraud genäht hatte.
Nach dem Krieg, als die Fabrik kaputt wie ganz Deutschland war, hatte sie das Glück, in einer Gärtnerei Arbeit zu finden, wo nicht nur Blumen gezüchtet wurden, sondern auch Gemüse angebaut wurde. Weil Geld zu jener Zeit auch bei den kleinen Unternehmern sehr knapp war, bekam Gerda einen Teil des Lohnes in Naturalien. So hatten Ida und die Ihrigen regelmäßig frisches Gemüse und Kartoffeln, zu jener Zeit ein großer Segen. Dennoch fuhren Gerda und Irma des Öfteren auf die Felder zum "Stoppeln", wie ich häufig bei Familienfeiern aus trunkenheitsverworrenen Berichten heraushörte, wo diese gefährlichen Fahrten als lustiges Abenteuer geschildert wurden.
Durch die Tätigkeit in der Gärtnerei erfuhr Gerda so nebenbei auch die Namen der meisten Gartenblumen. Dieses Wissen gab sie an ihre Tochter weiter und die übermittelte es mir dann später zu meiner großen Freude.
Zu meiner Jugendweihe schenkte sie mir etwas für meine "Aussteuer". Darüber war ich direkt erschrocken, denn ich hatte nicht vor, jemals zu heiraten. Diese Geschenke machten mir regelrecht Angst. Ich fürchtete, Ida könnte eines Tages sagen: "Jetz haste ne Aussteua, nu heirate ooch!", und ich müsste dann - so wie es in ihrer Jugend häufig vorkam - einen Mann heiraten, den ich gar nicht liebe!
Diese "Aussteuer" bestand aus einem großen und einem kleinen Frotteetuch, einem Laken, welches Gerda nach Idas Tod wieder an sich nahm und einem lindgrünen BH, der mir um so viel zu groß war, dass er mir zeitlebens nicht gepasst hätte. Gerda erwartete, dass ich einen ähnlich stattlichen Busen wie meine Mutter bekommen würde. Meiner Mutter passte der BH, und sie hat ihn gern und lange getragen.
Gerda wurde 75 Jahre alt.
Die Fahrt nach "Präng"
Alfred hatte eine Tante in Prenden, die ein wenig vermögend war. In der Hoffnung, einmal ihr Häuschen zu erben, besuchte er sie regelmäßig. Der Ortsname wurde von allen Familienmitgliedern stets "Präng" gesprochen, erst 1991 erfuhr ich, dass "Prenden" gemeint war, welches ja dicht bei Berlin liegt, so wurde mir klar, dass jene Reise, die mein Gedächtnis als "Fahrt nach Präng" gespeichert hatte, in Wirklichkeit zu einem anderen Ort führte.
Im Spätsommer 1947 erreichte uns die Nachricht, dass eine Tante unbedingt und recht bald die Waltraud zu sehen wünschte, um festzustellen, ob sie würdig war, später einmal ihr Haus zu erben. Ich glaubte, dass es sich um die Tante aus "Präng" handelte, es war kaum möglich, dass Alfred zwei Erbtanten hatte. Nun herrschte helle Aufregung bei uns. Waltraud wurde neu ausstaffiert und die Sache auch mit Grete L. besprochen. Ida hatte mich bei Grete L. für die Dauer der Fahrt in Obhut geben wollen, aber aus irgendeinem Grunde ging das nicht. Ich hörte Grete L. sagen: "Nehm man die Jöre ruhich mit, wer weeß, vielleicht jefällt die alte Schachtel die Christa ville bessa als die Waltraud, un denn erbt die die janze Soore!" (sie war fest überzeugt, dass man nur durch Diebstahl oder Betrug zu Reichtum kommen kann. “Sore” ist unrechtmäßig erworbenes.) Ich prustete vor Lachen - wem sollte die blonde, blauäugige, zierliche und damenhafte Waltraud wohl nicht gefallen? Derjenige konnte doch überhaupt keinen Geschmack haben!
Nachdem Ida der Tante unsere Ankunft brieflich mitgeteilt hatte, zogen wir eines Tages vor Morgengrauen los. Ich plärrte, weil unausgeschlafen, aber Ida zog mich rigoros mit sich. Endlich tröstete mich Irma in einem gewissen Singsang "Jetz fährste mit de Puffpuffbahn, mit de Huschhuschbahn, mit de Eisenbahn, damit kann nich ein jeda fahn, aba Christa kann mit de Puffpuffbahn, Puffbahn fahn!"
