Donnerstag, 25. Juni 1982, 22. 14 h
"Okay, Jungs, lasst ihn los. Er ist Stellvertretender Bezirksstaats-
anwalt."
Die beiden Cops sahen Randy an und er nickte. Sie ließen Rafael
los und er kam zu mir.
"Was ist mit ihr geschehen ?", fuhr er mich an.
Statt zu antworten, griff ich nach seinem Handgelenk und zog ihn
in Richtung Haus, weg von den Nachbarn. Wir setzten uns auf die
Treppe. Ein weiterer dunkler Wagen der Spurensicherung fuhr vor.
Ein großer dunkelhaariger Mann stieg aus, holte einen Stahlkoffer
aus dem Kofferraum und kam dann zu uns.
"Was liegt an ?", fragte Michael, Stellvertretender Leiter der Spu-
rensicherung. "Cora sagte, die Tote sei Laura Bellini von der Staats-
anwaltschaft ?"
"Ja, ihr wurde eine tödliche Halswunde zugefügt."
"Und weiter ?", fragte Rafael mit sanfter Stimme. Diesen Ton schlug
er immer an kurz bevor er losbrüllte, was er durchaus manchmal tat.
Ich überlegte, wie ich es ihm am besten beibringen sollte. Es war
schon schwer, fremden Hinterbliebenen den Tod eines Angehörigen
mitzuteilen, aber das hier war persönlich. Auch Michael wartete.
"Willst du nicht raufgehen ? Cora wartet auf dich."
Er machte keine Anstalten, das zu tun.
"Los, beweg dich !", fuhr ich ihn an.
Er hob die Augenbrauen, schüttelte dann den Kopf und ging.
"Hattet ihr was, Laura und du ?"
"Clark, lass das ! Und was ginge dich das überhaupt an ?"
Ich sah ihn an und wartete. Er griff in die rechte Hosentasche und
gab mir ein kleines weißes Kästchen. Darin steckte ein schmaler
Goldring mit einem kleinen Brillanten, ein Verlobungsring. "Scheis-
se !", rutschte es mir heraus.
Die Wahrheit. Die schlichte, grausame Wahrheit. Kurz und
schmerzvoll. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Noch nie
war es mir so schwer gefallen, jemanden vom Tod eines geliebten
Menschen zu unterrichten.
Ich sagte ihm rundheraus, was mit ihr geschehen war. Ich ließ nichts
aus. Er würde es eh irgendwann erfahren, spätestens, wenn wir den
Täter hatten und es zum Prozess kam...
Während ich sprach, wandte ich den Blick nicht von ihm ab und was
ich sah, überraschte mich. Meinem Bruder, der seit dem Tod unserer
Mutter wie ein Roboter in Menschengestalt durchs Leben zu gehen
schien, schossen Tränen in die Augen. Er blinzelte ein paarmal heftig,
holte tief Luft und hatte sich dann wieder unter Kontrolle. "Irgendwel-
che Anhaltspunkte ?"
Da war er wieder, der distanzierte Jurist. Business as usual. Ich ex-
plodierte. Es war mir gleich, wer zuhörte.
"Das ist wirklich toll, Mr. Law&Order. Deine Frau ist tot und du
hast nichts weiter dazu zu sagen als 'irgendwelche Anhaltspunkte ?!"
"Clark, was fällt dir ein ? Sei leise !"
"Nein ! Was fällt dir ein, zum Teufel ?!" Ich wurde noch lauter. "Weißt
du, was ich getan hätte, wenn ich Scavo da oben gefunden hätte ? Ich
wäre durchgedreht ! Ich hätte die ganze Stadt zusammengebrüllt, hätte
meinen eigenen Namen nicht mehr gewusst ! Sie hätten mich in einer
Zwangsjacke abtransportieren müssen. Aber du... Das ist unter deiner
Würde, nicht wahr ? Nur niemanden einen Blick hinter die schicke
Fassade werfen lassen. Siehst du, wohin dich das gebracht hat, Rafa-
el ? Du kannst nicht mal um den Menschen weinen, mit dem du den
Rest deines Lebens verbringen wolltest, du Arschloch ! Mom würde
sich für dich schämen, wenn sie noch könnte ! Du solltest dich schä-
men !"
