Kapitel 12: Gigis Wassergeschichte

„Liebe Kollegin“, fragte der neue Lehrer, ein junger Herr, behutsam, „ist das die neue Klasse der Erstklässler? Ich muss doch eine Vertretungsstunde machen.“
„Ach so“, meinte die runde Brille, „denkt daran, was ich euch beigebracht habe, Kinder! Nächstes Mal gehen wir noch mal die Nachnamen durch!“
Mit einem scharfen Blick auf Momo verließ sie wütend den Klassenraum.
Momo schaute den neuen Lehrer an: „Gigi“, entfuhr es ihr.
„Pscht!“, machte Gigi leise, damit es die anderen Schüler nicht hörten.
„Setz dich neben Ann, Momo!“ Dann wandte sich Gigi wieder an die ganze Klasse: „Liebe Schulkinder, leider kann euer Lehrer für Sachkunde nicht kommen, deshalb vertrete ich ihn heute an eurem ersten Schultag.“
„Was ist Sachkunde?“, fragte ein Junge von einer der hinteren Bankreihen.
„Das ist alles, was wir über die Sachen wissen, die um uns herum sind“, versuchte Gigi zu erklären, „die Dinge, Pflanzen, Tiere, Maschinen, die Geschichte unserer Stadt, der Natur, es gibt da viel zu entdecken, und deshalb schlage ich euch vor, dass wir auf Entdeckungsreise gehen…“
„Ja! Klasse! Super!“, rief die ganze Klasse.
„Pscht, nicht so laut“, Gigi wedelte mit seinen Armen, um die Klasse zu beruhigen, „leiser bitte, sonst merken es die andern Klassen, dass wir einen Ausflug machen und sind traurig.“
Die Kinder verstummten.
„Wer von euch kennt denn das alte Stadtviertel am Fluss?“, fragte Gigi Fremdenführer und schaute in der Klasse herum. Zwei, drei Hände gingen hoch.
Gigi nahm eine kleines Mädchen in der ersten Reihe dran: „Ach, da sind so alte Häuser und Pflanzen überall…“
„Richtig, und die gehen wir jetzt besuchen.“

Leise schlich sich Momos Schulklasse, von Gigi angeführt, aus dem Schulgebäude, lief durch die Stadt und erreichte den Fluss, der lautlos dahinglitt.
Gigi hatte eine große Tasche mitgenommen, die er jetzt abstellte. Er sammelte seine Klasse am Flussufer.

„Früher lebte fast die ganze Stadt am Fluss; ihr werdet sehen, der Fluss war richtig wichtig.“
Die Kinder liefen durch ein erstes Steinhaus, dessen Dach eingefallen war. Ein großer, bauchiger Messingbehälter stand in der Mitte des Raums. Braune Leitungen, die grün angelaufen waren, führten zum Behälter hin und davon weg.
„Was ist das?“, fragte Momo erstaunt.
„Früher nahmen die Stadtbewohner Wasser vom Fluss, vermischten es mit Gerste und Weizenmalz und ließen das Gemisch in so einem Gefäß gären.“
Die Kinder waren ratlos.
„Und wozu ist das nütze?“ fragte ein Kind.
„Nach ein paar Wochen kann man das vergorene Getränk trinken. Wisst ihr, wie es heißt?“
Kopfschütteln.
„Es heißt Bier!“
„Oh! Ach so! Mein Vater trinkt jeden Abend eins!“, sagten jetzt einige.

„Kommt weiter!“, schlug Gigi vor.
Einige Meter weiter war ein großes, schönes Haus; von Ranken bewachsen war es ganz grün.
„Kommt, ich zeig euch den Garten.“
Der Garten hinter dem Haus hatte einen kleinen Wasserfall, der von einem Nebenarm des Flusses gespeist wurde.
Thymian, Rosmarin, Kamille, Rizinus und Basilikum rochen stark. Die Kinder hielten ihre Nasen an die Gewürzpflanzen.
„Das riecht wie in einer Küche“, stellte Momo fest.
„Richtig, es ist ein Gewürzgarten; die Gewürze benutzen wir dann in unseren Gerichten.“
„Aber es sind auch tolle Blumen hier“, meinte Ann.
Richtig! Gelbe, orangene, rote, violette, rosane, blaue und weiße Gladiolen, Chrysanthemen, Butterblumen, Rittersporn, Rosen und Vergissmeinnicht sprossen dort, wo der prasselnde Wasserfall ein kleines Wasserbett bildete. In diesem Teich schwammen Goldfische unter aufgeblühten Wasserrosen her.
„Toll!“ meinte ein Junge mit großen Augen.