Sie trug unser Gepäck zur Bahn, worin sich außer Proviant, Beschäftigungsmaterial und Wechselkleidungsstücke - man kann nie wissen, was auf einer langen Bahnfahrt alles passiert und Waltraud sollte doch "wie aus dem Ei gepellt" sein - auch ein Geschenk für die "Erbtante" befand. Man geht nicht ohne Geschenk zu Besuch. So verflog meine Müdigkeit, und ich fieberte dem Abenteuer entgegen. Es erwies sich als arge Strapaze. Auf dem Bahnhof herrschte ein heilloses Gedränge. Ich musste mich an Idas Mantel festklammern, um nicht von ihr getrennt zu werden. Irma konnte uns nicht bis an den Zug bringen. Damals musste man, wenn man keine Fahrkarte hatte, beim Betreten des Bahnhofs eine Bahnsteigkarte kaufen. Soviel Geld hatten wir nicht. Also trug Ida jetzt das große Gepäck und hatte keine Hand frei. Waltraud folgte uns mit dem kleinen Gepäck. Sie war durch das Gedränge und den Lärm völlig verschüchtert. Nach langem Suchen und vielem Nachfragen befanden wir uns endlich im richtigen Zug und setzten uns in unser Abteil. Der letzte, den Ida fragte, hob mich - husch! In den Waggon.
Wir waren froh, dass der Zug nicht so überfüllt war wie der Bahnsteig. Jeder hatte bequem Platz. Ida reichte das Frühstück, bestehend aus Klappstullen. Waltraud war mäklig wie immer, ich aber biss herzhaft zu. Ida schimpfte über Waltrauds "Getue" und hielt ihr mich als Beispiel vor. Waltraud rümpfte die Nase und flüsterte: "Christa is doof und frisst viel!" Das war eine beliebte Äußerung von Ida, wenn sie ihrer Verachtung irgendeinem Menschen gegenüber Ausdruck verlieh. Ich legte die Stulle weg, aber Ida befahl mir, sie aufzuessen: "Wat man anjebissn hat, isst man ooch uff!" Diese Maxime hinderte mich später daran, eine mir unbekannte Speise zu probieren; ich hatte immer Angst, dass ich etwas, das überhaupt nicht schmeckt, aufessen muss.
Endlich bemerkte ich, dass der Zug fuhr, aber es war noch zu dunkel, um vor dem Fenster irgendetwas erkennen zu können. Ida gab uns unsere Bilderbücher. Bald hatten wir sie durchgeblättert. Wir besaßen sie schon länger und konnten nichts Neues mehr in ihnen entdecken. Nun spielten wir mit den Puppen, die Ida uns in die Manteltaschen gesteckt hatte. Aber es wurde mir bald langweilig, denn ich konnte Waltrauds Spielvorschlägen nicht so recht folgen. Ich war erst drei, sie neun Jahre alt. Sie wollte etwas spielen, das ihrem Bildungsstand entsprach.
Endlich stieg die Sonne über den Horizont und ich blickte begeistert in die Landschaft. AH! So sieht also die Welt aus! "Oma, kiek ma, sooo ne jroße Wiese!" - "Det is n Feld, du Dussel." Ich lernte: Wenn eine Wiese sehr groß ist, nennt man sie "Feld". "Oh, Omi - un da, da is die Erde janz putt!" Ida blickte kurz hinaus und schüttelte den Kopf über meine Blödheit: "Da is jeflüücht worn, Mensch!" - "Wat is n det, jeflüücht?" - "Na, der Baua hat sein n Fluch üba t Land jezooren." - "Wat hatta denn for n Fluch jesaacht?", fragte ich stark interessiert, denn jetzt wurde die Sache märchenhaft. Märchen waren mir das Liebste. Ida schalt mich ein saublödes Gör und widmete sich wieder ihrer Strickerei. Waltraud warf der Ida einen missbilligenden Blick zu, dann begann sie zu singen: "Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt . . ." Sie sang das ganze Lied und ich wusste nun etwas über Landwirtschaft.
Indessen ging die Fahrt weiter. Vor dem Fenster zogen Felder und Wälder vorbei. Nachdem ich den optischen Unterschied zwischen Misch- und Tannenwald festgestellt hatte, wollte ich natürlich wissen, warum der eine heller als der andere war und wurde auf die Schule vertröstet: "Der Leehra wird dir det schon allet beibring." Das ärgerte mich außerordentlich, denn es mussten ja noch soo viele Jahre vergehen, ehe ich schulreif war!
Manchmal erblickten wir auch kleine Dörfer, bis der Zug endlich in einer Stadt hielt. Ich sprang sofort auf, denn ich glaubte, wir seien am Ziel. Ida packte mich am Arm und setzte mich unsanft auf meinen Platz: "Wißte woll schdillesitzn, du Trampel!" Ich zeterte: "Sin wa jetz nich da?" - "Nee", erwiderte sie scharf, "wir müssn noch lange faahn."