Er schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, so schnell, dass mir
vor Überraschung die Luft wegblieb, und brach in Tränen aus. Jegliche
Wut, die noch in mir war, wich aus mir. Ich fühlte mich müde und leer.
Rafe stand mit hängenden Schultern da und weinte. Ich leckte mit der
Zunge über meine Unterlippe und schmeckte Blut. Dann nahm ich mei-
nen Bruder in die Arme. Er wehrte sich nicht. Ich drückte ihn an mich.
"Das mit Mom war gemein. Es tut mir Leid, Rafael."
Er nickte an meiner Schulter. Da ich mit dem Gesicht zur Haustür
stand, sah ich Michael, der uns ungläubig ansah. Ich war nicht minder
überrascht als er. So hatte sich Rafe noch nie in unserer Gegenwart
verhalten. Ein paar Minuten später hatte er sich etwas beruhigt. Über-
rascht sah er auf meine Unterlippe.
"War ich das ?"
"Ja. Mein Ego hat einen tödlichen Schlag abgekriegt."
Er grinste schief. "Geschieht dir recht." Dann ging er mit langen Schrit-
ten auf den Leichenwagen zu, der noch immer am Straßenrand parkte.
Gabriel hatte unsere kleine Auseinandersetzung ebenfalls beobachtet.
Michael kam zu mir.
"Ich will sie sehen."
"Nein", widersprach Gabe sanft, "das willst du nicht."
"Sag mir nicht, was ich will oder nicht ! Das weiß ich selbst. Und ich
will sie sehen, Gabriel. Jetzt sofort !" Dieser Ton duldete keinen Wi-
derspruch.
"Gabe, du solltest ihn lassen, sonst wirst du wahrscheinlich selbst
einen Gerichtsmediziner brauchen."
Er ließ Rafael passieren. "So habe ich ihn noch nie erlebt."
"Er wollte sie heiraten."
"Nein !", sagte Michael.
"Scheiße", meinte Gabe.
Ich sah ihn überrascht an. Gabriel fluchte so gut wie nie.
Tyrone und Hector saßen am Steuer. Ich sah sie, als wir zum Heck
gingen und Gabe den Leichensack öffnete.
Michael verzog das Gesicht. "Das ist heftig."
Rafael starrte auf das, was von seiner besten Freundin und Kollegin
übrig geblieben war.
"Hure", murmelte er plötzlich. Er hatte es also auch gesehen. Als er
sich von ihr abwandte, hatte er einen Ausdruck im Gesicht, bei dem
sich mir die Nackenhaare aufstellten. Diesen Gesichtsausdruck hatte
ich auch bei Mördern gesehen, wenn sie gefasst wurden. "Ich hatte
noch nie ein solches... Bedürfnis, jemanden umzubringen wie jetzt.
Du solltest mich nicht mit ihm allein lassen, wenn ihr ihn verhaftet
habt, egal wie lieb ich dich darum bitte."
Michael und ich wechselten einen kurzen Blick. Mein Bruder war
zwei Meter sechs groß und wog 220 Pfund. Ich zweifelte keinen
Deut an dem, was er sagte, korrekter Jurist hin oder her.
Gabriel wollte den Leichensack zuziehen und die Hecktür schlies-
sen.
"Nicht !" Rafael drängte sich zwischen ihn und die Tür.
"Doch ! Sei vernünftig, Rafe, lass sie gehen." Er fasste ihn am Arm.
"Na komm, lass sie mich mitnehmen."
Wer sagt, dass Gerichtsmediziner keine guten Menschenkenner
seien, weil sie ständig mit Toten zu tun hätten, kennt Gabe nicht.
Er hatte den richtigen Nerv getroffen. Rafael trat zurück.
"Morgen um neun", wiederholte er, dann stieg er ins Heck und
schloss die Türen von innen.
"Du solltest heute Nacht nicht allein sein", sagte ich zu Rafael.
"Glaubst du, dass ich mir was antue ?"
Ich antwortete nicht, sah ihn nur an.
"Mach dir keine Sorgen. Es geht schon."