„Aber wisst ihr eigentlich, wozu dieses große Haus mit seinen grünen Ranken nütze war?“, fragte Gigi.
„Nein! Nein!“, riefen die Kinder.
„Dann gehen wir mal auf die Flussseite des Hauses.“
Als die Kinder mit Gigi auf der anderen Seite angekommen waren, entdeckten sie ein großes Holzrad, das aufrecht im Wasser stand und sich langsam drehte.
„Was ist das?“, fragte ein Junge.
„Ein Wasserrad“, antwortete Gigi.
„Und wozu braucht man ein Wasserrad?“
„Um etwas zu bewegen. Schaut mal im Hausinneren!“
Das Hausinnere lag im Dunkeln; es roch nach feuchtem Holz und kalten Steinen. Die Kinder erkannten zwei große Steinplatten, die aufeinander lagen. Die untere stand still, die obere bewegte sich langsam, mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Wasserrad.
„Das nennen wir einen Mühlstein; hier wird das Getreide gemahlen. Und mit dem Mehl können wir dann Brote backen.“
Voll Verwunderung verharrten viele Kinder vor dem sich langsam drehenden Mühlstein.

„Ich hab eine Überraschung für euch“, sagte Gigi und fasste Momo an der Hand. Er führte die Klasse weiter flussabwärts zu einem Haus, das kein Haus war.
Es stand ganz dicht am Wasser, hatte Säulen, die das einfache Dach trugen, und unter dem Dach lagen viele glattgescheuerte Steine zum Wasser hin.
„Haben sich die Menschen in diesem schönen Haus ausgeruht?“, fragte ein Mädchen.
„Ja, man könnte es glauben“, gab Gigi, der Vertretungslehrer, zu, „aber das Gegenteil ist wahr. Hier wurde hart gearbeitet. Die Steine waren dazu da, Wäsche zu schrubben und zu reinigen. Die Wäscherinnen kamen mit der dreckigen Wäsche hier an den Fluss und machten die Laken, Hemden und Hosen durch Schrubben und Rubbeln sauber.“
„Echt? Ist das wahr?“, fragten die Schüler erstaunt.
„Doch, doch, so war das früher. Es gab noch keine Waschmaschinen, und die, die saubere Wäsche wollten, mussten schwer dafür arbeiten.“
Mit offenen Mündern und Ohren versuchten die Kinder, Gigis Erklärungen zu verstehen und sich die Arbeit der Wäscherinnen vorzustellen.

Doch Johnny hat noch ein rundes Loch mit einer Steinmauer drum herum entdeckt: „Und was soll der Brunnen direkt am Fluss?“, fragte er Gigi.
Die ganze Klasse kam heran.
Johnny ließ einen Stein in den Brunnen fallen. Die Kinder horchten in die feuchte Luft, die aus dem Brunnenrund hervorstieg. Es dauerte drei Sekunden, bevor sie ein leises Aufschlagen hörten. Andere Kinder taten es ihm nach.