Irgendwann stiegen wir auf einen anderen Zug um, das war eine mittlere Katastrophe, denn ich traute mich nicht vom Trittbrett herunter. Ich sah mich außerstande, mit meinen kurzen Beinen die nächste Stufe zu erreichen, die ich nicht einmal sehen konnte. Die Zugangsstufen der Eisenbahn befinden sich bekanntlich untereinander. Ida hatte beide Hände voll Gepäck, das sie nicht abstellen mochte - vor Taschendieben wird gewarnt! - und Waltraud war zu zierlich, um mir helfen zu können. Endlich kam ein Eisenbahner und hob mich plärrendes, ausgescholtenes Bündel vom Trittbrett herunter.
Da mir auf der weiteren Fahrt die Landschaft nichts Neues mehr zu bieten hatte, begann sie mich zu langweilen. Nun bastelte Waltraud aus dem Stullenpapier Spielzeug für uns: Sie riss geschickt Silhouetten heraus, mit denen wir eine selbst erdachte Geschichte spielten. Ida strickte, wenn ich nicht irre, an Winterstrümpfen. Bald konnte ich dem Spiel nicht mehr folgen, meine Zeit für den Mittagsschlaf war um einiges überschritten. Ich begann, am Daumen zu lutschen. Inzwischen waren einige Leute zugestiegen, sodass nicht mehr soviel Platz war wie in dem anderen Zug. Ida bettete meinen Kopf in Waltrauds Schoß, die nun stillsitzen musste, damit ich schlafen konnte. Zwangsweise gehorchte sie. Dann wurde ich unsanft geweckt, denn wir waren am Ziel. Schlaftrunken wie am Morgen taumelte ich aus dem Zug - ich war so müde, dass mir die Höhe der Stufen völlig gleichgültig war, ich ließ mich am Haltegriff hinab gleiten und war auf dem Bahnsteig, bevor eine hilfreiche Hand in Sicht war. Später hieß es dann, ich hätte mich beim Umsteigen absichtlich blöd angestellt. Und ich zittere noch heute, wenn ich auf eine Stufe steigen soll, die ich nicht sehe!
Nun waren wir in der Stadt angekommen, wo die Tante wohnte, die der Waltraud später vielleicht ihr Haus vermachen würde. Wir fuhren noch ein paar Stationen mit dem Bus, dann befanden wir uns in einer Stadtrandsiedlung, wo kleine, hübsche, gepflegte Ein- und Zweifamilienhäuser in einer langen, sauberen Straße standen. Ich erfreute mich an den vielen in voller Pracht erblühten Blumen und wunderte mich über die geharkten Straßenränder. Als ich zu einem Gartenzaun rennen wollte, um eine mir bis dahin unbekannte Blume näher zu betrachten, wurde ich von Ida unsanft am Arm zurückgerissen und die Gartenbesitzerin keifte: "Wenn Sie auf das Gör nicht aufpassen können, dann sollten Sie sie lieber zu Hause lassen!"
Ich ließ nun die Blumen Blumen sein und blieb auf dem ungeharkten Teil des Gehsteigs - wir mussten, da wir zu dritt waren – hintereinander gehen, bis wir bei dem Haus der Tante angekommen waren.
Ida vergewisserte sich, dass wir in vorzeigbarem Zustand waren, dann klingelte sie. Wir wurden von einer eisgrauen Dame inspiziert, die sich als erstes darüber mokierte, dass Ida noch ein fremdes Gör mitgebracht hatte: "Wie viele Leute soll ick denn noch bewirten?" Ida beruhigte: "Die Jörn essn nich viel. Außadem hab ick ooch selba wat zu Essn injepackt."
Wir wurden zu Kaffee und Kuchen hereingebeten. Waltraud aß wirklich nicht viel. Sie benahm sich wie eine Prinzessin, absolut untadelig. Ich aß Kuchen, so lange er reichte. Die Tante hatte nicht damit gerechnet, dass jemand mehr als ein Stück essen würde, aber Ida hatte nach der langen Bahnfahrt Appetit und aß zwei Stückchen, so ließ auch ich mir noch ein drittes geben, das ich aufaß, ohne einen körperlichen Nachteil davon zu haben. Übrigens habe ich nie wieder so winzig kleine Kuchenstücken gesehen!
Nach Erledigung der Gastfreundschaftspflicht wurde ich hinausgeschickt, weil ich der nun folgenden Unterhaltung nicht beizuwohnen hatte. Die Hausherrin sagte, ich könne im hauseigenen Buddelkasten spielen. Ich hatte ihn schon erblickt, als wir das Anwesen betraten. Ich lief schnell dorthin und freute mich, einen so großen Buddelkasten ganz für mich allein zu haben. Obendrein lagen da etliche Spielgeräte in tadellosem Zustand parat: Förmchen, Schippe, Eimer und sogar AUTOS!