"Für einen Juristen lügst du verdammt schlecht."
"Clark, lass den Psychomist. Das halt ich nicht aus. Nicht heute,
ja ?"
"Ich mache mir aber Sorgen."
"Fährst du mich nach Hause ?"
"Ja."
"Ich werde wieder nach oben gehen", sagte Michael. Er wirkte
sehr irritiert, als wüsste er nicht, wie er mit dem Geschehenen um-
gehen sollte. "Wir sehen uns morgen."
Rafe und ich gingen an den Nachbarn vorbei, die sich gerade in
alle Windrichtungen zu verstreuen begannen und stiegen in mei-
nen Jeep. Auf halbem Weg zu seiner Wohnung in der Steiner
Street sagte er: "Was ist mit meinem Auto ?"
"Ich werde einen von Randys Jungs bitten, es zu dir zu fahren."
Er verzog angewidert das Gesicht.
"Was ?"
"Meine beste Freundin ist tot und ich mache mir Sorgen um mein
verdammtes Auto... Was ist nur mit mir los ?"
Wir mussten an einer Ampel halten und ich dachte darüber nach.
"Nach dem Mord an Mom...", sagte ich schließlich, "als sie so da-
lag, habe ich gedacht, dass sie nur schläft, weißt du ? Sie sah plötz-
lich so friedlich aus, hatte keine Angst mehr... Ich... wollte sie wek-
ken, aber da... war niemand mehr, verstehst du ? Ich wollte es nicht
glauben und du willst es auch nicht. Ablenkung um jeden Preis, das
ist mit dir los. Du denkst an alles andere, wenn es nur nichts mit Lau-
ra zu tun hat. Darum möchte ich nicht, dass du allein bleibst. Irgend-
wann gibt es keine Ablenkung mehr, du wirst anfangen, an sie zu den-
ken und dann trifft es dich mit voller Wucht. Du wirst dir die Schuld
daran geben, dir vorwerfen, dass du nicht da warst, um ihr zu helfen.
Und dann brauchst du jemanden, der neben dir steht und dir sagt,
dass du es nicht hättest wissen und verhindern können. Schuldgefühle
sind etwas verdammt Mächtiges. Sie fressen dich auf, wenn du nicht
aufpasst."
"Bist du deshalb zur Polizei gegangen ?"
Ich antwortete nicht und hielt vor einer Reihe bunter viktoriani-
scher Häuser.
"Clark, du warst zwölf Jahre alt. Du konntest rein gar nichts tun.
Dass du dennoch... Ich hätte es nicht gekonnt. Ich glaube, mich
hätte vor Angst der Schlag getroffen... Du hast Dean und dich
selbst gerettet."
"Aber nicht diejenige, auf die es ankam. Aber hier... Du warst
nicht einmal da. Du wusstest es nicht. Du hättest nichts tun kön-
nen."
Rafe schwieg und machte keine Anstalten, auszusteigen. Ich sah
ihm an, dass er nachdachte.
"Sei vernünftig, Rafael", bat ich.
"Gute Nacht, Clark", antwortete er und stieg aus. "Danke fürs
Herbringen."
"Rafael", rief ich ihn zurück.
Er war schon an der Eingangstür des lindgrünen Hauses mit der
Nummer 951 und drehte sich um. "Was ?"
"Was immer dir heute nacht in den Sinn kommen mag, denk da-
ran, sie hätte das nicht gewollt."
"Was meinst du damit ?"
"Bis morgen, Rafael."
Ich wäre bei ihm geblieben, aber er war erwachsen, fällte seine
eigenen Entscheidungen. Und ich hatte noch zu tun... Dennoch
fuhr ich nicht gleich los. Hoffentlich hatte er verstanden, was ich
ihm hatte sagen wollen. Nun, ich würde es morgen erfahren.
Ich musste ein paar Minuten dort gestanden haben, denn als ich
den Wagen anlassen wollte, sah ich meinen Bruder mit einer klei-
nen Reisetasche aus dem Haus kommen.
"Gilt das Angebot noch ?"
"Ja."
Er stieg ein und schnallte sich an.
"Wir müssen erst noch beim Revier vorbei, Leigh abholen."