Gigi grinste. „Dieser Brunnen ist ein großes Geheimnis dieser unserer Stadt: Soll ich es euch erzählen, Kinder?“, fragte er ganz leise.
„Ja, bitte! Ja!“, zischten alle Kinder im Flüster-Chor.
„Es war ein heißer Sommer vor tausend Jahren. Alle hatten Durst; die Sonne stand jeden Tag wie ein weiß glühendes Stück Metall am Himmel. Der Fluss wurde schmaler; immer flacher wurde er. Jeden Tag trug er weniger Wasser. Eines Morgens wachten unsere Vorfahren auf, und die Sonne schien nur noch auf knochentrockene, kalkweiße Steine im Flussbett; es gab kein Wasser mehr.
Alle gerieten in Panik. Der Ältestenrat beschloss, die stärksten Männer auszusenden, um zu erforschen, ob in den Bergen noch Wasser war. Die Männer zogen los mit Beuteln, Flaschen und wasserdichten Säcken.
Gleichzeitig begannen andere Männer aus der Stadt, im Flussbett zu graben.
Aber die Arbeit war hart und der Boden so trocken, dass sie, obwohl sie immer tiefer schweißtriefend gruben, nur auf trockenes, weißes Gestein stießen.
Die Männer kehrten aus den Bergen zurück Auch sie hatten nur wenig Erfolg. Zwar hatten sie Wasser gefunden, aber es war nur eine kleine Quelle. Ihre Beutel, Flaschen und Taschen waren nur halb gefüllt.
Alle hatten Angst. Was sollte werden, wenn wir kein Wasser hätten?
Dann kam am Nachmittag ein großer Holzwagen, der von einem lahmen Gaul gezogen wurde. Aus den Fenstern des Holzwagens schauten kleine Kinder auf die Stadtbewohner. Auf dem Führerbock hockte ihr alter Vater und ihre kleine dürre Mutter.
Der Bürgermeister unserer Stadt hielt den Wagen an: ‚Wie heißt du?’
‚Tsigo Nanni’, sagte der Familienvater und ärgerte sich, weil der Bürgermeister ihm noch nicht einmal einen guten Tag wünschte.
‚Höre, Tsigo, du kannst hier nicht bleiben. Wir haben selbst Sorgen, zieh weiter mit deiner Familie.’
‚Bürgermeister, wir wollen euch nichts wegnehmen. Wir sind weit gereist und können nicht weiter. Nimm uns bitte für eine Nacht in deiner Stadt auf.’
‚Höre, reisender Nanni, ziehe weiter. Versuche woanders dein Glück’, wies der Bürgermeister ihn von neuem zurück und ließ das Stadttor schließen.
Tsigo stand vor dem verschlossenen Stadttor, seufzte und sagte müde zu seiner Familie: ‚Lasst uns hier unseren Rastplatz für die Nacht aufschlagen!’
Und so machten sie Halt vor dem Stadttor direkt neben den Waschplätzen am ausgetrockneten Flusslauf.
Die Stadtbewohner hatten Angst, sie würden Wasser haben wollen, und hatten deshalb das Stadttor geschlossen. Jetzt beobachteten unsere Ahnen, was Tsigo und seine Familie machen würden. Tsigo nahm eine vertrocknete Astgabel und ging am Flussufer auf und ab. Dann hielt er an einer Stelle an, an der die Astgabel nach unten zeigte, und trug seiner Frau und seinen Kindern auf zu graben. Es wurde Nacht, und die Familie Nanni grub weiter.
Die Stadtbewohner gingen schlafen. Am nächsten Morgen lief der Bürgermeister zur Waschstelle, um zu sehen, was Tsigo und seine Familie anstellten.
Tsigo und seine Familie waren weg.
Keine Spur von der Familie Nanni oder dem großen Holzwagen.
Sie waren aufgebrochen und losgefahren, bevor es hell wurde.
Doch als der Bürgermeister genauer schaute, entdeckte er ein tiefes Loch am Flussufer. Ein Loch, das fast zehn Meter tief war. Und er ließ einen Stein ins Loch fallen, so wie Johnny gerade. Und er hörte das Platschen des Wassers.
Tsigo hatte Wasser gefunden. Die Stadt war gerettet. Trotz des ausgetrockneten Flusses und des heißen Sommers hatte die Stadt genug zu trinken, bis im Herbst Regen fiel und das Flussbett wieder Wasser trug.“

Gigi war zu Ende.
Seine Schulklasse hatte ihm still zugehört.
„So, jetzt habe ich noch eine letzte Überraschung!“, sagte der Vertretungslehrer.
Zwanzig neugierige Blicke starrten ihn an.
„Wir werden das Wasser hier ausprobieren. Die, die noch kurz baden wollen im Fluss, können das tun! Ich habe Handtücher mitgebracht.“
Und Gigi öffnete die Tasche, in der viele weiße Handtücher gestapelt waren.
So verbrachten Momo, Ann und die anderen Erstklässler den Rest ihres ersten Schultags schwimmend im Fluss ihrer kleinen Stadt.
 



 
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