Ich habe mit den Förmchen viele Kuchen gebacken und dann mit Hilfe der Schippe Wege zu den Kuchen geebnet - für die Autos. Sie sollten die Kuchen "zum Verkauf" fahren. Plötzlich stand ein Junge neben mir und schrie: "Wer hat dir erlaubt, mit meinem Spielzeug zu spielen?" Ich konnte nichts erwidern, denn ich wusste nicht, in welchem Verhältnis er zu der Hausherrin stand. War er ihr Sohn? Unwahrscheinlich, der Altersunterschied war zu groß. War er ihr Enkel? Das schon eher, aber wenn die Tante leibliche Verwandte hatte, warum ließ sie dann die Traute aus Berlin kommen?
Aufs Geratewohl sagte ich: "Deine Oma hat mir det alaubt!" Der Junge erwiderte scharf: "Ich habe keine Oma, und du machst jetzt, dass du aus dem Garten kommst, aber dalli!" Nun begann ich zu zetern: "Meine Oma is mit die Waltraud da drinne int Haus, kannst ja nachkieken! Ick dürf hier spieln!"
Er ging ins Haus und kurze Zeit später kam die graue Dame heraus und rief nach mir. Unwillig stieg ich aus dem Buddelkasten. Mir war klar, dass ich das kleine Paradies verlassen musste, um nie wieder dahin zurückzukehren. Die Dame vergewisserte sich, dass ich mir kein Spielzeug aus dem Buddelkasten eingesteckt hatte. Damit war unser Besuch in dieser Villa beendet. Ich weiß nicht, was Ida und die "Erbtante" miteinander geredet hatten, aber ich sah, dass Ida stark verärgert war und Waltraud ihren hochroten Kopf tief gesenkt hielt.
Als ich nun "auf Diebstahl" untersucht wurde, platzte Ida der Kragen. Sie griff unsere Mäntel und wir gingen eiligst zur Bushaltestelle. Ich war so verblüfft über die Tatsache, dass diese Dame angenommen hatte, ich könnte mir etwas von dem Spielzeug eingesteckt haben - ich, die ich mit Müh und Not das eigene Spielzeug vom Spielplatz mit nach Hause nahm! -, dass nichts mehr vom Gespräch der Erwachsenen in mein Gedächtnis drang. Ich weiß nur, dass über diese Reise in Zukunft der Mantel des Schweigens gehüllt wurde.
Wir saßen noch einige Zeit auf dem Bahnhof herum, ehe unser Zug einfuhr. Ich weiß nicht, ob wir wieder umsteigen mussten - es ist anzunehmen - ich weiß nur, dass ich schrecklich müde war und buchstäblich im Gehen schlief. In tiefster Nacht kamen wir zu Hause an.
Als Grete L. am anderen Tag wissen wollte, wie die Sache ausgegangen war, winkte Ida nur ab.
Etliche Jahre später sagte Gerda auf einer Familienfeier scherzhaft zu Waltraud: "Du wärst ja beinah so n Keetschn von Heilbronn jeworn!" So nehme ich an, dass wir damals nach Heilbronn gefahren waren . . .
Familienfeiern
Diese Tage waren stets zu kurz. Und ihrer zu wenige. Wenn ich mal bitte aufzählen darf: Von Idas Geschwistern lebten seinerzeit noch zwei in Berlin. Es hätte also außer ihrem Geburtstag noch den ihrer Schwester Rosa und den ihres Bruders Otto (mein Vater) zu feiern gegeben. Ich erlebte beides nie. Tante Rosa war verheiratet und hatte zwei Kinder. Ihr Mann verstarb vor meiner Geburt, ihren Sohn erblickte ich nur einmal bei einem kurzen Besuch in seiner Wohnung.
Ida zog mich vor diesem Besuch sehr sorgfältig an (mitten in der Woche das Sonntagskleid!), damit ich recht niedlich aussehe, dann stauchte sie mich ganz schrecklich zusammen und gebot mir, mich absolut anständig zu benehmen, also nie den Mund aufzumachen, weil ich uns sonst blamieren würde mit meiner Albernheit und aus ihrem Plan nichts wird. Sie hatte finanzielle Schwierigkeiten und hoffte, den Neffen anbetteln zu können.
Die Wohnung im Munizipal-Viertel am Weißen See erschien mir sehr dunkel, weil mit nahezu schwarzen Möbeln ausgestattet. Noch auf der Treppe sagte Ida: “Du saachst jarnischt und machst, wat ick saare, denn klappt det.” Ich begann, mich vor Idas Neffen zu fürchten. Er war gewiss ein strenger Mensch! Nach der Begrüßung, die erfreulich nett war, setzte Ida mich in den Flur, damit ich die Unterredung nicht störe. Die Tür blieb offen und ich dokumentierte mein Desinteresse an der im Zimmer stattfindenden Unterhaltung durch Absingen von Kinderliedern. Aber vielleicht war gerade das falsch, denn plötzlich riss Ida mich hoch und verließ zornig die Wohnung ihres Neffen.