"Gut."
"Okay, Jungs, lasst ihn los. Er ist Stellvertretender Bezirksstaats-
anwalt."
Die beiden Cops sahen Randy an und er nickte. Sie ließen Rafael
los und er kam zu mir.
"Was ist mit ihr geschehen ?", fuhr er mich an.
Statt zu antworten, griff ich nach seinem Handgelenk und zog ihn
in Richtung Haus, weg von den Nachbarn. Wir setzten uns auf die
Treppe. Ein weiterer dunkler Wagen der Spurensicherung fuhr vor.
Ein großer dunkelhaariger Mann stieg aus, holte einen Stahlkoffer
aus dem Kofferraum und kam dann zu uns.
"Was liegt an ?", fragte Michael, Stellvertretender Leiter der Spu-
rensicherung. "Cora sagte, die Tote sei Laura Bellini von der Staats-
anwaltschaft ?"
"Ja, ihr wurde eine tödliche Halswunde zugefügt."
"Und weiter ?", fragte Rafael mit sanfter Stimme. Diesen Ton schlug
er immer an kurz bevor er losbrüllte, was er durchaus manchmal tat.
Ich überlegte, wie ich es ihm am besten beibringen sollte. Es war
schon schwer, fremden Hinterbliebenen den Tod eines Angehörigen
mitzuteilen, aber das hier war persönlich. Auch Michael wartete.
"Willst du nicht raufgehen ? Cora wartet auf dich."
Er machte keine Anstalten, das zu tun.
"Los, beweg dich !", fuhr ich ihn an.
Er hob die Augenbrauen, schüttelte dann den Kopf und ging.
"Hattet ihr was, Laura und du ?"
"Clark, lass das ! Und was ginge dich das überhaupt an ?"
Ich sah ihn an und wartete. Er griff in die rechte Hosentasche und
gab mir ein kleines weißes Kästchen. Darin steckte ein schmaler
Goldring mit einem kleinen Brillanten, ein Verlobungsring. "Scheis-
se !", rutschte es mir heraus.
Die Wahrheit. Die schlichte, grausame Wahrheit. Kurz und
schmerzvoll. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Noch nie
war es mir so schwer gefallen, jemanden vom Tod eines geliebten
Menschen zu unterrichten.
Ich sagte ihm rundheraus, was mit ihr geschehen war. Ich ließ nichts
aus. Er würde es eh irgendwann erfahren, spätestens, wenn wir den
Täter hatten und es zum Prozess kam...
Während ich sprach, wandte ich den Blick nicht von ihm ab und was
ich sah, überraschte mich. Meinem Bruder, der seit dem Tod unserer
Mutter wie ein Roboter in Menschengestalt durchs Leben zu gehen
schien, schossen Tränen in die Augen. Er blinzelte ein paarmal heftig,
holte tief Luft und hatte sich dann wieder unter Kontrolle. "Irgendwel-
che Anhaltspunkte ?"
Da war er wieder, der distanzierte Jurist. Business as usual. Ich ex-
plodierte. Es war mir gleich, wer zuhörte.
"Das ist wirklich toll, Mr. Law&Order. Deine Frau ist tot und du
hast nichts weiter dazu zu sagen als 'irgendwelche Anhaltspunkte ?!"
"Clark, was fällt dir ein ? Sei leise !"
"Nein ! Was fällt dir ein, zum Teufel ?!" Ich wurde noch lauter. "Weißt
du, was ich getan hätte, wenn ich Scavo da oben gefunden hätte ? Ich
wäre durchgedreht ! Ich hätte die ganze Stadt zusammengebrüllt, hätte
meinen eigenen Namen nicht mehr gewusst ! Sie hätten mich in einer
Zwangsjacke abtransportieren müssen. Aber du... Das ist unter deiner
Würde, nicht wahr ? Nur niemanden einen Blick hinter die schicke
Fassade werfen lassen. Siehst du, wohin dich das gebracht hat, Rafa-
el ? Du kannst nicht mal um den Menschen weinen, mit dem du den
Rest deines Lebens verbringen wolltest, du Arschloch ! Mom würde
sich für dich schämen, wenn sie noch könnte ! Du solltest dich schä-
men !"
Er schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, so schnell, dass mir
vor Überraschung die Luft wegblieb, und brach in Tränen aus. Jegliche
Wut, die noch in mir war, wich aus mir. Ich fühlte mich müde und leer.
Rafe stand mit hängenden Schultern da und weinte. Ich leckte mit der
Zunge über meine Unterlippe und schmeckte Blut. Dann nahm ich mei-
nen Bruder in die Arme. Er wehrte sich nicht. Ich drückte ihn an mich.
"Das mit Mom war gemein. Es tut mir Leid, Rafael."
Er nickte an meiner Schulter. Da ich mit dem Gesicht zur Haustür
stand, sah ich Michael, der uns ungläubig ansah. Ich war nicht minder
überrascht als er. So hatte sich Rafe noch nie in unserer Gegenwart
verhalten. Ein paar Minuten später hatte er sich etwas beruhigt. Über-
rascht sah er auf meine Unterlippe.
"War ich das ?"
"Ja. Mein Ego hat einen tödlichen Schlag abgekriegt."
Er grinste schief. "Geschieht dir recht." Dann ging er mit langen Schrit-
ten auf den Leichenwagen zu, der noch immer am Straßenrand parkte.
Gabriel hatte unsere kleine Auseinandersetzung ebenfalls beobachtet.
Michael kam zu mir.
"Ich will sie sehen."
"Nein", widersprach Gabe sanft, "das willst du nicht."
"Sag mir nicht, was ich will oder nicht ! Das weiß ich selbst. Und ich
will sie sehen, Gabriel. Jetzt sofort !" Dieser Ton duldete keinen Wi-
derspruch.
"Gabe, du solltest ihn lassen, sonst wirst du wahrscheinlich selbst
einen Gerichtsmediziner brauchen."
Er ließ Rafael passieren. "So habe ich ihn noch nie erlebt."
"Er wollte sie heiraten."
"Nein !", sagte Michael.
"Scheiße", meinte Gabe.
Ich sah ihn überrascht an. Gabriel fluchte so gut wie nie.
Tyrone und Hector saßen am Steuer. Ich sah sie, als wir zum Heck
gingen und Gabe den Leichensack öffnete.
Michael verzog das Gesicht. "Das ist heftig."
Rafael starrte auf das, was von seiner besten Freundin und Kollegin
übrig geblieben war.
"Hure", murmelte er plötzlich. Er hatte es also auch gesehen. Als er
sich von ihr abwandte, hatte er einen Ausdruck im Gesicht, bei dem
sich mir die Nackenhaare aufstellten. Diesen Gesichtsausdruck hatte
ich auch bei Mördern gesehen, wenn sie gefasst wurden. "Ich hatte
noch nie ein solches... Bedürfnis, jemanden umzubringen wie jetzt.
Du solltest mich nicht mit ihm allein lassen, wenn ihr ihn verhaftet
habt, egal wie lieb ich dich darum bitte."
Michael und ich wechselten einen kurzen Blick. Mein Bruder war
zwei Meter sechs groß und wog 220 Pfund. Ich zweifelte keinen
Deut an dem, was er sagte, korrekter Jurist hin oder her.
Gabriel wollte den Leichensack zuziehen und die Hecktür schlies-
sen.
"Nicht !" Rafael drängte sich zwischen ihn und die Tür.
"Doch ! Sei vernünftig, Rafe, lass sie gehen." Er fasste ihn am Arm.
"Na komm, lass sie mich mitnehmen."
Wer sagt, dass Gerichtsmediziner keine guten Menschenkenner
seien, weil sie ständig mit Toten zu tun hätten, kennt Gabe nicht.
Er hatte den richtigen Nerv getroffen. Rafael trat zurück.
"Morgen um neun", wiederholte er, dann stieg er ins Heck und
schloss die Türen von innen.
"Du solltest heute Nacht nicht allein sein", sagte ich zu Rafael.
"Glaubst du, dass ich mir was antue ?"
Ich antwortete nicht, sah ihn nur an.
"Mach dir keine Sorgen. Es geht schon."
"Für einen Juristen lügst du verdammt schlecht."