Obwohl ich sang, hatte ich doch gehört, dass Ida meinetwegen bettelte. Der Neffe entgegnete: “Du hättest sie lassen können, wo sie war.” Ida nannte ihn herzlos. Die Tochter lernte ich nie kennen, und ich vergaß ihrer beider Namen ganz schnell, weil beide Personen der Ida wohl nicht viel bedeuteten und mir erst recht nicht, denn ich kannte sie ja nicht.
Niemals wurde Irmas Geburtstag gefeiert, jedenfalls nicht von Ida, Gerda, Waltraud und mir. Soweit ich mich erinnern kann, war Irma nur noch Idas Untermieterin.
Waltrauds Geburtstag wurde nicht als Familienfeier begangen. An diesem Tag unternahmen ihre Eltern etwas mit ihr, einen Ausflug oder Ähnliches.
Selbst die Geburtstagsfeiern für Ida und Gerda sind mir nur sehr undeutlich in Erinnerung. Weil das Geburtstagskind nicht besonders hervorgehoben wurde. Für mich waren es "Familienfeiern". Sie liefen nach einem vorgegebenen Schema ab: Zuerst gab es Kaffee und Kuchen, danach diverse Getränke. Während die Erwachsenen mehrere Flaschen Alkohol leerten, teilten wir Kinder uns eine Brause. Zwischen 18 und 19 Uhr gab es das Abendbrot. 1946 bis 1950 bestand es im Wesentlichen aus Schmalzstullen, nach 1950 gab es auch Schinken und Käse aufs Brot.
Es gehörte sich, dass ausreichend alkoholische Getränke vorhanden waren. Ihnen wurde rege zugesprochen. Und dann begann man zu singen. "Es geht ein Rundgesang um unsern Tisch herum, widibum, es geht ein Rundgesang an unserm Tisch herum. Dreimal drei is neuhene, ihr wisst schon, wie ich s meihene, dreimal drei und eins ist zehn, der . . . die . . . lässt ein n gehn!"
Der jeweils Angesprochene hatte nun ein Liedlein zum Besten zu geben. Wir Kinder durften in diesem Reigen auch unsere Stimmen ertönen lassen. Nach meinem "Alle meine Entchen . . ." (1947) zollte mir jeder Beifall, und ich wurde ganz verlegen, denn so viel Aufmerksamkeit war ich nicht gewöhnt. Von nun an drängte ich mich an den Tisch, wenn ich glaubte, dass wieder gesungen wird und wollte unbedingt mitsingen. Durch mein Drängeln verdarb ich aber unbewusst die Stimmung, und die Gesänge wurden erst viel später angestimmt, meist waren wir Kinder dann schon zu Bett geschickt worden.
Durch die Wand hindurch lauschte ich dann andächtig den Äußerungen der Erwachsenen: "Dort ohm uff m Berje, da schteht ein Klosett, da machen die Zwerje aus Kacke Konfekt! Holladrihia, holladio, holladrihia, holladrio!" oder: "Dort ohm uff m Berje, da schteht n Jerüst, da werden die Meedchen elektrisch jeküßt!" Ich liebte den Frohsinn und den gemeinsamen Gesang so sehr, dass ich über die Texte nicht nachdachte. Ich wollte nur mitsingen.
Von meinen eigenen Geburtstagsfeiern ist mir in Erinnerung, dass ich jedes Jahr einen Blumentopf bekam, den Ida dann sorgfältig pflegte. Mal waren es Primeln, die sehr schnell eingingen, mal Pantoffelblumen, die auch nicht lange hielten und auch stets voller Läuse waren, mal eine blaue Blume, deren Namen ich nicht weiß, die aber ebenso schnell einging wie alle anderen. Ich habe im tiefsten Winter Geburtstag, da sind Blumen der totale Luxus. Das erkannte ich aber erst durch den Schulunterricht. Es wunderte mich, dass man mir Luxusgegenstände schenkte, wo doch niemand in unserer Familie reich war, und ich bat mir für die Zukunft aus, dass man mir statt der kurzlebigen Blumen Bücher schenken sollte.
Es gab jedenfalls Kaffee für die Erwachsenen, Milch für die Kinder (nach 1952 auch Kakao) und Kuchen für alle. Niemals waren zu einer meiner Geburtstagsfeiern alle Familienmitglieder zusammen. Meist kam nur Grete L. herunter, gratulierte mir mit einem Ständchen: "Ich freuhe mich, dass ich gebooren bin und haab Gebuhurtstag heut . . ." Das verwunderte mich, denn erstens hatte nicht sie Geburtstag und zweitens wusste ich nicht, warum ich mich über meine Geburt freuen sollte, nachdem ich in dieser "Familie" so fehl am Platze war.