"Clark, lass den Psychomist. Das halt ich nicht aus. Nicht heute,
ja ?"
"Ich mache mir aber Sorgen."
"Fährst du mich nach Hause ?"
"Ja."
"Ich werde wieder nach oben gehen", sagte Michael. Er wirkte
sehr irritiert, als wüsste er nicht, wie er mit dem Geschehenen um-
gehen sollte. "Wir sehen uns morgen."
Rafe und ich gingen an den Nachbarn vorbei, die sich gerade in
alle Windrichtungen zu verstreuen begannen und stiegen in mei-
nen Jeep. Auf halbem Weg zu seiner Wohnung in der Steiner
Street sagte er: "Was ist mit meinem Auto ?"
"Ich werde einen von Randys Jungs bitten, es zu dir zu fahren."
Er verzog angewidert das Gesicht.
"Was ?"
"Meine beste Freundin ist tot und ich mache mir Sorgen um mein
verdammtes Auto... Was ist nur mit mir los ?"
Wir mussten an einer Ampel halten und ich dachte darüber nach.
"Nach dem Mord an Mom...", sagte ich schließlich, "als sie so da-
lag, habe ich gedacht, dass sie nur schläft, weißt du ? Sie sah plötz-
lich so friedlich aus, hatte keine Angst mehr... Ich... wollte sie wek-
ken, aber da... war niemand mehr, verstehst du ? Ich wollte es nicht
glauben und du willst es auch nicht. Ablenkung um jeden Preis, das
ist mit dir los. Du denkst an alles andere, wenn es nur nichts mit Lau-
ra zu tun hat. Darum möchte ich nicht, dass du allein bleibst. Irgend-
wann gibt es keine Ablenkung mehr, du wirst anfangen, an sie zu den-
ken und dann trifft es dich mit voller Wucht. Du wirst dir die Schuld
daran geben, dir vorwerfen, dass du nicht da warst, um ihr zu helfen.
Und dann brauchst du jemanden, der neben dir steht und dir sagt,
dass du es nicht hättest wissen und verhindern können. Schuldgefühle
sind etwas verdammt Mächtiges. Sie fressen dich auf, wenn du nicht
aufpasst."
"Bist du deshalb zur Polizei gegangen ?"
Ich antwortete nicht und hielt vor einer Reihe bunter viktoriani-
scher Häuser.
"Clark, du warst zwölf Jahre alt. Du konntest rein gar nichts tun.
Dass du dennoch... Ich hätte es nicht gekonnt. Ich glaube, mich
hätte vor Angst der Schlag getroffen... Du hast Dean und dich
selbst gerettet."
"Aber nicht diejenige, auf die es ankam. Aber hier... Du warst
nicht einmal da. Du wusstest es nicht. Du hättest nichts tun kön-
nen."
Rafe schwieg und machte keine Anstalten, auszusteigen. Ich sah
ihm an, dass er nachdachte.
"Sei vernünftig, Rafael", bat ich.
"Gute Nacht, Clark", antwortete er und stieg aus. "Danke fürs
Herbringen."
"Rafael", rief ich ihn zurück.
Er war schon an der Eingangstür des lindgrünen Hauses mit der
Nummer 951 und drehte sich um. "Was ?"
"Was immer dir heute nacht in den Sinn kommen mag, denk da-
ran, sie hätte das nicht gewollt."
"Was meinst du damit ?"
"Bis morgen, Rafael."
Ich wäre bei ihm geblieben, aber er war erwachsen, fällte seine
eigenen Entscheidungen. Und ich hatte noch zu tun... Dennoch
fuhr ich nicht gleich los. Hoffentlich hatte er verstanden, was ich
ihm hatte sagen wollen. Nun, ich würde es morgen erfahren.
Ich musste ein paar Minuten dort gestanden haben, denn als ich
den Wagen anlassen wollte, sah ich meinen Bruder mit einer klei-
nen Reisetasche aus dem Haus kommen.
"Gilt das Angebot noch ?"
"Ja."
Er stieg ein und schnallte sich an.
"Wir müssen erst noch beim Revier vorbei, Leigh abholen."
"Gut."