Ida untersagte mir auch fürderhin, irgendwelche Spielkameraden als Geburtstagsgäste einzuladen. Sie akzeptierte lediglich Mäcky und/ oder Doris L. Ich habe mich niemals auf meinen Geburtstag gefreut. Ich hatte viele Jahre lang Mühe, mir den Tag zu merken. Erst, als meine Mutter mir persönlich zu meinem Geburtstag gratulierte, blieb das Datum bei mir haften. Da war ich schon zehn Jahre alt. Meine Mutter sagte, es wäre Sonntag gewesen, als ich geboren wurde. Ich und ein "Sonntagskind?" Ein "Sonntagskind" hat Glück! Wo war das Meinige? Ich sah es nicht. Aber ich war ja noch jung. Ich vertröstete mich auf später.
Im Spätsommer des Jahres 1948 waren wir bei einer alten Frau zu Gast, die in einem Gartenhäuschen wohnte. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wer sie war, denn ich sah sie nur dieses eine mal. Es war eine große Feier, zu der fast alle Familienmitglieder erschienen waren. Da wie gewöhnlich kein Spielzeug für mich mitgenommen worden war und ich auch nicht im Garten spielen durfte und Waltraud sich lieber mit den größeren Kindern unterhielt, war mir entsetzlich langweilig. Letztendlich saß ich Daumen lutschend in der Ecke.
Spät in der Nacht traten wir den Heimweg an. Ich eilte voraus in den Garten, Ida aber unterhielt sich noch lange mit jemandem. Als die alte Frau uns zur Gartenpforte geleitete, sah ich, dass sie ihr Gebiss schon herausgenommen hatte. Ihr Gesicht wirkte daher so eingefallen und hässlich, dass ich erschrak. Ich sagte leise: "Auweia, du siehst ja wie ne Hexe aus!" Sie hörte es und war äußerst erbost. Ida verpasste mir ein paar Ohrfeigen. Alfred versuchte vergeblich, der alten Dame zu erklären, dass ich blödes Gör das nicht so gemeint habe sondern nur unbedacht daherredete. Später kicherte er: "Die sieht ohne Zähne wirklich wie ne Hexe aus!" Das war mir kein Trost. Ich hatte ein Familienmitglied beleidigt und bekam keine Chance, mich zu entschuldigen.
Die schönsten Familienfeiern nach meinem Empfinden waren Weihnachten und Sylvester. Für das Weihnachtfest wurden tagelang Vorbereitungen getroffen. Ida buk Kuchen (in den ersten Jahren ließ sie den Kuchen beim Bäcker backen, der 1949 klagte: "Ida, von die Weihnachtskuchn kann ick nich leehm. Ick weer mein Jeschaft abjeehm müssn. Meine Tochta übanimmt det Janze, un denn kann hier keena mehr seine Privatkuchn backn." "Tja, wenn det soo is, wenn det soo is, . . . Denn man nischt for unjut, Meeesta, denn man nischt for unjut!" so verabschiedete sich Ida mit einem kräftigen Händedruck. Kurze Zeit später besaßen wir ein elektrisches "Backwunder", es stand DRALUMA an seiner Wand, man stellte die gefüllte Backform hinein und der Kuchen war in der vorgegebenen Zeit durch gebacken.
Sehr gern sah ich Ida beim Kuchenbacken zu. Wie geschickt sie doch das Eigelb vom Weißen trennte! Wie gründlich sie Fett und Eigelb verrührte! Wie der Zucker beim Einrühren knirschte! Und wie appetitlich die gelb weiße Mischung aussah! Und wenn dann gar noch Kakaopulver hineingerührt wurde und braune Streifen zog! Wie glücklich war ich, wenn ich beim Kuchenbacken helfen durfte! Ida benötigte mich zwar nur zum Schüsselfesthalten, aber was machte das schon? Ich durfte helfen, ich, die sonst zu allem zu blöd war, hatte jetzt eine Funktion: Schüssel festhalten! Ich tat es mit aller Kraft. Ich freute mich, dass der Kuchen von allen mir bekannten Personen gegessen werden wird und vielleicht auch noch von ein paar mir Unbekannten. Weihnachten ist das Fest der Menschenliebe. Da ist uns der Heiland geboren und da sind wir zu allen Menschen lieb und nett und freundlich (wenn die Postbotin kam und Ida gerade beim Kartoffelpufferbacken war, durfte sie nicht gehen, ohne mindestens einen Puffer gegessen zu haben). So war Weihnachten für mich etwas ganz wunderbares.
Besonders, als Ida alle Familienmitglieder anwies, sich erst einmal um den geschmückten Tannenbaum zu versammeln und mehrere Weihnachtslieder zu singen. Ich hörte mit einigem Erstaunen die sonst so schroffen Erwachsenen in aller Andacht und Ergriffenheit singen: "Oh, Tannebaum, oh, Tannebaum . . ." "Alle Jahre wieder . . ." "Stille Nacht, heilige Nacht . . ." "Tochter Zion, freue dich . . ." "Es ist ein Ros entsprungen . . ." "Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen . . ." und "Fröhliche Weihnacht überall . . .".
Wenn wir sangen: "Süßer die Glocken nie klingen . . ." begannen meine Schwierigkeiten. Im Alter zwischen drei und sieben Jahren war ich nämlich felsenfest davon überzeugt, dass es heißt: "Süßer, die Glocken, die klingen . . ." (ich war auf mein Gehör angewiesen und bin mir völlig sicher, dass von den fünf anwesenden Personen mindestens zwei nicht "nie", sondern "die" gesungen haben). Ich bezog den Text total auf ein männliches Wesen. Nur einem Mann, der süß ist, klingen die Weihnachtsglocken überaus herrlich. Und wohl dem Weibe, dem es vergönnt ist, einem derart süßen Manne zu begegnen und zum Lebensgefährten zu erringen!
In der zweiten Strophe heißt es: "Segnet den Vater, die Mutter, das Kind . . .", da sang ich lauter als die anderen und wünschte mit aller Kraft meines Herzens meinen leiblichen Eltern allen Segen, um selbst als Kind gesegnet zu sein. Ich ahnte ja längst, dass ich nicht Idas Kind war. Wie sollte ich ihr Himmelssegen, der auf eine Mutter bezogen ist, wünschen? Sie konnten es noch so gut mit mir meinen, es war nicht das Echte, es war nicht das, was mir zustand, ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit, Ida schrieb mir vor, was ich zu denken und zu tun hatte und sagte mir, dass man seine Mutter lieb hat und schrieb mir vor, meine Mutter "Tante" zu nennen. Mit welchem Recht hat sie meiner Mutter und mir so weh getan? Und warum sahen alle der Ungerechtigkeit zu?
Doch zurück zu den Weihnachtsliedern. Ida kannte auch einige sehr alte Lieder, in denen lateinische Worte vorkamen. Stimmte sie ein solches an, bat Gerda: "Och, det olle Ding nich, Mama!", und Ida brach das Lied ab. Bat ich sie anderntags, diese Lieder mit mir zu singen, antwortete sie mir: "Dafor bist de zu deemlich, det vaschdehst de ja doch nich!" Gerda wollte die Lieder nicht singen, weil ihr das Lateinische nicht gegenwärtig war. Und ich, die ich diese Lieder jahrzehntelang nicht hörte, erinnere mich an die lateinischen Worte. So dämlich bin ich.
Die Sylvesterfeier des Jahres 1948 begingen wir in der Wohnung von Gerda, wo wir auch übernachteten. Auf der Heimfahrt am anderen Mittag erzählte ich Ida in der Straßenbahn einen Witz, den sie am Vortag verpasst hatte. Er ging so: Eine Frau hatte ein sehr junges Dienstmädchen, das häufig lieber mit den Jungs schäkerte, anstatt die Stube auszufegen. Die Hausfrau sagte: "Wenn du so weitermachst, bekommst du die Besenkrankheit!" Das Mädchen wollte wissen, wie sich diese Krankheit äußert. Die Frau antwortete: "Da wachsen dir Haare an einer Stelle, wo du dich wundern wirst!" Eines Tages waren dem Mädchen tatsächlich zwischen den Beinen Haare gewachsen! Angsterfüllt lief sie zum Arzt: "Herr Doktor, Herr Doktor, ich habe die Besenkrankheit, bitte, bitte, geben Sie mir etwas dagegen!" Der Arzt ließ sich erklären, um was genau es sich eigentlich handelt, denn eine Besenkrankheit kannte er nicht. Als er dann Bescheid wusste, sagte er: "Aber Kind, das ist doch ganz natürlich, das habe ich auch!" Und zum Beweis ließ er die Hose herunter. Entsetzt fuhr das Mädchen zurück: "Aber Herr Doktor, bei Ihnen kuckt ja schon der Besenstiel raus!" Ich wusste nicht, warum alle Leute in der Straßenbahn lachten, aber ich freute mich, dass sie lachten.
Zum nächsten Sylvester war bei uns doppelt eingekauft worden. Ida hatte für jeden ein paar Wiener gekauft und Gerda ebenfalls. "Du liebe Zeit, wat solln wa denn nu jetz man bloß mit die janzn Wiena?" klagte Ida. Gerda sagte: "Mach se man ruhich alle warm, die wern schon jejessn werdn."
Als das Abendbrot beendet war, lagen immer noch zwölf Würstchen im Topf und ich spürte, wie sie mich durch das Blech hindurch ansahen und mich lockten: "Komm, Christa, iss noch eine! Es ist nur einmal im Jahr Sylvester, Wiener gibts so bald nicht wieder! Komm und iss noch eine, die werden ja langsam weich und schrumplich!" Ich ließ mich verführen und aß langsam und bedächtig eine Wiener nach der anderen auf. Danach konnte ich jahrelang kein Wiener mehr sehen!
Bei Familie L. war es zu Sylvester üblich, um Mitternacht Blei zu gießen. 1954 durften auch Waltraud und ich daran teilhaben. Wir mussten natürlich warten, bis die anderen ihr Blei gegossen hatten, und es war nur eine kleine Menge vorhanden. Was Waltraud goss, konnte man mit etwas gutem Willen als eine Blume bezeichnen. Darüber war sie recht froh, denn es bedeutete, dass sie einen von Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit geprägten Charakter hatte. Ich verkniff mir das Lachen.
Als das Blei endlich an mich kam, war es schon ziemlich verschmutzt. Obendrein gab ich ihm zuviel Schwung beim Gießen, sodass es in viele kleine Kügelchen zerplatzte. Nur eine Kugel war fast einen halben Zentimeter dick, knapp 2cm lang und auch halbwegs sauber. Der untere Teil war glatt und rund, der obere Teil war kraus und mehrfach gespalten. Grete L. sagte: "Det sieht aus wie . . . sowat jipts heut nich mehr . . . so n Jemüse . . . Ick hab s! Schickorree heißt det Zeuch! Naja, Krille, det bedeutt, det du noch zu t jrüne Jemüse zeehlst". Was sollte ich mit meinen zwölf Jahren wohl sonst sein? dachte ich belustigt.
Bei einer Weihnachtsfeier, die in unserer Wohnung noch von Gerda, Alfred, Waltraud, Grete und Walter L. (eventuell auch von Irma) begangen wurde, erlauschte ich abgewiesenes Kind ich sollte mich mit mir selber beschäftigen die Bemerkung eines Mannes: "Für mich sin politische Vabrecha keene Vabrecha, die haam doch nur ihra Überzeujung gefolcht. Man kann een politischn Vabrecha nich behandeln wie n Mörda!"
Wenn ich mich recht erinnere, war es Alfred, der dieses verlauten ließ. Ich blickte auf die beiden Männer, die die Unterhaltung führten. Sie waren stark angetrunken. Ich wusste inzwischen: "In Vino Veritas!" und ich war Alfred ob dieser Wahrheit sehr zugetan. Ich teilte seine Ansicht, dass man einen Menschen nicht wegen seiner politischen Anschauungen hinrichten darf. Mit politischen Gegnern muss man reden.
Das Osterfest verursachte mir höchst zwiespältige Gefühle. Einesteils freute ich mich auf die Ostereier, andernteils hasste ich das Suchen. Ich fand es zwar lustig, dass die Eier versteckt wurden, aber es war nicht mehr lustig, wenn ich ausgelacht wurde, weil ich die für mich bestimmten Süßigkeiten nicht auf Anhieb fand. So begann der Ostersonntag bis 1950 für mich mit Tränen.
Danach fuhren wir nicht mehr schon am Karfreitag oder Ostersonnabend zu Gerda, sondern höchstens am Sonntagnachmittag. Oder Gerda besuchte uns Ostermontag. Nun musste ich nicht mehr nach den Ostereiern suchen, denn Ida war das Verstecken zu mühselig, und traditionsgemäß sucht man Ostereier am Ostermorgen und nicht später. Außerdem hatte ich 1950 nicht nur meine Süßigkeiten auf Anhieb gefunden, sondern auch Waltrauds.
Die letzte Familienfeier, auf der fast alle Familienmitglieder und auch Grete L. nebst zweier Töchter anwesend waren, war die Einsegnung von Christa in Westberlin. Damals war ich zehn Jahre alt und total in meine Phantasiewelt eingesponnen. So sehr, dass ich mich an diese Feier überhaupt nicht mehr erinnern kann. Und hätte ich nicht nach Gerdas Tod ein Foto von jener Feier geerbt, wüsste ich nicht, wer alles dort war. Ich weiß nur noch, dass auch auf dieser Feier getanzt wurde. Wie gewöhnlich wollte auch diesmal niemand mit mir tanzen, so tanzte ich alleine. Ida ermahnte mich bald: "Man hebt die Arme nich üba n Kopp bein Tanzn, du Dämlack, wie sieht n det aus!" So war mir auch dieser Spaß vergangen.
Waren wir irgendwo zu Besuch, hieß es beim Abschied: "Kommt jut zu Hause!"